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DasErste.de
Nervöse Republik Ein Jahr Deutschland MITTWOCH 19. APRIL 22∶45 Uhr
Ich will mein Haus so gestalten wie mein Leben. Frei.
Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung Betr.: Titel, Frankreich, Ronaldo, Trump
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o groß ist die Angst des Menschen vor dem Tod, dass jede Weltreligion einen eigenen Trost dagegen ersonnen hat. An Ostern feiert die Christenheit den ihren: Am dritten Tage nach der Kreuzigung, so berichten es die Evangelien, war das Grab des Gekreuzigten leer. Jesus war auferstanden und hatte den Tod überwunden. In der modernen Welt der Wissenschaft ist für solche Wundergeschichten kein Platz, die Sehnsucht, dem Tod zu entrinnen, lebt jedoch fort. „In versteckter Form findet sich der Traum vom ewigen Leben auch in der heutigen Bioforschung“, sagt US-Korrespondent Johann Grolle. In Amerikas Labors und Instituten ist er vielen Spielarten dieses Traumes begegnet. „Besonders ausgeprägt findet sich der Glaube an den Sieg über den Tod unter den Nerds des Silicon Valley“, sagt er. Seite 12
Mein Haus. Meine Welt.
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SIMON FICHTNER / DER SPIEGEL
eun Tage vor der ersten Wahlrunde in Frankreich zeichnet sich ein enges Rennen um die Präsidentschaft ab – und eine Zitterpartie für Europa. Rechts- und linksextreme Kandidaten trommeln für den Frexit, das Lager der Gemäßigten schrumpft. Ein Gefühl von Revolution liegt in der Luft, jedenfalls das Ende der Herrschaft der etablierten Parteien. Korrespondentin Julia Amalia Heyer und der in Paris lebende Reporter Ullrich Fichtner schildern nicht nur Fichtner, Heyer in Paris einen wilden Wahlkampf, sondern eine Systemkrise. Sie schreiben, Frankreich sei kaum fähig, für die Wahl des neuen Präsidenten ein einigermaßen seriöses Kandidatenfeld zu stellen: Das bedeute, „dass etwas faul ist im Staate“. Seite 84
Frei geplante Architektenhäuser für individuelle Wohnwünsche. So einzigartig wie Sie selbst. Weil Sie wissen, was Sie wollen.
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er Portugiese Cristiano Ronaldo ist einer der größten, wenn nicht der größte Star im Fußball. Ein Vorzeigeathlet mit skandalfreiem Privatleben – dachte man zumindest. Aber nun sind Dokumente aufgetaucht, die den Verdacht nahelegen, er habe 2009 in Las Vegas eine Frau vergewaltigt. Die Unterlagen stammen aus einem Datensatz, den die Enthüllungsplattform Football Leaks Sportredakteur Rafael Buschmann zuspielte. Er stieß gemeinsam mit Gerhard Pfeil, Christoph Henrichs, Antje Windmann und Michael Wulzinger unter anderem auf einen Brief des mutmaßlichen Opfers, der sich liest wie eine Anklage. In Las Vegas trafen Windmann und Buschmann die Frau, die eine Art Schweigeabkommen unterschrieben hat, für das Ronaldo eine sechsstellige Summe zahlte. „Die vermeintliche Tat sollte gelöscht werden“, sagt Buschmann. Seite 72
Und es sich wert sind. weberhaus.de
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Wohnmedizinisch empfohlen. JÜRGEN FRANK / DER SPIEGEL
ast 100 Tage ist US-Präsident Donald Trump im Amt, und noch immer liefert er kein klares Bild, wer er wirklich ist und was für Politik er machen möchte. Und so schwankt auch das kulturelle Establishment des Landes zwischen Gelassenheit und Alarmismus. SPIEGEL-Autor Lothar Gorris hat die Schriftsteller Tom Wolfe und John Grisham sowie den Yale-Historiker Timothy Snyder getroffen, um ihre Sicht auf Trump zu erfahren. „Jede Demokratie kann scheitern“, sagt Snyder, ein Experte für osteuropäische Geschichte. „Auch die amerikanische.“ Seite 118
Snyder, Gorris DER SPIEGEL 16 / 2017
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Ausgezeichnete Raumluftqualität – in jedem WeberHaus.
Staatskrise
GUIDO KIRCHNER / DPA
BRIAN SNYDER / REUTERS
VINCENT NGUYEN / RIVA PRESS / LAIF
Frankreich Gut eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen schwanken die Umfragewerte ähnlich wie vor dem Brexit und der Wahl Donald Trumps. Es ist nicht mehr auszuschließen, dass zwei Europafeinde, der linksradikale Mélenchon oder die rechtsextreme Le Pen, in den Élysée einziehen. Seite 84
Ein Phantom
Die guten Trumps
Zielobjekt Fußball
Unternehmer Kaum einer kennt ihn, und wer ihn kennt, darf nichts sagen: Dieter Schwarz, Gründer von Lidl und Kaufland, meidet die Öffentlichkeit. Aber in seiner Heimatstadt Heilbronn ist der Multimilliardär allgegenwärtig – und seine Macht spürbar. Seite 60
USA Sie sind Nutznießer von Vetternwirtschaft und haben von Politik keine Ahnung. Doch Ivanka Trump und ihr Ehemann Jared Kushner verkörpern für manche Amerikaner eine Hoffnung: dass sie auf den unberechenbaren Präsidenten einen mäßigenden Einfluss haben. Seite 98
Anschläge Erstmals musste in Deutschland ein Champions-League-Spiel wegen eines Angriffs auf Fußballer verschoben werden. Die sichtbaren Folgen der Sprengsätze gegen den Bus von Borussia Dortmund waren eher gering – aber die Detonationen hatten enorme Symbolkraft. Seite 28
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Titelbild: Montage DER SPIEGEL; Foto [M] DeAgostini / Getty Images; Foto Balken: Jerome Sessini / Magnum Photos / Agentur Focus
Titel
Sport
Zukunft Nicht nur religiöse Menschen
träumen von der Unsterblichkeit, auch Wissenschaftler wollen den Tod besiegen 12 Religion SPIEGEL-Gespräch mit Bischof Heinrich Bedford-Strohm über Allmachtsfantasien im Silicon Valley 19 Essay Warum die Endlichkeit seines Lebens den Menschen erst zum Menschen macht 22
Welche Sportarten das frei empfangbare Fernsehen zeigen muss / Magische Momente: Olaf Thon über seinen größten Erfolg mit Schalke 04 Fußball Die dunkle Seite des Cristiano Ronaldo Affären Korruption im westfälischen Fußballverband
Deutschland
Ausland
Leitartikel Warum es wichtig ist, dem Terror
Konkurrenz für Irans Präsidenten Rohani / Proteste gegen Ungarns Hochschulgesetz Frankreich Eine Woche vor den Präsidentschaftswahlen scheint deren Ausgang offener als je zuvor Analyse Was bedeutet die Wende in der Außenpolitik von US-Präsident Trump? Russland SPIEGEL-Gespräch mit dem Oppositionellen Alexej Nawalny über seine Inhaftierung und die Proteste gegen die Regierung Venezuela Die politische Krise und der Hunger treiben viele Menschen in die Flucht USA Das unheimlich mächtige Ehepaar Ivanka Trump und Jared Kushner
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Früher war alles schlechter: Vereinssterben in Deutschland / Was ist schwierig am Frühling, Herr Herold? 50 Eine Meldung und ihre Geschichte Warum ein Engländer 33 Versuche für seinen Führerschein brauchte 51 Schicksale Eine Berlinerin sucht im Irak nach den Spuren ihres verstorbenen Mannes 52 Kolumne Leitkultur 57
Wirtschaft 58
Alexej Nawalny Er ist gerade aus der Haft entlassen, jetzt wirbt Russlands Oppositionsführer wieder für seine Präsidentschaftskandidatur 2018. Im SPIEGELGespräch erklärt Nawalny, warum der Kreml ihn nicht ignorieren kann. Seite 92
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PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL
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Wissenschaft „Größerer Schaden als Nutzen“ – eine Ärztin warnt davor, vorschnell zum Arzt zu gehen / „Potenziell gefährlich“: Asteroid zischt nah an der Erde vorbei 104 Verkehr Inflation der Oldtimer 106 Essay DFG-Präsident Peter Strohschneider begrüßt den „March for Science“ und warnt die Wissenschaftler, sich zu überschätzen 109 Meeresbiologie Wie eine winzige Mikrobe vor Jahrmillionen den Planeten Erde bewohnbar machte 110 Sportgeräte Das Rennrad soll endlich Scheibenbremsen bekommen – aber nicht alle sind dafür 114
Kultur
Gesellschaft
Bahn setzt verstärkt auf extralange ICE-Züge / Kai Diekmann berät Uber / Boom der Logistikimmobilien Unternehmer Wie der geheimnisvolle Lidl-Gründer Dieter Schwarz seine Heimatstadt Heilbronn beherrscht Interview mit Lidl-Chef Klaus Gehrig über Härte im Discountgeschäft Betriebsrenten Die geplante Reform schafft neue Probleme Luftfahrt Das rabiate Vorgehen gegen einen United-Airlines-Passagier ist ein Einzelfall, Überbuchungen aber sind an der Tagesordnung
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Ilse Aigner Sie ist bayerische Wirtschaftsministerin und wird als mögliche Nachfolgerin von Horst Seehofer gehandelt. Im SPIEGEL-Gespräch sagt sie, Frauen würden in der Politik noch immer nach anderen Maßstäben beurteilt. Seite 40
Der Historiker Andreas Wirsching über Hitlers Giftgasstrategie / Disney-Chef als Hoffnungsträger der Demokraten? / Kolumne: Besser weiß ich es nicht 116 Zeitgeist John Grisham, Timothy Snyder, Tom Wolfe – US-amerikanische Autoren und die Frage, wie es weitergehen soll mit Trump als Präsident 118 Kunst Reformations-Ausstellung gerät zum Aufgalopp der Egos 126 Nationalsozialismus Der sonderbare Fall des SS-Richters Konrad Morgen 128 Filmkritik „The Founder“, die Geschichte des McDonald’s-Gründers Ray Kroc 130
FRANCISCO LEONG / AFP
zu trotzen, auch für Fußballstars 8 Meinung Kolumne: Im Zweifel links / So gesehen: Welche Parteien geschlossen in den Wahlkampf ziehen und welche nicht 10 Sechs Bundesländer müssen Abi-Aufgaben ändern / Zahl der Einbrüche sinkt / Berlin-Attentäter bekam Befehl vom IS 24 Anschläge Sprengsätze gegen den Lieblingssport der Deutschen 28 Hans-Joachim Watzke, Geschäftsführer von Borussia Dortmund, über die Entscheidung, trotz des Anschlags Fußball zu spielen 30 NRW SPD-Innenminister Ralf Jäger kämpft mit Pleiten und Pannen 32 Populismus Der Überlebenskampf von AfD-Chefin Frauke Petry 34 Debatte Warum mehr Geld für Verteidigung notwendig ist 38 CSU Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner im SPIEGEL-Gespräch über Machos in der Politik 40 Kommentar Die CDU muss sich auf die Zeit nach Angela Merkel vorbereiten 43 Asien Die Kanzlerin versucht, ein Bündnis mit Peking gegen Trump zu schließen 44 Gewalt Auch Männer werden in Partnerschaften zum Opfer, erstmals gibt es Schutzwohnungen 46 Referendum Ein Streitgespräch in der Familie über Präsident Erdoğan – ein Deutschtürke aus Berlin diskutiert mit seinem Schwager, der in einer türkischen Kleinstadt lebt 48
VALERY SHARIFULIN / TASS / ACTION PRESS
In diesem Heft
Cristiano Ronaldo 60 65 68
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Bestseller Impressum, Leserservice Nachrufe Personalien Briefe Hohlspiegel / Rückspiegel
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Wegweiser für Informanten: www.spiegel.de/investigativ
Er wird von seinen Fans verehrt und von Kindern geliebt. Das Privatleben des Fußballstars ist weitgehend unbekannt. Vor Jahren schloss er einen Deal mit einer Frau, die behauptete, er habe sie vergewaltigt. Seite 72 DER SPIEGEL 16 / 2017
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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Leitartikel
Das Gesellschafts-Spiel Widerstand gegen den Terror ist ein Projekt für alle – auch für den Fußball.
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PATRIK STOLLARZ / AFP
gute, eine passende Antwort. Was immer Terroristen tun, rieden zu den Festen ist den Deutschen nicht verob nun islamistische, rechts- oder linksextremistische, die gönnt: ein Anschlag zu Weihnachten, ein Anschlag Gesellschaft macht weiter mit ihrer Normalität, lässt sich zu Ostern, erst ein Weihnachtsmarkt in Berlin, jetzt nicht beirren, bei aller Trauer, trotz der Ängste und Sorder Mannschaftsbus von Borussia Dortmund. Dazwischen gen. Das ist weitgehend Konsens. lagen die Anschläge in London, Sankt Petersburg und Stockholm. Es scheint, als suche der Terror Europa in imEs ist natürlich besonders hart weiterzumachen, wenn mer dichterer Folge heim. Er lässt sich nicht ausschalten, man selbst Opfer eines Anschlags war, wie die Spieler von die Gesellschaften müssen die Bomben aushalten, müssen Dortmund. Aber andere haben das auch geschafft. Nach einen Weg finden, damit umzugehen. dem weit schlimmeren Anschlag auf die Satirezeitschrift Der Dortmunder Weg war: kurz Luft holen, dann wei„Charlie Hebdo“ arbeiteten die Überlebenden sofort an termachen, nicht innehalten. Das Hinspiel im Viertelfinale der nächsten Ausgabe weiter. Oder waren die Fußballer zu der Champions League gegen AS Monaco wurde nur um jung für diese Zumutung? Von den Zwanzigjährigen haben einen Tag verschoben. Dies wird nun scharf kritisiert, die Gesellschaften immer den meisten Mut und größten auch vom Trainer und von einigen Spielern. Sie hätten Einsatz erwartet, und jetzt ging es, zum Glück, nicht darum, lieber mehr Zeit gehabt, um diein den Krieg zu ziehen, sondern ses traumatische Erlebnis zu ein hochgradig abgesichertes verarbeiten. Wenn Betroffene Spiel zu spielen. so reden, fällt es schwer zu wiFußball ist nicht die Fortsetdersprechen. Und doch muss zung des Krieges mit anderen Widerspruch sein. Denn hier Mitteln, aber Fußballspieler haverknüpfen sich zwei große ben eine zivile Verantwortung Fragen, die alle betreffen: die für die Gesellschaft, weil ihr Rolle des Fußballs in der GesellSport eine emotionale Heimat schaft und der Umgang mit für zig Millionen ist. Die Bindem Terror. dung an einen Klub, an eine Das Spiel war eine Zumutung Nationalmannschaft erzeugt Zufür die Dortmunder Spieler, keigehörigkeit, gibt Halt. An den ne Frage. Aber sie sind für die Spieltagen findet die Nation Gesellschaft nicht nur Indivials Erregungsgemeinschaft eine duen, sondern auch Repräsengemeinsame Basis, und Sporttanten, und deshalb gibt es zwei patriotismus ist eine zumeist Ebenen für dieses Thema, die harmlose Form, internationale individuelle und die kollektive. Rivalitäten auszuleben. Niemand sollte nach einem Nicht alle Spitzenspieler wersolchen Anschlag spielen müsden ihrer herausragenden Rolle sen, wenn er nicht will, wenn gerecht. Die Superstars Messi er nicht kann. Rückzug ist we- Bild des beim Anschlag verletzten Spielers Bartra im Stadion oder Ronaldo zahlen höchst under feige noch verantwortungswillig Steuern. Und wer mit eilos, sondern verständlich. Individuelle Absagen wären danem goldenen Lamborghini durch Dortmund brettert wie her völlig in Ordnung gewesen. der Stürmer Pierre-Emerick Aubameyang, zeigt, dass er von Für das gesamte Spiel und die beiden Vereine gilt etwas dieser Stadt nichts verstanden hat, nichts verstehen will. anderes. Hier geht es um den kollektiven Aspekt, die Meist reicht es den Fans, wenn die Spieler die Liebe mit Rolle des Fußballs in den Zeiten des Terrors. Bei RedakToren und Siegen zurückzahlen. Aber sie sollten auch politionsschluss war noch nicht klar, was den oder die Attentisch-gesellschaftlich Vorbild sein, wenn es darauf ankommt. täter von Dortmund angetrieben hat. Aber das Spiel wurAm Mittwochabend, beim Nachholtermin, war das Stade angesetzt unter dem Eindruck, der Anschlag könne dion in Dortmund voll. Die Fans wollten, dass es weiterTerror sein, es war damit eine Antwort auf den Terrorvergeht. Sie waren nicht besonders still, nicht besonders padacht. Terror hat immer zum Ziel, den Alltag mit Ängsten thetisch, es war alles weitgehend normal. Und die Spieler zu spicken, die Normalität zu unterbrechen oder abzuauf dem Rasen gehörten einmal wirklich dazu, waren Teil schaffen. Wenn Attentätern das gelingt, haben sie einen des gesellschaftlichen Projekts Beharrung. Sieg davongetragen. Zum nationalen Erinnerungsschatz zählen bislang Es ist schwer, sich gegen den Terror zu wehren. Es gibt nur die großen Siege und die tragischen Niederlagen deuteinen Luftkrieg gegen den IS, es gibt die innere Sicherscher Mannschaften. Doch dieses Spiel wird aus einem heitsarchitektur der Staaten, es gibt aber auch eine Antso banalen wie großartigen Grund erinnert werden: Es wort der Gesellschaften, und die heißt: Beharrung. Eine fand statt. Dirk Kurbjuweit
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T HE ALOHA WAY HAWAII SPRING/SUMMER 2017
Meinung Jakob Augstein Im Zweifel links
Urbi et orbi Letzte Meldung aus Rom: Der Papst betreibt jetzt einen Waschsalon. Obdachlose und Bedürftige können ihre Kleidung und ihre Decken zur Reinigung nach Trastevere bringen. Einen päpstlichen Friseursalon für Obdachlose gibt es bereits. Finden Sie das lustig oder selbstverständlich? Es ist beides nicht. Papst Franziskus revolutioniert seit vier Jahren seine Kirche. Er soll nur nicht nachlassen. Die roten Schuhe waren damals ein Zeichen. Benedikt, der Deutsche, trug sie. Es passte zum intellektuellen Ästheten aus dem Norden, dass man ihm nachsagte, das Schuhwerk stamme gar von Prada. In Wahrheit waren die feinen, kleinen Schuhe handgefertigt von einem Schuhmacher aus dem Piemont. Franziskus, der einen anderen Weg nimmt, braucht festeres Schuhwerk. Er ist ein Handwerker, ein Baumeister. Er hat die Vatikanbank reformiert, eine Kommission für den Schutz von Minderjährigen vor sexualisierter Gewalt eingerichtet, und er nimmt die Ökumene endlich ernst: Er beteiligt sich an Reformationsfeierlichkeiten und ist der erste Papst, der mit dem orthodoxen Patriarchen von Moskau zusammentrifft. In der Geschichte seiner Kirche ist Franziskus ein Zinnenstürmer. Aber von allen Zinnen scheut er doch noch die höchste: die Frauenordination. Die Argumente der Kirche gegen die Weihe von Frauen, zum Beispiel jenes, wonach Priester männlich sein müssen, weil sie ja an Christi statt handelten, sind die Argumente von Taschenspielern.
Kittihawk
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Aber keine Sorge: Die katholische Kirche ist nur eine so alte menschliche Institution, weil sie, um zu überleben, stets zu Anpassung fähig war. Es wird der Tag kommen, da Frauen Priesterinnen werden. Wer, wenn nicht Franziskus, sollte diesen Prozess beschleunigen? Am Ostersonntag wird er den Segen „Urbi et orbi“ sprechen, für die Stadt und den Weltkreis. Wer immer ihn sieht oder hört und guten Willens ist, dem wird unter den üblichen Bedingungen ein Ablass aller zeitlichen Sündenstrafen gewährt. Die größten Sünder aber sind diesem Papst die Reichen. Niemand hat den Kapitalismus klarer kritisiert als dieser Jorge Mario Bergoglio, der sich als Papst den Namen des kommunistischsten aller Heiligen gegeben hat. Er spricht von der „Diktatur einer Wirtschaft ohne Gesicht und ohne ein wirklich menschliches Ziel“. Er klagt an: „Der Mensch an sich wird wie ein Konsumgut betrachtet, das man gebrauchen und dann wegwerfen kann.“ Er sagt ganz einfach: „Diese Wirtschaft tötet.“ Für solchen „christlichen Kommunismus“, wie der italienische Schriftsteller Alberto Moravia ihn nannte, hat man in Deutschland allerdings nie sehr viel Sinn gehabt. Hier vergessen die Katholiken oft, dass sie Christen sein sollen. Wer an Ostern die Gelegenheit zur Umkehr ergreifen will, muss nicht nach Rom reisen. Der Segen hat seine Gültigkeit auch über Radio (seit 1967), Fernsehen (1985) und Internet (1995). Er hat die Kraft, buchstäblich durch jede Ritze zu dringen. Hoffentlich. An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel.
Vorteil CLP So gesehen Warum die Liberalen sehr gut für den Wahlkampf gerüstet sind Als zentraler Erfolgsfaktor im Wahlkampf gilt die Geschlossenheit. Die Bürger merken, wenn eine Partei nicht mit sich im Reinen ist. So gesehen sind derzeit nur SPD und CLP gut aufgestellt. Bei den übrigen Parteien hapert’s. Beginnen wir mit der sogenannten Union. Selbst wenn Angela Merkel und Horst Seehofer die Schauspielkunst von Meryl Streep besäßen, ließe sich kaum kaschieren, wie sehr sie sich verachten. Leider operieren beide schauspielerisch eher auf KarlDall-Niveau. Im Vergleich zu den beiden hatten sich Helmut Kohl und Franz Josef Strauß jedenfalls echt lieb. Bei den Grünen finden der linke Flügel und der AngelaMerkel-Gebetskreis um Winfried Kretschmann derweil kaum noch Gemeinsamkeiten, weshalb die „grüne Volkspartei“ (Kretschmann) noch an der Fünfprozenthürde scheitern könnte. Bei der Linken steht das Talkshowpärchen Wagentaine mit seiner nationalistischen Variante von Sozialismus jenen Genossen gegenüber, die noch wissen, dass die linke Bewegung internationale Wurzeln hat. Und die AfD macht dieser Tage einen ähnlich geschlossenen Eindruck wie die sehr späte Piratenpartei. Als Einheit präsentieren sich hingegen die Sozialdemokraten, die nun schon seit elf Wochen Ostern feiern, ein Fest der Auferstehung. Noch geschlossener wirkt da nur die FDP-Nachfolgeorganisation CLP (Christian-Lindner-Partei), was daran liegen könnte, dass Ein-Mann-Parteien es immer schon leichter hatten, mit sich im Reinen zu sein. Markus Feldenkirchen
Titel
Alchemie des ewigen Lebens
Körperkonservierungstanks im Cryonics Institute*: Ein leichtes Schaudern
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eit je fällt es dem Menschen schwer, den Tod zu akzeptieren. Wie unerträglich muss es da erst erscheinen, dass auch der Stellvertreter Jesu Christi sterblich ist. Gibt es keinen Weg, den Tod zu überwinden?, fragte sich der Legende nach im Jahr 1492 der Leibarzt von Papst Innozenz VIII., als dieser von schwerer Krankheit gezeichnet im Bett lag. Der Mediziner besann sich auf eine Lehre, der zufolge dem Saft in den Adern eine geheime Lebenskraft innewohne. Drei zehnjährige Knaben ließ er zur Ader und reichte deren Blut dem siechen Innozenz. Keiner der drei Jungen überlebte die Prozedur; der Papst starb wenig später. Mehr als ein halbes Jahrtausend ist seit jenem vergeblichen Versuch verstrichen, den Tod zu überlisten. Nun hat es den Anschein, als sei die Idee des päpstlichen 12
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Leibarztes in anderer Gestalt wiedergeboren: Aufs Neue haben sich Wissenschaftler daran gemacht, im Blut nach dem Jugendelixier zu suchen. Heute werden nicht mehr Kinder, sondern Versuchstiere für solch blutige Experimente herangezogen. Als Erfolg versprechend gilt vor allem ein Verfahren namens Parabiose. Die Forscher nähen dabei junge und alte Mäuse aneinander. Vor der Operation werden die Tiere wochenlang aneinander gewöhnt, der Eingriff selbst geschieht unter sterilen Bedingungen. Der Mäusechirurg entfernt bei beiden Tieren eine dünne Hautschicht und tackert die zwei Stellen sodann zusammen. Um * Die Aufnahme auf dieser Seite sowie die Bilder auf Seite 15 und 18 (jeweils unten) entstammen dem Fotoband „Prospect of Immortality“ von Murray Ballard.
PASCAL DELOCHE / GODONG / PICTURE ALLIANCE / DPA
MURRAY BALLARD
Zukunft Mit Blutextrakten, Wunderpillen und Tinkturen versuchen Forscher, das Alter zu überlisten. Zugrunde liegt ein Traum, der so alt ist wie die Menschheit: den Tod zu besiegen und Unsterblichkeit zu erlangen. Besonders anfällig sind Internetmilliardäre.
zu verhindern, dass die Mäuse die Naht aufreißen, werden je ein Vorder- und ein Hinterbein zusammengeschnallt. Im Verlauf der Wundheilung wachsen die Äderchen beider Mäuse zusammen. Fortan strömt das Blut, gepumpt von zwei Herzen, durch den Doppelkörper. Die verwachsenen Tiere fressen zusammen, sie schlafen zusammen, und sie humpeln zusammen durch den Käfig. Die Wissenschaftler aber gehen vor allem einer Frage nach: Altern sie nun auch zusammen? Gerontologen interessieren sich für parabiotische Mäuse, seitdem sie entdeckt haben, dass junge Tiere dabei auf ältere wie eine Verjüngungskur wirken: Das jugendliche Blut, das durch ihre Adern pulst, lässt ihr Fell glänzender, ihre Muskeln straffer, ihr Herz kräftiger werden – ja sogar
Verklärung Christi (Gemälde von Raffael, 1520): Woher kommt die Besessenheit, dem Tod ein Schnippchen zu schlagen?
das Lernvermögen steigert sich plötzlich wieder auf jugendfrisches Niveau. Im Blut junger Mäuse scheint folglich ein Wundermittel zu schwimmen, das die Lebensuhr rückwärts laufen lässt. Es ist wenig erstaunlich, dass dies die Forscher in Verzückung versetzt. Schon glauben einige Wissenschaftler, die Jungbrunnenessenz im Blut identifiziert zu haben. Alternsforscher an der Harvard-Universität haben einen Wachstumsfaktor namens GDF 11 in Verdacht, ihre Kollegen an der Universität von Kalifornien in Berkeley dagegen schreiben dem Liebeshormon Oxytocin die verjüngende Wirkung zu. Noch ist weitgehend unklar, was sich während der wundersamen Wandlung im Mäusekörper tut. Dennoch hat die Biotech-Firma Alkahest im kalifornischen
Menlo Park bereits mit den ersten Tests begonnen: Sie appliziert 18 Alzheimerkranken das Blutplasma junger Spender, in der Hoffnung, dass so ihr Gedächtnis wiederkehrt. Mit dem Ziel, in einer Studie mögliche Anti-Aging-Wirkungen zu untersuchen, bietet ein Start-up mit dem verheißungsvollen Namen Ambrosia sogar Gesunden eine solche Blutplasmakur an. Allerdings verlangt das Unternehmen dafür 8000 Dollar, was zu einer hitzigen Debatte in der Gemeinde der Alternsforscher geführt hat. Die müssen sich ohnehin um ihr Image sorgen. Jugendliches Blut, Liebeshormone, gruselige Mäuseexperimente – all das klingt, als wäre es der Fantasie eines Alchemisten entsprungen. „Die Leute auf den Konferenzen munkeln schon von Vampiren“, sagt Alternsfor-
scher Tony Wyss-Corey, einer der Gründer der Firma Alkahest. Denn war nicht auch in der Legende des Grafen Dracula das Blut junger Frauen ein Lebenselixier der Untoten? Es macht die Sache nicht appetitlicher, dass Forscher des Kölner Max-PlanckInstituts für die Biologie des Alterns nun auch jugendfrischen Exkrementen die Kraft der Verjüngung zuschreiben. Sie fütterten Fische mit dem Kot jüngerer Artgenossen. Die Lebensspanne der Tiere verlängerte sich daraufhin um verblüffende 40 Prozent. Das Jugendstimulans, so vermuten die Wissenschaftler, entstamme den im Darm der Jungfische siedelnden Bakterien. Dass in Blut oder Kot womöglich Verjüngungskraft schlummert, mag die bizarrste Verheißung der Alternsforscher DER SPIEGEL 16 / 2017
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Titel
sein; doch ist sie beileibe nicht die einzige. Viele Ansätze werden in den Labors verfolgt, und wie die Parabiose, so rufen auch andere ein leichtes Schaudern hervor. So sind die Nacktmulle zu großen Stars des Forschungszweigs geworden: hässliche Kreaturen mit plumpem Leib, schrumpeliger Haut und zwei monströsen Nagezähnen. Die Wissenschaftler interessieren sich für diese Ungeheuer, weil sie bis zu 30 Jahre alt werden können – und damit rund zehnmal so alt wie Maus, Hamster oder andere Nagetiere. Als wären sie schon vor ihrem Exitus in den Hades hinabgestiegen, scheinen die Nacktmulle, fast blind in der Finsternis ihrer unterirdischen Bauten, dem Ziel urlangen Lebens erstaunlich nahe gekommen zu sein. Dieses Ziel versuchen die Forscher nun auch bei anderen Spezies zu erreichen. Schon haben sie das Leben von Fruchtfliegen, Zebrafischen und Labormäusen mithilfe von Hormonen, Genspritzen und anderen Tricks beträchtlich verlängert. Bei Fadenwürmern gelang es ihnen sogar, die Lebensspanne gentechnisch zu verzehnfachen. Das besondere Interesse der Wissenschaftler aber gilt der Spezies Mensch. Erkenntnisse versprechen sie sich hier vor allem von jenen Fällen, in denen der Alternsprozess von der Norm abweicht. So altern Kinder mit der sogenannten Progerie im Eiltempo. Schon als Teenager weist ihr Körper viele der Symptome des Greisenalters auf. Noch erstaunlicher ist die Krankheitsgeschichte jener fünf Mädchen, die der britische Gerontologe Richard Walker untersucht. Ein Erbleiden führt bei ihnen dazu, dass sich ihr Körper dem Alternsprozess verweigert. Selbst als Zehnjährige sehen sie noch aus wie Babys, auch geistig verharren sie auf Kleinkindniveau. Walker glaubt deshalb, dass ihr Genom das Geheimnis ewiger Jugend enthalten könnte. In der Gerontologie geht es aber längst um mehr als Kuriositäten. Das Ziel sind vielmehr handfeste Interventionen. Und diese scheinen plötzlich in Reichweite zu kommen. Was jahrelang bloße Grundlagenforschung war, steht unvermittelt an der Schwelle zur klinischen Praxis: Eine Vorhut von Wissenschaftlern hat den Sieg über den Tod ins Visier genommen. Demnächst soll die erste klinische Studie starten, deren Ziel die Verlängerung des menschlichen Lebens ist. Das Team des New Yorker Alternsforschers Nir Barzilai will rund 3000 gesunden Männern und Frauen im Alter zwischen 65 und 79 Jahren Metformin-Pillen verabreichen. Medizinern ist der Wirkstoff vertraut, denn schon seit Jahrzehnten ist er eines der gebräuchlichen Diabetesmittel. Weil sich bei Zuckerkranken die Hinweise da14
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rauf häuften, dass das Medikament ihnen auch Schutz vor Herzinfarkten, Schlaganfällen, Demenzerkrankungen und sogar vor Krebs zu gewähren scheint, will Barzilai es nun als Mittel gegen das Alter an sich testen. Er muss dafür radikal mit Gepflogenheiten der Arzneimittelentwicklung brechen. Denn normalerweise wird in einer klinischen Studie stets nur die Wirksamkeit eines Mittels gegen ein wohldefiniertes Leiden untersucht. Barzilai aber will feststellen, ob Metformin die Gesundheit der Probanden insgesamt aufrechterhält. Sein Kollege Jay Olshansky von der Universität von Illinois in Chicago ist begeistert. Das Leben pharmakologisch zu verlängern sei in den Bereich des Machbaren gerückt: „Es ist plausibel, es ist möglich“, sagt Olshansky. „Und es wäre die bedeutendste medizinische Intervention der Moderne.“ Anderen geht selbst das noch nicht schnell genug. Sie wollen die langwierige
Als der Mensch seiner Endlichkeit gewärtig wurde, suchte er diesen Gedanken mit Jenseitsfantasien zu betäuben. Zulassungsprozedur der Arzneimittelbehörde FDA umgehen. So flog Elizabeth Parrish, die Chefin der in Seattle ansässigen Biotech-Firma Bioviva, nach Kolumbien, um sich dort ohne Zustimmung der FDA selbst die von ihrer Firma entwickelte Genspritze gegen das Alter setzen zu lassen. Der Biologe Leonard Guarente vom Massachusetts Institute of Technology entschied sich unterdes, seine Pille gegen das Altern nicht als Medikament, sondern als Nahrungsergänzungsmittel auf den Markt zu bringen. Seit vorigem Jahr bietet die Firma mit dem Heil versprechenden Namen Elysium Health „Basis“-Kapseln zum Preis von 50 Dollar pro Monatsdosis an – mit dem ausdrücklichen Segen von sechs Nobelpreisträgern, wie das Unternehmen werbewirksam auf seiner Website verkündet. Warum nur überbieten sich die Forscher mit ihren oftmals unhaltbaren Heilsversprechen? Woher kommt die Besessenheit,
dem Tod ein Schnippchen zu schlagen – und damit letztlich einen Kampf aufzunehmen, den der Mensch wohl nie wird gewinnen können? Gewiss, vordergründig gelten die Bemühungen der Wissenschaftler dem Versuch, die Gebrechen des Alters zu lindern; und dies ist zweifellos ein Feld, auf dem sich Erfolge erzielen lassen. Tatsächlich aber geht es vielen um mehr: In den meisten Projekten der Alternsforscher kommt mehr oder weniger explizit die Sehnsucht zum Ausdruck, das Alter an sich besiegen zu können. Die einen bekennen sich ganz offen zu diesem Ziel. Besonders lautstark und radikal tut sich hier der britische Bioinformatiker Aubrey de Grey hervor, ein exzentrischer Visionär von hagerer Gestalt mit langem Zauselbart und rotbraunem Zopf im Nacken. Ungeniert verkündet er, der erste Mensch, der seinen 1000. Geburtstag erleben werde, sei vermutlich heute schon geboren. Bei anderen tritt der Traum vom ewigen Leben versteckter zutage – indem sie das Alter zur behandelbaren Krankheit erklären. Das Altern beginnt in ihrer Vorstellung, wenn das erste Härchen ergraut und die erste Runzel gebildet ist. Es ist dies der Anfang eines Prozesses, der Teil des menschlichen Lebens ist und irgendwann unweigerlich in den Tod mündet. Wer meint, diesen Prozess stoppen zu können, der verspricht implizit ewige Jugend und die Überwindung des Todes. Deutlich macht dies eine Rechnung des Hedgefonds-Managers Joon Yun aus dem kalifornischen Silicon Valley, der einen Eine-Million-Dollar-Preis ausgelobt hat für das Erreichen des Ziels, „den Code des Lebens zu knacken und das Altern zu heilen“: Bei einem gesunden 25-Jährigen, so rechnet Yun vor, liege die Wahrscheinlichkeit, dass er vor seinem 26. Geburtstag stirbt, bei etwa 0,1 Prozent. Wenn es nun gelänge, die Sterblichkeit auf diesem Niveau zu stabilisieren, würden Menschen im Schnitt an die 1000 Jahre alt werden. Es ist kein Zufall, dass diese Überlegung im Silicon Valley geboren wurde. Denn nirgendwo grassiert die Sehnsucht, Unsterblichkeit zu erlangen, so sehr wie in der von Technikeuphorie beherrschten kalifornischen IT-Branche. Google-Mitgründer Sergey Brin hob 2013 einen Biotech-Ableger namens Calico aus der Taufe, dessen Ziel eine Therapie des Alterns ist. Calicos Versprechen, den Menschen ein „gesünderes und längeres Leben“ zu schenken, nimmt sich noch geradezu bescheiden aus. Larry Ellison, der Gründer von Oracle, verkündete, dass der Tod ihn „sehr wütend“ mache – und spendete fast eine halbe Milliarde Dollar für die Unsterblichkeitsforschung, um seinem Ärger Luft zu
TOM PILSTON / PANOS / VISUM MURRAY BALLARD
Anti-Aging-Prophet de Grey: Der erste Mensch, der 1000 wird, ist heute schon geboren
Lagerhalle beim russischen Kryonikanbieter KrioRus: Kein Platz fürs Jenseits
machen. Der deutschstämmige PayPal-Mitgründer Peter Thiel, der dank einer Paläodiät und einem sorgfältig ausgetüftelten Regime von Wachstumshormonen 120 zu werden hofft, hält mit seinen großzügigen Millionenspritzen die Stiftung des AntiAltern-Propheten de Grey am Leben. Es scheint, als fördere die Erfahrung, dass in der virtuellen Welt der Computer dem Möglichen keine Grenzen gesetzt sind, den Glauben daran, dass auch das reale Leben grenzenlos sei. „Wenn Sie Ihre Milliarden in einem Industriezweig gemacht haben, der auf der präzisen Kontrolle von Nullen und Einsen beruht, warum sollten Sie dann nicht glauben, diese Kontrolle auch auf Atome und Moleküle ausdehnen zu können?“, meint der Technikhistoriker Patrick McCray von der Universität von Kalifornien in Santa Barbara. So kommt es, dass gerade Zukunftsmacher Brin, Ellison, Thiel und viele andere IT-Milliardäre besonders anfällig für einen Traum sind, der vermutlich so alt wie die Menschheit ist. Zwar vermag niemand mit Gewissheit zu sagen, wann sich im Homo sapiens erstmals das Bedürfnis oder gar die Zuversicht regte, dem Tod entrinnen zu können. Doch spricht vieles dafür, dass diese Hoffnung dem Bewusstsein des Todes selbst entsprang: Kaum dass der Mensch seiner eigenen Endlichkeit gewärtig wurde, suchte er diesen unerträglichen Gedanken mit Jenseitsfantasien zu betäuben. Und der Mensch war dieses Trostes offenbar zutiefst bedürftig. Warum sonst sollte jede Kultur dieser Welt ihre eigene Variante ewigen Lebens ersonnen haben – obwohl dies doch aller menschlichen Erfahrung widerspricht? Die Details unterscheiden sich: Muslime lassen die Seelen der Verstorbenen eine Reise in die Glückseligkeit antreten; Buddhisten schlüpfen nach dem Tod einfach in neue Körper; Christen werden ins Reich Gottes aufgenommen, um dann zum Tag des Jüngsten Gerichts, gekleidet in ihren alten Körper, wiederaufzuerstehen. Den Religionen aber ist gemein, dass sie die augenscheinliche Tatsache verleugnen, dass das Leben mit dem Tod endet. Menschen haben viel Aufwand betrieben, um die Illusion vom Widerruf des Todes aufrechtzuerhalten. Monumentale Pyramiden in Ägypten und Mexiko haben sie mit der Kraft ihrer Hände aufgetürmt, unzählige Totentempel und -städte errichtet – und all dies nur, um den Glauben daran zu stärken, dass ein Fortbestehen nach dem Tode möglich sei. Ein erheblicher Teil allen kulturellen Schaffens gilt diesem größten menschlichen Selbstbetrug. Da erscheint es nur folgerichtig, dass auch das älteste überlieferte Stück der Menschheitsliteratur diesem Thema gewidmet ist. Das mehr als 4000 Jahre alte GilgaDER SPIEGEL 16 / 2017
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mesch-Epos schildert, wie der machtvolle König Gilgamesch in Verzweiflung verfällt, als sein Freund Enkidu an einer Krankheit stirbt. Nie mehr kann er fortan vergessen, dass auch ihn dieses Schicksal erwartet. Bis ans Ende der Welt reist er, um von seinem Urahn Uta-napischti das Geheimnis der Unsterblichkeit zu erfahren. Der jedoch überzeugt Gilgamesch, dass er nicht einmal den kleinen Bruder des Todes, den Schlaf, zu bezwingen vermag. Die Aufklärung bedeutete eine Zäsur im Verhältnis des Menschen zum Tod. Erstmals bewährte sich ein Welterklärungsmodell, das ohne Götter und übernatürliche Kräfte auskam. Die moderne Wissenschaft begreift den Menschen als Organismus, der im Tod sein Ende findet. Für ein Jenseits ist in diesem Weltbild kein Platz. Doch nun zeigt sich: Auch die vermeintlich so rational denkenden Wissenschaftler sind oftmals nicht bereit, ganz auf Unsterblichkeitsfantasien zu verzichten – nur dass sie, weil das Jenseits für sie abgeschafft ist, gezwungen sind, den Traum vom ewigen Leben ins Diesseits zu verpflanzen. Zwei unterschiedliche Visionen halten die Hoffnung wach, dass die Unsterblichkeit auf Erden möglich sein könnte. Die eine wird besonders von Computervisionären propagiert. Sie finden sich mit der Vergänglichkeit des Körpers ab und setzen stattdessen darauf, das geistige Ich von seiner sterblichen Hülle zu befreien. Die Grundidee: Es gelte, den Inhalt des Gehirns auszulesen und im Computer hochzuladen. Das „Mind uploading“ kommt dem Aufstieg der Seele in den digitalen Himmel gleich. Googles Cheffuturist Ray Kurzweil hat sogar ausgerechnet, wie lange es noch dauern wird, bis die Technik des Hirnhochladens ausgereift ist. Das Ergebnis gibt dem heute 69-Jährigen durchaus Hoffnung, selbst noch die Wiederauferstehung im Computer zu erleben. Seiner Hochrechnung zufolge müsste Kurzweil bis zum Jahr 2045 durchhalten; er wäre dann 97. Die zweite Variante angeblich wissenschaftlich begründeter Unsterblichkeit besteht in der Vorstellung, den Körper dauerhaft gegen den Verfall zu wappnen. Und weil der einfachste Weg, biologisches Gewebe zu konservieren, darin besteht, es einzufrieren, bieten die sogenannten Kryoniker ihrer Kundschaft an, sie unmittelbar nach dem Tod in flüssigem Stickstoff zu verwahren. 204 Körper lagern bereits in den Kühltanks der beiden amerikanischen Kryonikfirmen Cryonics Institute und Alcor, weitere werden beim russischen Anbieter KrioRus verwahrt. Blut und Gewebsflüssigkeit wurden bei den „Patienten“, wie Leichname hier heißen, durch ein Gemisch aus Äthylenglykol und Dimethylsulfoxid 16
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Ewige Jugend muss nicht erst erfunden werden. Es gibt sie längst, und das seit Milliarden Jahren. ausgetauscht. Durch das schnelle Abkühlen auf tiefe Temperaturen verglasen Organe und Gewebe, statt scharfkantige Kristalle zu bilden, welche unweigerlich die Zellen zerstören würden. Aber natürlich ist es nicht das Leben im ewigen Eis, wonach die Kunden der Kryoniker streben. Wer sich gegen Vorauszahlung von 28 000 Dollar in flüssigen Stickstoff versenken lässt, der hofft auf spätere Wiederauferstehung. Dereinst, so sagt es der mit Cryonics Institute oder Alcor abgeschlossene Vertrag, werde der Körper aufgetaut, um ein zweites, diesmal hoffentlich dauerhaftes Leben anzutreten. Voraussetzung dafür ist, dass die Wissenschaft bis dahin das Ärgernis des Alterns aus der Welt geschafft hat. Erst Mitte November wurde der Fall einer 14-jährigen Britin bekannt, deren Körper nunmehr im Kältetank schwimmt. Vor Gericht hatte sie sich das Recht erstritten, sich nach ihrem Krebstod einfrieren zu lassen, in der vagen Hoffnung, „dass es in
Psychologin Carstensen: Hornhaut der Seele
Zukunft eine Heilung meines Krebses geben wird und sie mich aufwecken werden“. Wahrscheinlicher allerdings ist, dass sie der eisigen Gruft niemals entkommt. Denn vieles spricht dafür, dass das Alter prinzipiell unheilbar ist und die Unsterblichkeit ein bloßer Traum bleiben wird. Zudem verkennt, wer das Alter abschaffen will, dass es sich dabei um eine der großen Errungenschaften in der Geschichte des Lebens handelt. Ewige Jugend muss nicht erst erfunden werden. In der Natur gibt es sie längst, und das seit Milliarden Jahren. Unsterblichkeit ist gleichsam der Urzustand, in dem das Leben geboren wurde. Denn primitive Einzeller bringen, wenn sie sich teilen, immer aufs Neue Nachkommen hervor, die ebenso jung und frisch sind wie sie selbst. Sogar mit der Entstehung der ersten vielzelligen Wesen war noch nicht automatisch die Erfindung des Alterns verbunden. Das zeigt ein Langzeitexperiment am MaxPlanck-Institut für demografische Forschung in Rostock. Seit zehn Jahren umhegen die Wissenschaftler dort in Aquarien Süßwasserpolypen („Hydra“), knapp einen Zentimeter lange, stecknadeldünne Tierchen mit transparenten Tentakeln. Im Laufe der Zeit hat der Stammpolyp Hydra 1 mehr als 30 000 Nachkommen durch ungeschlechtliche Vermehrung hervorgebracht. Das Schicksal von 1800 von ihnen haben die Forscher detailliert verfolgt. Insbesondere haben Biodemograf Ralf Schaible und seine Mitarbeiter sorgfältig alle Todesfälle protokolliert. Was er dabei herausfand: Die Sterblichkeit blieb über all die Jahre hin unverändert. „Hydra altert nicht“, konstatiert Schaible. Erst höhere Lebensformen schlossen jenen Generationsvertrag ab, der sich Alter nennt: Die Älteren treten seither nach einer von biologischen Prozessen vorausbestimmten Lebensspanne ab, um den Jüngeren Platz zu machen. Würde der Mensch diesen Kontrakt aufkündigen, käme es bald zum Krieg der Generationen: Die Jugend würde rebellieren gegen die Allgegenwart der unsterblichen Greise. Klüger ist es da, sich mit der Unabänderlichkeit der eigenen Sterblichkeit zu versöhnen. Über Jahrhunderte hin mahnten Philosophen, dass nur derjenige Glück auf Erden werde erlangen können, der Frieden schließe mit dem Tod, statt ihn zu verleugnen oder gegen ihn aufzubegehren. Ein solcher Frieden, so lehrte Epikur schon im dritten vorchristlichen Jahrhundert, sei durchaus möglich. Denn letztlich verliere der Tod für jene allen Schrecken, die begriffen, dass er für uns Menschen gar nicht existiere: „Solange wir da sind, ist er nicht da, und wenn er da ist, sind wir nicht mehr.“ Erst diese Erkenntnis mache das „vergängliche Leben köstlich“. Gut 1800 Jahre später mahnte Michel de Montaigne die Menschen, sich dem Tod
EINFRIEREN
Kryonik Nach dem Tod wird der Körper in flüssigem Stickstoff verwahrt. Aufgetaut wird er erst in einer Zukunft, in der es kein Altern mehr gibt.
ERINNERN
DIGITALISIEREN
Vorgetäuschte Zeitreise
Mind-Uploading
Experimente zeigen: Wenn alte Menschen einige Tage in einer Umgebung verbringen, die derjenigen ihrer Jugendzeit gleicht, wird ihr Körper kräftiger, ihre Sinne werden geschärft.
Wenn es gelänge, das Gehirn vollständig im Computer zu simulieren, wäre die Trennung des Bewusstseins vom Körper möglich. Software-Updates könnten die Intelligenz steigern; das Ich würde zum Teil des Internets.
TRANSFUNDIEREN
Parabiose Jugendfrisches Blut kann verjüngen. Bei Mäusen zeigt sich: Werden zwei unterschiedlich alte Körper gekoppelt, kommt es zu einer Verjüngung des älteren Tieres.
Die Suche nach dem Jungbrunnen Ideen, wie sich das Leben verlängern lassen könnte ESSEN
Nahrungsergänzungsmittel Zwei Kapseln am Morgen versprechen die Erhöhung eines Koenzyms, das zahlreiche Prozesse in den Zellen am Laufen hält.
SPRITZEN
Gentechnik
SCHLUCKEN
Forscher vermuten einen Schlüssel zu ewiger Jugend im Genom. Die Lebensspanne von Fadenwürmern lässt sich mittels Gentechnik bereits verzehnfachen.
Anti-Aging-Pillen Der Wirkstoff Metformin, der als Mittel gegen Diabetes bewährt ist, scheint auch vor Herzinfarkten, Schlaganfällen, Demenz und Krebs zu schützen.
zu stellen. Allzu sehr neige das Volk dazu, ihn zu verleugnen: „Die Menschen, sie kommen, sie gehen, sie schlendern, sie tanzen – und vom Tod hat keiner etwas gehört.“ Tatsächlich aber helfe es nichts, „wenn wir den Blick ohne Unterlass wie in Feindesland hierhin und dorthin wenden“. Der Tod hänge „stets über uns wie des Tantalus Felsen“. Folglich komme es darauf an, dem Tod mutig entgegenzutreten: „Pflegen wir Umgang mit ihm, gewöhnen wir uns an ihn, bedenken wir nichts so oft wie ihn!“, ruft Montaigne seinen Lesern zu. Nur wer gelernt habe zu sterben, sei fähig, das Leben zu genießen. Die Unsterblichkeit hingegen sei keineswegs erstrebenswert. Montaigne graust vor der Vorstellung, dass das Leben nie ein Ende nähme. Saturn, den Gott der Zeit und der Dauer, lässt er deshalb zu den Menschen sagen: „Hättet ihr nicht den Tod,
ihr würdet mich unablässig verfluchen, dass ich ihn euch vorenthalten habe.“ Was indes weder Epikur noch Montaigne wussten: dass verborgen im Innern des Menschen das Unterbewusste regiert. Man mag sich noch so sehr mühen, dem Tod mit vernünftigen Argumenten seinen Schrecken zu nehmen, die unbewussten Ängste wird man so nicht beschwichtigen können. „Tief unter der Oberfläche des Bewusstseins rumort ständig diese Panik“, sagt Sheldon Solomon. Mit einer Serie raffinierter Experimente hat der Psychologe vom Skidmore College in Saratoga Springs das heimliche Wirken der Angst vor dem Tod sichtbar gemacht. Wieder und wieder zeigte sich dabei: Wenn Menschen auch nur beiläufig an die eigene Sterblichkeit erinnert werden, verändert dies die Art ihres Handelns. Sie halten mehr an ihrem eigenen Wertesystem fest und grenzen Fremde verstärkt aus.
Wie aber lässt sich dieser unterschwelligen Angst begegnen? Wie kann man sie besänftigen oder zähmen? Es ist schwierig, Einfluss aufs Unterbewusste zu nehmen, gerade weil es bewussten Interventionen nicht zugänglich ist. Solomon empfiehlt, das Selbstwertgefühl zu stärken, weil das den wirksamsten Schutz vor Anfechtungen und Ängsten des Unterbewussten biete. Bei vielen Menschen ist jedoch das Ich sehr fragil. Außerdem kann selbst eine gehörige Portion Selbstbestätigung die unbewusste Todesangst allenfalls lindern, besiegen kann sie sie nicht. Doch die Psychologen haben auch Trost zu bieten: Die Natur, so fanden sie heraus, scheint die Seele mit einer Art Hornhaut ausgestattet zu haben, die Schutz vor der Todesangst bietet. Diesen Schluss lassen besonders die Befunde der Alternsforscherin Laura Carstensen von der Stanford-Universität zu. Sie verfolgte, wie sich die allgeDER SPIEGEL 16 / 2017
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THE TRUSTEES OF THE BRITISH MUSEUM / BPK
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Assyrische Tontafel mit Gilgamesch-Epos: Reise ans Ende der Welt
meine Lebenszufriedenheit von Menschen im Verlauf ihres Lebens wandelt. Zu ihrer Verblüffung stellte sie fest: Sie nimmt zu. Zwar lässt die Kraft nach, die Glieder werden mürbe, und die alltäglichen Verrichtungen kosten mehr Zeit; doch all das macht die Menschen offenbar nicht verzagter, sondern im Gegenteil, ihr Lebensmut wächst. Carstensen hat auch eine Erklärung für dieses Phänomen. Intuitiv schätze jeder Mensch die Zeit ab, die ihm auf Erden noch bleibe. Und je knapper diese bemessen ist, desto mehr wende sich seine Aufmerksamkeit der Gegenwart zu, glaubt die Forscherin. Statt sich Sorgen um die Zukunft zu machen, leben die Älteren im Hier und Jetzt. Sie interessieren sich nur noch für die engsten Freunde und Verwandten, während die Jungen sich voller Beklommenheit daran machen, neue Beziehungen zu knüpfen. Insofern scheint es, als werde gerade das Wissen um die eigene Endlichkeit, das die Jungen so peinigt, für die Alten zum Trost. Es kommt also auf die innere Einstellung an, und dies gilt nicht nur für das Verhältnis zum Tod, sondern auch für dasjenige zum Altern. Als Beleg dafür mag ein klassisches Experiment gelten, das Ellen Langer bereits vor 35 Jahren durchgeführt hat. Die Psychologin der Harvard-Universität lud acht alte Männer in ein ehemaliges Kloster im US-Bundesstaat New Hampshire ein. Der Trip wurde für die über Siebzigjährigen zur Zeitreise. Langer hatte für sie eine Welt eingerichtet, in der alle Spuren der letzten 20 Jahre getilgt waren: Keines der Möbel war jüngeren Datums, an den Wänden hingen nur alte Fotos. Im Fernsehen liefen Schwarz-Weiß-Serien aus den Fünfzigerjahren, die ausliegenden Zeitschriften befassten sich mit Castros Revolution und den ersten Satelliten im All. Auch hatte Langer ihre Probanden angehalten, sich vorzustellen, dass sie wirklich in die Vergangenheit zurückversetzt seien. Fünf Tage verbrachten die Männer in dieser künstlich geschaffenen Zeitinsel. Dann wurden sie genauestens von der Forscherin untersucht. Die Ergebnisse waren frappierend: Es zeigte sich, dass diese wenigen Tage gereicht hatten, die Greise markant zu verändern. Ihr Griff war kräftiger, ihr Gang aufrechter, ihr Gehör schärfer geworden. Sie sahen genauer, und auch ihr Gedächtnis funktionierte wieder besser. Ewiges Leben, demnächst für alle? Ein Traum für Gläubige und auch für Forscher – es wird wohl ein Traum bleiben. Ein wenig Jugend aber, so scheint es, lässt sich allein durch den Glauben an sie erlangen. Johann Grolle
MURRAY BALLARD
Mail: johann.grolle@spiegel.de
Vorbereitung einer Kryokonservierung bei Alcor: Menschlicher Selbstbetrug
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Animation: Altern in Deutschland spiegel.de/sp162017leben oder in der App DER SPIEGEL
„Wir dürfen nicht Gott spielen“ SPIEGEL-Gespräch Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Heinrich Bedford-Strohm, kritisiert Versuche, Alter und Tod abzuschaffen – und warnt vor Allmachtsfantasien im Silicon Valley. Bedford-Strohm, 57, wuchs in einem evangelischen Pfarrhaus in Bayern auf. Als Theologieprofessor lehrte er Sozialethik an der Universität Bamberg. 2011 wurde er bayerischer Landesbischof, 2014 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). SPIEGEL: Herr Ratsvorsitzender, was genau
passiert, wenn ein Mensch stirbt? rückgekommen und kann uns sagen, wie es eigentlich ist. Wir können uns davon nur Bilder machen. Eines davon steht in der Offenbarung des Johannes: Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein. SPIEGEL: Jesus sitzt auf dem Himmelsthron, die Englein schwirren umher, und dann wird gerichtet über die Lebenden und die Toten – glauben Sie das wirklich? Bedford-Strohm: Das sind doch wunderbare Gemälde der Kunstgeschichte! Was ich aber fest glaube: Am Ende kommt die Wahrheit über unser Leben auf den Tisch, und zwar mit ihren hellen und dunklen Seiten. Wir müssen Rechenschaft ablegen. SPIEGEL: Und dann werden wir von Gott konkret gefragt: Warum hast du damals den Bettler abgewiesen? Wieso hast du deine Frau verlassen? Bedford-Strohm: Ich werde dann einsehen, wo ich, vielleicht ohne es zu merken, unrecht getan habe. Es wird dann ein Gefühl ungeheurer Scham geben. Aber diese Erkenntnis der Wahrheit über mein Leben, durch die muss ich hindurch, bevor ich bei Gott geborgen sein kann. SPIEGEL: Wird man im Paradies auch seine Familie und die Freunde treffen? Bedford-Strohm: Da halte ich es mit dem protestantischen Schweizer Theologen Karl Barth, der mal gefragt worden sein soll: „Herr Professor, werden wir droben unsere Lieben wiedersehen?“ Und dann hat er gesagt: „Ja, aber die anderen auch.“ Das ist ein wichtiger Hinweis: Wir können ja nicht die Kontrolle über das übernehmen, was nach dem Tod passiert. Es liegt in Gottes Hand. SPIEGEL: Wie viel hat das ewige Leben mit der diesseitigen Existenz zu tun? Essen wir dann auch erst mal gebratenen Fisch wie Jesus nach der Auferstehung? Bedford-Strohm: Wir werden verwandelt werden. Wir können uns jetzt nicht genau vorstellen, wie wir aussehen. Es ist wie beim Samenkorn: Das Alte stirbt, und
WERNER SCHÜRING / DER SPIEGEL
Bedford-Strohm: Niemand war tot, ist zu-
Bischof Bedford-Strohm am Berliner EKD-Sitz: „Am Ende kommt die Wahrheit auf den Tisch“ DER SPIEGEL 16 / 2017
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nicht da oben irgendwo sitzt etwas Neues wächst. So hat es und richtet, sondern das Leid, Paulus geschrieben. Das finde die Verzweiflung am eigenen ich ein sehr schönes Bild. Leib erfahren hat. Daran erinSPIEGEL: Mit Verlaub, die Aufnern wir Karfreitag. erstehung ist doch ein naiver Kinderglaube. SPIEGEL: Himmel und Hölle waren in früheren Zeiten ein groBedford-Strohm: Wer durchs ßes Thema. Heute spielen solFeuer der kantschen Philosoche Vorstellungen keine große phie gegangen ist, weiß: Als Rolle mehr, jedenfalls nicht in Mensch können wir Gott nicht der westlichen Gesellschaft … erkennen, wie er ist, sondern ihn nur mit unseren menschliBedford-Strohm: … was ich bechen Kategorien beschreiben. dauere. Wir sollten neu, wenn Darum ist es philosophisch abauch anders, davon sprechen solut nachvollziehbar zu salernen. gen, wir können Gott nicht SPIEGEL: Würden Sie den Menherleiten. Was wir aber könschen nicht eher entgegennen, ist Gottes Wort zu verkommen, wenn Sie das Jentrauen. Das ist der angemesseits mal beiseiteließen? Wenn sene Zugang. Sie die Leute einfach nur dabei unterstützten, ein ethisch SPIEGEL: Es geht nicht nur um gutes Leben zu führen? Philosophie. Ihr Glaube hält den exakten NaturwissenBedford-Strohm: Christlicher schaften schon lange nicht Glaube lässt sich nie und nimmehr stand. mer auf Ethik reduzieren. Die Gegenwart und das Jenseits Bedford-Strohm: Wenn ich jetzt Gottes lassen sich nicht ausmeine Frau mitgebracht hätte, einanderreißen. Die Art, wie dann würde ich sie Ihnen ja wir hier und jetzt leben, hängt auch nicht vorstellen, indem doch mit unserem Glauben ich sage: gestatten, meine ans ewige Leben zusammen. Frau, 65 Prozent Sauerstoff, 20 Der Glaube gibt Kraft zum guProzent Kohlenstoff, 10 Proten Leben, und er gibt Orienzent Wasserstoff, 3 Prozent Künstlicher Mensch im Film*: „Das hielte ich für Sünde“ tierung für das Hier und Jetzt. Stickstoff. SPIEGEL: Wir würden uns Sorgen um Ihre SPIEGEL: Was macht Sie eigentlich so sicher, SPIEGEL: Wir haben einen anderen EinEhe machen. dass Ihre christlichen Ewigkeitsbilder die druck: Die Kirchen verlieren im Westen Bedford-Strohm: Mit Recht! Weil Sie genau richtigen sind – und nicht die der Buddhis- an Bindekraft, weil sie weiterhin vom Paradies träumen – während die Menschen wissen, dass in einem solchen Zusammen- ten oder Muslime? hang die Frage der chemischen Zusam- Bedford-Strohm: Weil ich an den Gott glau- lieber an der Unsterblichkeit im Diesseits mensetzung meiner Frau schlicht und ein- be, der sich in einem Menschen gezeigt arbeiten, ohne Umweg über den Himmel. fach keine Rolle spielt. In unseren Bezie- hat, der am Kreuz mit einem Schrei der Bedford-Strohm: Was Sie über die Arbeit an hungen geht es um Liebe, Emotionen, Verzweiflung gestorben ist. Das ist für der Unsterblichkeit im Diesseits sagen, ist nicht um Kohlenstoff und Wasser. mich einmalig und nicht in anderen Reli- richtig beobachtet. Wir haben ein Progionen zu finden. Deswegen bin ich wirk- blem, unsere Endlichkeit anzunehmen. Ich SPIEGEL: Was wollen Sie damit sagen? Bedford-Strohm: Wer nur glaubt, was er em- lich von Herzen überzeugt von der Wahr- habe als Professor eine Kindervorlesung pirisch messen kann, um den würde ich heit der christlichen Tradition. Ich finde übers Sterben gehalten und die Kinder gemir wirklich Sorgen machen: Wesentliche es absolut faszinierend, dass dieser Gott fragt, wer schon mal eine Leiche gesehen habe. Nur zwei haben sich gemeldet. Einer Dimensionen des Lebens, die den Reichhatte eine Moorleiche im Museum gesetum unserer Existenz ausmachen, würden hen, ein anderer kam aus Kasachstan, wo ihm verloren gehen. Tote noch aufgebahrt werden. Wir haben SPIEGEL: Die meisten Kulturen haben Ideen den Tod aus dem Alltag verdrängt und zur Unsterblichkeit entwickelt. Schon das müssen neu lernen, ihn wieder in unser legt nahe, dass es sich um Ausflüchte Leben zu integrieren. handelt, tröstliche Visionen, um über den Schrecken des Todes hinwegzukommen. SPIEGEL: Transhumanisten wie Julian Huxley haben schon vor 60 Jahren den GeBedford-Strohm: Das Wort Ausflüchte ist danken formuliert, dass der Mensch seine schon wieder eine Wertung. Aber weil es menschliche Natur überwinden müsse. tröstet, muss es nicht falsch sein. Sie gehen Anders gesagt: Das lästige Altern und Sterdavon aus, dass es die Wahrheit gibt, die ben gehören abgeschafft. man beweisen kann. Dass Sie intellektuell auf sicherem Grund sind, wenn Sie sagen, Bedford-Strohm: Die Überwindung von Leid dass da nichts kommt. Und alle anderen ist natürlich wunderbar. Man kann der müssen sich rechtfertigen. Das genau ist Medizin nicht dankbar genug sein, wenn aus meiner Sicht falsch, denn die Wahrsie Leben menschenwürdig verlängert. Wir heitsfrage im Hinblick auf das Nichts ist dürfen aber nicht krampfhaft an einer genauso offen wie im Hinblick auf das Le* Boris Karloff in „Frankenstein“ (1931). ben nach dem Tod.
„Wer nur glaubt, was er empirisch messen kann, um den würde ich mir wirklich Sorgen machen.“
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Existenz festhalten, die immer endlich ist und bleiben wird. SPIEGEL: Aber wo ziehen Sie die Grenze? Bedford-Strohm: Das ist eine grundsätzliche Frage, die jeder, der zum Beispiel Krebs im Endstadium hat, für sich selbst beantworten muss: Wie lange kämpfe ich, und wann nehme ich meine Endlichkeit an? Man sollte da von außen keine schönen Reden halten. Aber als Pfarrer weiß ich aus der Begleitung von Sterbenden und ihren Angehörigen, dass Menschen sehr gute Erfahrungen machen, wenn sie Ja zum Sterben sagen und bewusst Abschied nehmen. SPIEGEL: Und wenn es eine Pille gegen das Altern gäbe, wie Wissenschaftler nun versprechen? Wenn wir unser Leben fast endlos verlängern könnten? Bedford-Strohm: Ich kann mir nur schwer vorstellen, wie die Welt aussähe, wenn wir das Altern derart verschieben könnten. Wie würden wir dann zusammenleben? Ab welchem Durchschnittsalter würde eine Gesellschaft nicht mehr funktionieren? Das ist nichts, was man hier am Schreibtisch, schon gar nicht qua theologischer Autorität, irgendwie verkünden kann. Aber die Gefahren müssen wir rechtzeitig diskutieren. SPIEGEL: Was hätten Sie denn dagegen, wenn Sie 200 Jahre alt werden könnten? Bedford-Strohm: Das sind naturwissenschaftliche Versprechungen, die ohnehin nicht in Erfüllung gehen werden. In der Debatte ums therapeutische Klonen hat man uns um die Jahrtausendwende auch schon mal gezüchtete Ersatzorgane für die nahe Zukunft versprochen. Ich habe sie noch nicht gesehen. SPIEGEL: Und wenn die Ewigkeitsformel doch eines Tages gefunden wird? Bedford-Strohm: In der Schöpfungsgeschichte gibt es dazu etwas Weises. Am Ende werden Adam und Eva aus dem Garten Eden vertrieben und die Cherubim vors Paradies gestellt – sie sollen den Eingang bewachen. Warum? Weil im Paradies nicht nur der Baum der Erkenntnis steht, sondern auch der Baum des Lebens. Offensichtlich schützen die Cherubim Adam und Eva davor, auch noch von diesem Baum zu essen und so unsterblich zu werden. SPIEGEL: So ein Pech. Bedford-Strohm: Im Gegenteil. Das ist ein Akt der Liebe Gottes. Unsterblich zu sein ist für mich keine gute Vorstellung. SPIEGEL: Wenn Bioniker, Genetiker, Informatiker versuchen, die Schöpfung zu verbessern – ist das für Sie Gotteslästerung? Bedford-Strohm: Wenn wir die Perfektion des Menschen anstreben, hat das Auswirkungen darauf, wie wir mit Menschen umgehen, die schwach sind, die leiden. Wir verlieren dann unsere Barmherzigkeit. SPIEGEL: Nutzen Sie doch mal Ihre Autorität als Bischof. Ist es Sünde, wird Gott he-
Bedford-Strohm beim SPIEGEL-Gespräch* „Gefahren rechtzeitig diskutieren“
rausgefordert, wenn Wissenschaftler eine Pille für die Ewigkeit suchen? Bedford-Strohm: Jedenfalls gibt es da eine Einstellung, die die Selbstbegrenzung des Menschen, die mit dem Glauben an Gott verbunden ist, ignoriert. SPIEGEL: Sie drücken sich um unsere Frage. Hat die Kirche etwa den Begriff Sünde abgeschafft? Bedford-Strohm: Das Problem mit diesem Wort ist, dass es moralistisch geprägt ist. Ich möchte nicht, dass hier isoliert steht: Wissenschaftler, die an Ewigkeitsformeln forschen, sind Sünder. Wir sollten auch definieren, was Sünde heißt: nämlich die Selbstabschneidung des Menschen von Gott. SPIEGEL: Im Silicon Valley tritt, wenn wir auch mal bildlich sprechen dürfen, Google an die Stelle Gottes. Forscher wollen das Gehirn durch eine digitale Kopie im Computer verewigen. Fänden Sie das nicht reizvoll – alle Ihre Gedanken auf ewig abrufbar? Bedford-Strohm: Definitiv nicht. SPIEGEL: Und wenn wir noch Ihre Emotionen mit reinpacken, alles auf einem Chip? Bedford-Strohm: Biografien entwickeln sich, und sie sind von ihren Beziehungen zu anderen Menschen geprägt. Solche Computerparks wären der Versuch, eine Kopie anzufertigen von etwas, das nur im Original lebt. SPIEGEL: Vor Kurzem sorgte eine Frau für Aufsehen, die ihren verstorbenen Freund als Chatroboter quasi wieder zum Leben erweckt. Bedford-Strohm: Grauenhaft. Das hielte ich tatsächlich für Sünde, dass der Mensch versucht, einen anderen Menschen zu erschaffen, nach seinem Bilde. Er würde sich an die Stelle Gottes setzen, indem er sich selbst zum Schöpfer von Leben macht. SPIEGEL: Einen anderen Ewigkeitsversuch hat der Psychologieprofessor James Bedford schon vor 50 Jahren unternommen, als er seinen Leichnam einfrieren ließ. In der Hoffnung auf ein neues Leben, wenn die Medizin es eines Tages erlaubt. Bedford-Strohm: Das alles sind doch nur Symptome für den verzweifelten Versuch, vor der Endlichkeit davonzurennen. Wir * Mit den Redakteuren Frank Hornig und Jörg Schindler im EKD-Büro in Berlin.
dürfen nicht Gott spielen, sonst landen wir im Unheil wie beim Turmbau zu Babel. SPIEGEL: Wie hat es Jesus denn angestellt, als er Lazarus von den Toten aufweckte? Bedford-Strohm: Diese Geschichte ist so prominent, weil anschaulich beschrieben wird, wie er mit Leichentüchern bekleidet aus dem Grab aufersteht. Die Erzählung fasziniert Menschen immer wieder aufs Neue, weil sie zeigt, dass Jesus den Tod zu überwinden vermag. Der Tod hat nicht das letzte Wort. Darum geht es. Einen Anspruch auf Plausibilität im Sinne heutigen biochemischen oder naturwissenschaftlichen Wissens erhebt die Erzählung nicht. SPIEGEL: Nehmen Sie Wissenschaftler, die das Altern und Sterben überwinden wollen, überhaupt als Konkurrenz wahr? Bedford-Strohm: Man kann sich schon fragen, ob sich hinter dem Denken mancher Internetgurus nicht ein religiöser Anspruch versteckt. Nämlich wenn sie das Überwinden der Endlichkeit mit religiösem Pathos verkünden. Dann sind es zumindest konkurrierende Weltanschauungen, das würde ich schon sagen. SPIEGEL: Religionen haben mit ihren Jenseitsbildern Forschungen zum ewigen Leben doch erst verursacht und beflügelt. Stimmen Sie zu, dass Sie und die Kirche gegenüber dem wissenschaftlichen Denken momentan in der Defensive sind? Bedford-Strohm: Ich wage mal zu behaupten, dass Sie kaum jemanden finden werden, der aus den Versprechungen des Silicon Valley irgendeinen Trost für seine persönliche Lebenssituation gewinnt. Ein Mensch, der konfrontiert ist mit der Endlichkeit, braucht Sprache für seine Abgründigkeitsgefühle, für seine Verzweiflung. Wenn wir als Kirche dann bei den Menschen sind, erfahren sie Zukunft. Und nicht durch irgendwelche Allmachtsfantasien im Silicon Valley. SPIEGEL: Sollte die Wissenschaft eines Tages den Unsterblichkeitscode finden, wäre das dann das Ende der Religion? Bedford-Strohm: Das Leben wird uns geschenkt, wir haben darüber keine Kontrolle. Versuche, sich selbst der Grundlagen des Lebens zu bemächtigen, gehören in die Schranken gewiesen. SPIEGEL: Verstehen wir Sie richtig: Würden Sie ab einer bestimmten Grenze für ein Forschungsverbot plädieren – bis hierhin und nicht weiter? Bedford-Strohm: Allerdings. Beim Klonen haben wir ein solches Verbot ja schon erreicht. Es stimmt nicht, dass die Wissenschaft sowieso macht, was sie will. Wir brauchen zivilgesellschaftliche Diskussionen über die Ziele und Methoden der Forschung, und diese Diskussionen müssen Konsequenzen haben. SPIEGEL: Herr Ratsvorsitzender, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. DER SPIEGEL 16 / 2017
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QUINT & LOX / VARIO IMAGES
Daguerreotypie eines toten Säuglings, um 1860, Leiche Lenins: Als ruhte er bloß
Verdammte Ewigkeit Essay Warum wir den Tod brauchen, um unser Leben gut zu leben
Von Nils Minkmar
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ir sind weit gekommen. Schon sind die ersten Kinder mit drei biologischen Elternteilen geboren worden. Mit wenigen Gesten können wir Bilder von Toten aufrufen, können Michael Jackson oder Amy Winehouse singend und tanzend bewundern, jünger und frischer als wir selbst. Bluttransfusionen, Kernspintomografien, Organtransplantationen, all das sind Praktiken, die zur Routine jedes Uniklinikums gehören. Vom Sofa aus bestellen wir Waren aus China und erlauben uns einen mittleren Wutanfall, wenn sie nicht binnen kürzester Frist unbeschädigt zur Wohnungstür gebracht werden. Wir halten es für eine Zumutung, wenn im Zug keine Internetverbindung zustande kommt oder im Wald ein Funkloch klafft. Bald gehorchen uns Geschwader von Drohnen, um Brötchen vom Bäcker zu holen, die Katze vom Baum oder rund um die Uhr über den Kindern zu schweben. Wir überwinden Grenzen, die für alle Menschen, die vor uns diesen Planeten bewohnten, so unabänderlich schienen wie der Lauf der Sterne und der Wechsel der Jahreszeiten. Über Jahrhunderte hätten auch vernünftige Vorfahren für solche Phänomene nur einen einzigen Begriff verwendet: Zauberei. Wir nennen es Alltag. Warum also sollten wir die wenigen Grenzen akzeptieren, die uns noch einengen? Warum kombinieren wir nicht unsere gewaltige Rechenpower mit virtuosem Genom-Editieren und überwinden noch die letzte Grenze, den Tod? Er steht jedem vor Augen. Manchmal bedrohlich nahe, dann wieder undeutlich fern, verborgen im Nebel dessen, was wir alles nicht wissen. Wer grübelt, wenn er einer Beerdigung beiwohnt, nicht über das Rätsel des Todes? Und wie oft möchte man sich nicht fügen, sondern ballt die Faust in der Tasche, vor Wut. Der Himmel, also die Vorstellung eines erlösten Lebens in göttlicher Obhut, hat keine Konjunktur mehr – das Paradies scheint nur noch in der Werbung zu existieren. Und wenn einer sich danach sehnt, dann oft genug im Kontext einer furchtbaren irdischen Tat, um mit spektakulären Verbrechen eine Art Eintrittskarte zu kaufen. Man hat schon immer mit dem Tod gehadert. Jede neue Apparatur, jedes neue Verfahren wurde auch mal darauf getestet, wie es in Bezug auf das Drama des Todes einge-
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setzt werden könnte. Half der Magnetismus bei der Kontaktaufnahme mit bestimmten Seelen oder hielt diese Kraft länger lebendig? Als Daguerreotypien im 19. Jahrhundert in Gebrauch kamen, ließen trauernde Eltern Porträts ihrer verstorbenen Kinder anfertigen, im Stile der ersten Familienporträts. Als könnte eine Abbildung der Leiche die Trauer lindern. Davor war man bereits in der Lage, durch Stromstöße die Leichen oder Gliedmaßen von Tieren zu Bewegungen zu reizen. Mary Shelley hat das im Sommer 1816 weitergedacht; ihr „Frankenstein“ ist bis heute nicht als Buch über geglückte Experimente bekannt, sondern als früher Horrorroman: weil das Herumdoktern an Kadavern, das Zusammenfügen hybrider Wesen und die elektrische Stimulation von organischem Gewebe sich nicht beherrschen lassen. Seit Frankenstein wissen wir: Solche Versuche verändern auch den, der sie unternimmt.
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icht immer wurde das in der Moderne so wachträumend und romantisch zögernd beschrieben wie bei Mary Shelley. Ganz im Gegenteil: Radikal moderne Bewegungen nutzten einen emphatischen Totenkult, um die Gesellschaft fundamental zu erschüttern und das deutlich zu machen, um das Versprechen – oder wie wir heute wissen: die Drohung – eines neuen Menschen so zu demonstrieren, dass es auch noch der Letzte kapiert. Ein Symbol dieser Versuche ist noch zu besichtigen: der balsamierte Leichnam des Gründers der Sowjetunion, Lenin. Er ruht bis heute in seinem Mausoleum an der Mauer des Kreml. Ganze Generationen von Wissenschaftlern waren seit seinem Tod 1924 damit beschäftigt, seinem Aussehen eine gegenwärtige, wie lebendige Qualität zu verleihen. Die Struktur des Körpers sollte beibehalten werden, das Fettgewebe wurde nach und nach ersetzt, die Haut immer wieder mit einer speziellen Lösung getränkt. Den Sowjetführern, insbesondere Stalin, ging es darum, dass Lenin seine Gestalt bewahre, seinen Teint und den Eindruck von Frische – als ruhte er bloß. Auch Ho Chi Minh, Kim Il Sung und Kim Jong Il wurden solchen Behandlungen unterzogen – wie könnte man deutlicher zeigen, dass große Männer die Geschichte in völlig
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neue Bahnen lenken können, als mit der Ausstellung ihrer stets frischen Leichname? Und wie mächtig müssen dann erst die Ideen, Lehren und Prinzipien der Toten sein? Die Symbolik solch einer Inszenierung transportiert, wie jede Grenzverschiebung zwischen Diesseits und Jenseits, immer auch eine höchst irdische, eine politische Botschaft.
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eder stirbt – diese Erkenntnis ist nicht nur der Beginn aller Philosophie, sie steht auch am Ursprung von Familie, Gesellschaft und der Kultur. Dass wir auf eine gewisse Art zu leben haben, dass es wichtig ist, für Kinder und Partner zu sorgen, Vorsorge zu treffen, Schutz zu organisieren, dass wir Werte entwickeln und uns nach ihnen richten werden – all diese Überlegungen werden nur im Wissen um den stets möglichen eigenen Tod zu Verbindlichkeiten. Erst die Möglichkeit des Todes, der Schrecken, der uns in die Glieder fährt, wenn jemand plötzlich stirbt, verwandelt unsere vagen Tagträume darüber, wie man leben soll, in eine To-do-Liste. Die Brutalität und Anarchie des Todes führt dialektisch zur Erfindung von Institutionen, zur Formulierung von Werten – so werden wir zu sozialen Wesen, die vorsorgen, die Geschichten erzählen und Rituale erfinden, um zu trauern, sich zu erinnern. Die bürgerliche Gesellschaft ist so entstanden. Einer der zentralen Texte dazu stammt von Herodot. Sein Protagonist ist der Vater der athenischen Verfassung, der weise Solon. Der noch heute sprichwörtliche Krösus hatte ihn durch seine Paläste und Gärten führen lassen und ihm in frühem Donald-Trump-Stil sein ganzes Bling-Bling präsentiert. Dann stellte er dem berühmten Gesetzesmacher eine Frage, die diesen in die Bredouille brachte: Ob er, Solon, der so weit gereist sei, einen Menschen getroffen habe, der unter allen anderen der glücklichste war? Krösus fragte das, bemerkt Herodot, in der Absicht, selbst als der glücklichste genannt zu werden. Solon, und das war nun die Bredouille, war einerseits der Gast des Krösus, wurde verwöhnt und wollte sich andererseits aber nicht einschleimen. Er dachte nach und gab eine sachliche Antwort: Er nannte Tellos, einen Bürger Athens. In heutigen Begriffen einen Nobody – der noch dazu nicht mehr am Leben war. Macht, Geld und Ruhm waren es nicht, die diesen Tellos auszeichneten, aber was dann? Krösus staunt, zwischen amüsiert und eifersüchtig, und hakt nach. Solon entwirft dann in wenigen Sätzen das bis heute wirksame Programm bürgerlicher Tugenden samt passendem sozialem Glücksbegriff: Tellos lebte in der Blüte seiner Stadt, hatte eine Frau, ein Auskommen, gelungene Kinder. Besonders aber wurde das Leben des Tellos durch den Tod: Er griff in eine Schlacht dergestalt ein, dass seine Heimat, Athen, den Sieg davontrug. Dabei kam er ums Leben, und die Stadt bestattete ihn auf öffentliche Kosten und ließ ihm große Ehre zuteilwerden. Damit skizziert Solon das bürgerliche Ideal der Mäßigung, das zu Geld und Macht des Despoten eine Alternative entwirft. Der Tod wird genutzt, um dem Leben einen sozialen Sinn zu geben. Die Vorstellung des medizinisch ermöglichten ewigen Lebens ist das umgekehrte Projekt: den Menschen in eine permanente Gegenwart zu befördern. Es ist der paradoxe Wunsch danach, den Menschen von der einen Qualität zu befreien, die uns erst zu Menschen macht, nämlich dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit. Ein Wesen, das nie endet, wäre kein Mensch mehr, denn die Unvollkommenheit, die Zerbrechlichkeit, die historische Bedingtheit sind unsere konstitutiven Merkmale. Dass wir Grenzen erfahren, ist der Kern menschlicher Erfahrung.
Über was würde man unter tausendjährigen QuasiMumien reden, die noch einmal tausend Jahre Langeweile vor sich haben? Wie freut man sich über das fünfhundertste eigene Kind, und was empfindet man beim Jawort der dreihundertsten Ehe? In Wahrheit werfen uns solche Gedankenspiele schnell auf das zurück, wovon sie abzulenken suchen. Wir sind Wesen, die nach einer Perfektion streben, die uns nicht gegeben ist. Darum versuchen jedes Jahr Sportler, sich als Ironmen und -women zu beweisen, als wäre nicht die verführerische Weichheit und Wärme unserer organischen Materie unser hervorstechendstes Merkmal. Darum optimieren sich gesunde und glückliche Menschen immer weiter, halten Diät, kaufen Wundercremes, buchen Trainingsstunden und Seminare – es geht immer noch besser. Und selbst wer schon reich, berühmt und den ganzen Tag von Lobhudlern umgeben ist, könnte versuchen, sich wie in Don DeLillos Meisterwerk „Null K“ tiefkühlen zu lassen, um sich vor irdischer Vergänglichkeit zu schützen – das perfekte Leben endet als Tiefkühlware. Die erhoffte Befreiung von den letzten irdischen Grenzen wird nicht gelingen, denn die Dauer des Lebens verändert nicht seine Qualität, nicht, wie wir es empfinden. Das Alter, die Zahl der schon gelebten und die unbekannte Zahl der noch zu lebenden Jahre sind nur wenige unter vielen Faktoren, die die Conditio humana bestimmen. Wer es sich auf der Erde in siebzig Jahren nicht nett macht, dem werden auch achthundert weitere Jahre voller Nachbarschaftsklagen, Ehezwist und Meckern über seine unzulänglichen Kollegen nicht weiterhelfen.
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elbst als attraktive Alte mit XXL-Lebenserwartung werden wir uns im Dunkeln mit dem Zeh am Bett stoßen und vor Liebeskummer weinen. Wir werden auch dann noch vielfältig beschränkt und von schwankender Klarheit sein. Das Ende des Lebens mag in weiter Ferne sein, aber das Rätsel bleibt ungelöst, der Schock der Geburt unberührt. Was mache ich hier? – die existenzialistische Grundfrage – wird auch dann nicht weniger drängend, wenn man die Lebensdauer einer Riesenschildkröte erwarten darf. Daran, dass wir Mängelwesen sind und auf Erden irgendwie nur halb zu Hause, dass wir Kleidung, Nahrung, Wasser und Gesellschaft brauchen, dass wir immer nur die Hälfte verstehen und mindestens so viel zerstören, wie wir errichten, wird nichts besser, wenn wir open end leben. Nach wie vor werden sich Menschen die Haare raufen wegen der Zumutungen dieses seltsamen Lebens. Genau in der Verzweiflung über erneutes Misslingen – wieder entlassen, wieder verlassen, wieder verloren – sind wir nah an der Ewigkeit: Der Ärger über die irdische Beschränktheit und unsere ganz private Bescheuertheit vereint uns Menschen durch alle Zeiten. Es ist mitnichten so, dass der Tod die einzige Grenze wäre, die wir vor uns haben. Dafür gibt es genug zu forschen, zu organisieren, zu verbessern, denn Kinder sterben noch an Hunger, an längst bekannten, nur unzulänglich behandelten Infektionen und ganz gewöhnlichen Kriegen und Verbrechen. Und auch wenn die medizinische Spitzenforschung, die sich einer effizienteren Bekämpfung von Krebs und anderen lobenswerten Zielen widmet, im Namen eines fortschrittsoptimistischen Humanismus unbedingt zu unterstützen ist, bleibt ein Ziel ebenso wichtig: das Leben, in das man, ohne danach verlangen zu können, geboren wurde, zu seinem eigenen zu machen. Es wirklich zu leben und sich – so gut es geht – daran zu freuen. Denn in solcher Lebensfreude, in Euphorie und Zufriedenheit, findet wiederum der Tod seine Grenze. I DER SPIEGEL 16 / 2017
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Schule
Länder müssen Abituraufgaben ändern Tresorknacker legen Schwachstellen des neuen Prüfsystems offen. Ein Einbruch in einer Stuttgarter Schule führt dazu, dass mindestens sechs Bundesländer Teile der schriftlichen Abiturprüfungen in Mathematik und Englisch austauschen müssen. Neben Baden-Württemberg sind Hamburg, Bayern, Brandenburg und Thüringen betroffen. Berlin muss rund 10 000 Aufgabenhefte für die Grund- und Leistungskursprüfungen in Mathematik einstampfen. Unbekannte waren in ein Gymnasium im Stuttgarter Stadtteil Weilimdorf eingedrungen. Sie knackten einen Tresor und öffneten einen versiegelten Umschlag mit den Prüfungsaufgaben. Das Kultusministerium in Baden-Württemberg informierte das Berliner
Kriminalität
Zehn Prozent weniger Einbrüche Zum ersten Mal seit zehn Jahren ist die Zahl der angezeigten Wohnungseinbrüche in Deutschland zurückgegangen. Nach unveröffentlichten Zahlen der Polizeilichen Kriminalstatistik wurde im Jahr 2016 rund 151 000-mal eingebrochen, das ist ein Rückgang 24
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von knapp 10 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Damals wurden 167 000 Wohnungseinbruchdiebstähle gezählt. Besonders stark sanken die Zahlen in Nordrhein-Westfalen, dort meldete das Landeskriminalamt einen Rückgang um 15,7 Prozent auf knapp 52 600 Fälle. Auch in Hamburg, im Saarland und in Hessen nahm die Zahl der Einbrüche im zweistelligen Pro-
Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB), dieses dann die anderen Bundesländer. Das IQB entwickelt die Aufgaben, die die Länder aus einem gemeinsamen Pool entnehmen können. Gleich im ersten Jahr des länderübergreifenden Abiturs legt der Einbruch die Schwachstellen des Systems offen. „Es ist von großer Bedeutung, dass die Aufgaben bis zum Beginn der Prüfungen nicht bekannt werden“, sagt ein Sprecher der Kultusministerkonferenz. „Dafür tragen die Länder die Verantwortung.“ Als Ersatz verwendet die Mehrzahl der betroffenen Ministerien nun landeseigene Aufgaben – wie vor der Einführung des Pools. fri, olb
zentbereich ab, knapp 10 Prozent waren es in Baden-Württemberg. Deutlich gestiegene Einbruchszahlen meldeten dagegen Sachsen-Anhalt und Sachsen. Vielerorts wurden in den vergangenen Jahren Sonderkommissionen zur Einbruchsbekämpfung gegründet oder Computerprogramme angeschafft, die Prognosen über TatortSchwerpunkte ermöglichen.
Zudem hat der Staat die Förderung des Einbruchschutzes ausgebaut. Gleichwohl liegt die Zahl der Einbrüche nach wie vor deutlich höher als vor zehn Jahren: 2006 wurde nur rund 106 000-mal eingebrochen. Auch die Aufklärungsquote ist bei Wohnungseinbrüchen immer noch niedrig, sie liegt im Bundesdurchschnitt unter 20 Prozent. mab, wow
Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
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Abi-Prüflinge im bayerischen Gröbenzell
Deutschland Bildung
Zugeständnis an Heckler & Koch
Schulz-Plan würde Milliarden kosten
Das Verteidigungsministerium macht bei einem wichtigen Beschaffungsprojekt erneut Zugeständnisse an die Rüstungsindustrie: Das neue, 18 000 Euro teure Maschinengewehr der Bundeswehr braucht nicht so präzise zu schießen wie ursprünglich verlangt. Das Ministerium hat den Liefervertrag des MG5 im Dezember kurzerhand geändert. Demnach dürfen nach einem Rohrwechsel die Einschläge bei Einzelfeuer doppelt so stark vom angepeilten Ziel abweichen wie vorgesehen. Das Ministerium bekommt für die Vertragsänderung einen Preisnachlass von dem Waffenfabrikanten aus Oberndorf am Neckar. Die Kosten für die Lieferung von zunächst gut 7000 Gewehren, die sich um zwei Jahre verzögert hat, sind aber wegen technischer Änderungen um 5,7 Millionen Euro auf 131 Millionen Euro gestiegen. Als Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) vor zwei Jahren das Sturmgewehr G36 von Heckler & Koch wegen Präzisionsmängeln ausmusterte, versprach sie, die Industrie künftig unerbittlich zur Einhaltung von Qualitätszusagen zu verpflichten. „Offensichtlich hat das Ministerium nicht viel aus der G36-Affäre gelernt“, kritisiert der Grünen-Verteidigungsexperte Tobias Lindner. gt, mgb
Arbeit des Bamf erledigen. Verfahren zögen sich oft unnötig in die Länge, weil Anfragen von Verwaltungsrichtern trotz mehrfacher Erinnerungen unbeantwortet blieben. Justizstaatssekretäre kritisierten auch, dass die Prozessreferate der Behörde noch immer nicht genügend zusätzliches Personal hätten, obwohl seit Langem mit einer Prozessflut gerechnet werden musste. Allein Nordrhein-Westfalen hat 59 zusätzliche Richterstellen geschaffen, um die vielen Asylverfahren zügig bearbeiten zu können. bas
Die Absicht des SPD-Kanzlerkandidaten Martin Schulz, im Falle eines Wahlsiegs die staatlichen Bildungsangebote von Gebühren zu befreien, könnte bis zu fünf Milliarden Euro pro Jahr kosten. Dieser Betrag werde wohl fällig, wenn Eltern und Studenten nicht mehr für Kitas und Unis zahlen müssten und auch Berufsausbildungskurse und Meisterprüfungen für Azubis und Handwerker kostenlos wären, heißt es in der Parteispitze. Da der SPDChef auch mehr Sozialarbeiter in Schulen und einen Rechtsanspruch auf Ganztagsbetreuung angekündigt hat, könne es noch teurer werden. Ungeklärt ist außerdem, wer die Kosten übernähme, wenn die Gebühren wirklich entfielen. Es handelt sich größtenteils um Angebote der Kommunen und Länder. Vermutlich müsste sich der Bund stärker als bislang an den Kosten beteiligen. böl
es in einem Beschluss des Bundesfachausschusses Europapolitik, der ins Programm der Partei für die Bundestagswahl eingehen soll. Statt auf nationaler Ebene müsse eine Mindest-Sperrklausel europaweit festgeschrieben werden. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte eine
deutsche Regelung Anfang 2014 für nichtig erklärt, weil diese gegen die Chancengleichheit der Parteien verstoße. Die CDU fordert zudem, dass die deutsche Sprache in der EU gleichrangig mit dem Englischen und dem Französischen behandelt werden soll. ran
DANIEL KARMANN / DPA
Bundeswehr I
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Nürnberg
Flüchtlinge
Gerichte kritisieren Bundesamt Die oft unzureichende Arbeit des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (Bamf) wird zunehmend zur Belastung für die Verwaltungsgerichte. Dies wurde bei einem Treffen der Justizstaatssekretäre von Bund und Ländern Ende März in Mainz kritisiert. Wohl um die Zahl der erledigten Verfahren in die Höhe zu treiben, würden Fluchtursachen nur unzureichend geprüft. Die Richter müssten in solchen Fällen die
EU-Parlament
CDU für Sperrklausel Die CDU will bei Wahlen zum Europäischen Parlament die Drei-Prozent-Hürde wieder einführen. Auf diese Weise solle ein transparentes und handlungsfähiges Parlament sichergestellt werden, heißt
Bundeswehr II
Die Marine will stärker mit Tunesien zusammenarbeiten. Das hat der deutsche Vizeadmiral Andreas Krause bei einem Besuch in dem nordafrikanischen Krisenstaat vereinbart. Der Inspekteur der Marine folgte der Einladung des Befehlshabers der tunesischen Seestreitkräfte und traf auch den Verteidigungsminis-
CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE / DPA
Deutsche Hilfe für Tunesien
Marinespezialkräfte der Bundeswehr
ter. Vor allem in drei Bereichen soll nun eine enge Kooperation geprüft werden: bei den Tauchern, der Marineakademie und der Tauchmedizin. Gedacht ist an eine gemeinsame Ausbildung und den Austausch von Offizieren. Experten der Marine sollen nach Nordafrika reisen, um die Zusammenarbeit vorzubereiten. Tunesien beteiligt sich bereits jetzt an dem sogenannten Nato-MittelmeerDialog. ham DER SPIEGEL 16 / 2017
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Deutschland
Cannabis
besitzen rund tausend Patienten eine Sondergenehmigung zum Erwerb von Cannabis zu medizinischen Zwecken, ihr Jahresverbrauch lag nach BfArM-Angaben bei insgesamt 365 Kilogramm. Derzeit wird dieser Medizinalhanf importiert. Von 2019 an soll er auch in Deutschland geerntet werden. Die Cannabisagentur soll den Anbau steuern. cos
Starke Nachfrage erwartet
Amri
Einsatzbefehl von ganz oben Anis Amri, der Attentäter vom Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz, wurde offenbar von der Führungsebene des „Islamischen Staats“ (IS) gesteuert. Dies geht aus einem Hinweis der Vereinigten Arabischen Emirate an deutsche Sicherheitsbehörden vom 8. Januar hervor. Demnach soll Amri seinen Einsatzbefehl von einem Kader mit dem Kampfnamen Abu Baraa al-Iraki der IS-Or-
Zeitgeschichte
Keine Hilfe für DDR-Revoluzzer Wäre es nach dem Bau der Mauer zu einem Aufstand in der DDR gekommen, hätte die Bundesregierung nicht militärisch eingegriffen. Das belegt das bislang unbekannte Protokoll einer „streng geheimen“ Sitzung des Bundesverteidigungsrats, dem Vorläufer des Bundessicherheitsrats. Aus dem Papier, das im Bundesarchiv in Koblenz liegt, geht hervor, dass sich Kanzler Konrad Adenauer mit insgesamt 20 Ministern, Staatssekretären, führenden Militärs und Beamten am 30. August 1961 in seinem Haus in Rhöndorf traf. Es 26
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ganisation für „externe Operationen“ erhalten haben. Der Generalbundesanwalt (GBA) und das Bundeskriminalamt prüfen den Hinweis. Der Name des IS-Kaders ist den deutschen Behörden aus anderen Verfahren gegen als Flüchtlinge getarnte, mutmaßliche IS-Terroristen bekannt. Die Deutschen schätzen die Quelle des Hinweises aus dem Sicherheitsapparat der Emirate als zuverlässig ein. Kontakt zum IS soll Amri laut GBA ab spätestens 10. November 2016 gehabt haben. jdl, fis
ging um die Lage in Berlin. Zwei Wochen zuvor, am 13. August, hatte die DDR begonnen, eine Mauer zu
Cannabispflanze
Reichsbürger
einem Schreiben des Ministeriums vom vergangenen Mittwoch. Dies gelte etwa für „Verunglimpfungen speziell in digitalen Medien“. Die selbst ernannten Reichsbürger erkennen die Bundesrepublik nicht an, senden Schreiben voller Unfug an Ämter und überziehen Mitarbeiter mit unbegründeten Klagen. Ihr Ziel ist es, die Behörden lahmzulegen. Mitunter werden Beamte gefilmt und die Mitschnitte ins Internet gestellt. aul
Ministerium schützt Mitarbeiter Weil die Zahl der Beschwerden, Klagen und Angriffe von sogenannten Reichsbürgern auf Behörden und Beamte wächst, hat das Bundesinnenministerium den Rechtsschutz für seine Bediensteten ausgeweitet. „Die Fürsorgepflicht des Dienstherrn kann gebieten, Kosten für einen Rechtsschutz zu übernehmen“, heißt es in
bauen. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU) und Bundeswehr-Generalinspekteur Friedrich Foertsch
AP / SÜDDEUTSCHER VERLAG
Terrorismus
DAVID MCNEW / REUTERS
Die neue Cannabisagentur des Bundes rechnet mit einem rasanten Anstieg der Nachfrage nach Medizinalhanf. In den Jahren 2021 und 2022 will sie im staatlichen Auftrag je 2000 Kilogramm Cannabis in Deutschland anbauen lassen, wie aus Unterlagen zum Vergabeverfahren hervorgeht, die das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) erstellt hat. Rechnerisch entspricht die Jahresmenge dem Durchschnittsverbrauch von fast 5500 Patienten. Bislang
Adenauer 1961 in Westberlin
warnten vor militärisch angeblich weit überlegenen Sowjets. Foertsch schlug insgesamt 14 „Maßnahmen“ vor, Punkt 5 lautete: „Ablehnung einer militärischen Intervention bei einem Aufstand in der SBZ (gemeint: DDR –Red.), da ein grösserer und militärisch unterstützungswürdiger Aufstand im sowjetischen Aufmarschgebiet nicht möglich ist.“ Ein Eingreifen sei nur gerechtfertigt, wenn die Menschen im gesamten Ostblock rebellierten und zudem alle NatoMitglieder entschlossen seien, „diese Stunde militärisch zu nutzen“ – also de facto nie. Laut dem Protokoll stimmte Adenauer ausdrücklich zu. klw
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Deutschland
Weitermachen Anschläge Das Sprengstoffattentat auf den Bus von Borussia Dortmund hatte eine hohe Symbolkraft. Einige Spieler fühlten sich gezwungen, am nächsten Tag Fußball zu spielen, obwohl ihnen nicht danach zumute war.
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er Mannschaftsbus von Borussia Dortmund hat 480 PS und 33 Sitzplätze. Alle sind mit Leder bezogen. Es gibt einen Kühlschrank, WLAN, eine Satelliten-TV-Anlage. Ganz vorn sitzen die Trainer. Am vorigen Dienstag fährt der Bus abends um Viertel nach sieben am Mannschaftshotel des BVB in Dortmund-Höchsten ab. Das Team macht sich auf den Weg in Richtung Signal Iduna Park, die Arena, in der das Champions-League-Spiel gegen Monaco ausgetragen werden soll. Es ist dieselbe Strecke, die der BVB-Bus seit Jahren nimmt. Sie dauert gewöhnlich 20 Minuten. Diesmal endet die Fahrt früher, nach wenigen Sekunden. Als der Bus auf die Wittbräucker Straße fährt, explodieren drei Sprengsätze. Sie waren hinter einer Hecke abgelegt. Durch die Detonation wird der Mannschaftsbus schwer beschädigt. Die Sprengsätze, die eine Schlagkraft von mehr als 100 Metern haben, sind mit Metallstiften bestückt. Glassplitter und Metallteile der Bombe fliegen durch den Bus. Ein Metallstift bohrt sich in die Kopfstütze eines Bussitzes. Wohl nur wenige Zentimeter neben dem Kopf eines Spielers. Die Sportler reagieren instinktiv. Sie ducken sich in ihren Sitzreihen weg. Manche werfen sich auf den Boden. Einer ruft dem Busfahrer zu: „Fahr weiter, fahr weiter!“ Der Mittelfeldspieler Nuri Şahin guckt in das Gesicht seines Sitznachbarn Marcel Schmelzer. Später wird Şahin erzählen: „Ich werde Schmelles Gesichtsausdruck nie mehr im Leben vergessen. Wir haben so etwas schon oft im Fernsehen gesehen, es war immer weit weg. Und jetzt haben wir das am eigenen Leib erfahren.“ Marc Bartra, Dortmunds Innenverteidiger, wird durch eine zersplitterte Fensterscheibe am Arm und an der Hand verletzt, er muss operiert werden. Das geplante Spiel wird abgesagt, es folgen Sondersendungen im Fernsehen, die „Bild“-Zeitung berichtet am nächsten Tag auf vier Seiten, die Kanzlerin meldet sich zu Wort. Dass Fußball mehr ist als nur ein Spiel, weiß in Deutschland jedes Kind, jeder Politiker, und inzwischen wissen es auch die Feinde dieses Landes. Fußball ist eine Lei28
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denschaft, auf die sich die Gesellschaft auch in den Zeiten einigen kann, in denen sie sonst über vieles uneins ist. Ein Angriff auf dieses Bindeglied berührt deshalb die gesamte Gemeinschaft. Auch wenn es in Dortmund nur zwei Verletzte gab, so entfacht der Sprengstoff eine gesellschaftliche Wirkung, die weit über den BVB, den Fußball und seine Fans hinausgeht. Terroranschläge gelten selten einzelnen Menschen. Die Täter suchen fast immer symbolisch aufgeladene Ziele. Das können weltbekannte Gebäude sein. Das kann ein Fest zum Nationalfeiertag sein. Ein Weihnachtsmarkt. Auch Redaktionen oder Rockkonzerte sind Symbole. Weil sie für Meinungsfreiheit stehen oder für den Lebensstil des liberalen Westens. Bis Redaktionsschluss war völlig unklar, wer den Anschlag auf den Mannschaftsbus verübt hat, aber eines steht fest: Das Anschlagsziel hat große symbolische Bedeutung. Die Suche nach den Tätern gestaltete sich für die Ermittler zunächst frustrierend. Bei den kurz nach dem Anschlag identifizierten Tatverdächtigen fanden sich keinerlei Belege, dass sie an der Attacke beteiligt gewesen sein könnten. Die Wohnung des ersten Verdächtigen Abdullah al-Z. hatte die Polizei ohnehin nur durchsucht, weil er einen Regenschirm des Dortmunder Mannschaftshotels „L’Arrivée“ bei
Wie gehen geschulte SportGladiatoren mit Bomben, mit Terror, mit Todesangst um? sich hatte. „Weiß ich doch nicht, woher ich den gottverdammten Schirm habe“, schmetterte der Mann den Ermittlern in seiner Vernehmung entgegen. Ihn und einen seiner Brüder rechnen die Behörden dem islamistischen Spektrum zu. Er soll bereits im Sommer 2013 vorgehabt haben, sich in Syrien einer islamistischen Gruppe anzuschließen. Der zweite Tatverdächtige, der in Wuppertal wohnende Iraker Abdul Beset al-O., ist zwar inzwischen in Untersuchungshaft – aber nicht, weil er etwas mit dem Anschlag
zu tun hatte. Er war ins Visier der Behörden geraten, weil der Bundesnachrichtendienst Erkenntnisse über seine Tätigkeit beim „Islamischen Staat“ (IS) im Irak hatte. Zudem hatte seine Frau Angaben über ihn gemacht, nachdem er sie geschlagen hatte. Zuletzt hatte der Verfassungsschutz – ein paar Tage vor dem Anschlag von Dortmund – ein Telefongespräch belauscht, in dem ein Gesprächspartner des Irakers gesagt haben soll: „Der Sprengsatz ist fertig.“ Dass al-O. jetzt in Haft sitzt, hat also nur damit zu tun, dass die Bundesanwaltschaft ihm die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung vorwirft. Er habe von dem Anschlag über Facebook erfahren, sagte er den Fahndern: „Ich bin Fan des FC Barcelona, ich interessiere mich nicht so sehr für Dortmund.“ Damit begann die Puzzlearbeit der Fahnder von vorn. Fest stand bis Donnerstagabend wenig: Jemand mit Sachverstand muss die Sprengsätze mit Tötungsabsicht gebaut haben. Sie funktionierten, zeitgleich. Das ist nicht immer der Fall. Im Inneren der Bomben waren bis zu zehn Zentimeter lange Metallstifte verstaut – hätten
SASCHA SCHUERMANN / AFP
Polizisten vor dem BVB-Stadion beim Spiel gegen Monaco am Mittwoch: Puzzlearbeit der Fahnder
sie Menschen getroffen, es hätte zu schweren Verletzungen und Toten kommen können. Vermindert wurde die Explosion womöglich nur durch die Hecke, hinter der sie gezündet wurde. Auf den am Tatort aufgefundenen Bekennerschreiben fanden sich keine Fingerabdrücke. Analysten der Sicherheitsbehörden fiel auf, dass sich die Verfasser eines Vokabulars aus gleich drei Extremistenströmungen bedienten: von Links- und Rechtsextremen und von Islamisten. Das hieß für sie nur, dass der Täter noch nicht einmal zwingend ein Extremist sein musste. Der Hoffnungsschimmer der Ermittler besteht darin, dass sie am Tatort nicht nur den verwendeten Zünder fanden. Es fanden sich auch Teile eines Empfangsmoduls. Das weist darauf hin, dass der Sprengsatz per Handy ferngezündet wurde – und legt damit die Vermutung nahe, dass der Täter ein Mobiltelefon verwendete. Doch auch das muss nicht zwingend zum Ziel führen. In Ermittlungsverfahren können sich binnen Stunden heiße Spuren als nutzlos erweisen und andere völlig unverhoffte Hinweise zum Erfolg führen.
Während die Ermittler überwiegend im Dunkeln tappen, muss das Berufsleben der Fußballer weitergehen, als wäre nichts geschehen. Matthias Ginter, 23, der im hinteren Teil des BVB-Busses saß, hat zum dritten Mal den Moment der Angst erlebt. Ginter ist ein deutscher Nationalspieler. Er stand an dem Tag der Anschläge von Paris auf dem Rasen des Stade de France, als davor Bomben explodierten. Er saß in dem Mannschaftsbus der Nationalmannschaft, der einige Tage später auf dem Weg zum Stadion in Hannover war. Irgendwann kam die Anweisung, man müsse umkehren. Terroralarm. Ginter ist seit fünf Jahren Profi. Er wurde 2014 in Brasilien Weltmeister. Er verdient sehr gutes Geld in Dortmund. Er ist keiner, der viel redet. Ein zäher Typ. Robust. Einer, mit dem man eine Schlacht auf dem Fußballplatz gewinnen kann. Aber wie gehen junge Fußballprofis, geschulte Sport-Gladiatoren, die jedes Wochenende in vollen Stadien um den Sieg kämpfen, mit so was um – mit Bomben, mit Terror, mit Todesangst? Nach dem Anschlag auf den Bus des BVB entstand ein
Foto, das die Spieler und Betreuer der Mannschaft neben dem Bus am Straßenrand stehend zeigt. Man sieht leere Gesichter, nachdenkliche Gesichter. Man sieht Ginter mit hochgeschlagener Kapuze. Er tippt etwas in sein Handy. Auch Thomas Tuchel, der Dortmunder Trainer, ist auf dem Bild zu sehen. Er wirkt wie aus der Welt gerissen. Knapp 24 Stunden nachdem das Foto entstand, spielte der BVB gegen Monaco. Champions-League-Viertelfinale. Stadion ausverkauft. Große Emotionen. Bundesinnenminister Thomas de Maizière sitzt auf der Tribüne. Deutschland schaut zu. Es geht einfach weiter. Fußballer sind gedrillt, in Drucksituationen zu funktionieren. Aber kann man nach einem Attentat schlicht so weitermachen, sogar einen Tag später spielen, als wäre nichts geschehen? Als der Psychiater Mazda Adli, 47, Chefarzt der Fliedner Klinik in Berlin, davon erfuhr, dass das Spiel gleich am folgenden Tag ausgetragen werden sollte, da hat er gedacht: „Das ist eine ganz schön gewaltige Aufgabe für die Spieler. Es geht nicht DER SPIEGEL 16 / 2017
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„Es geht um viel mehr“ Interview Hans-Joachim Watzke, 57, Geschäftsführer von Borussia Dortmund, über den Umgang mit seinen Spielern nach dem Anschlag den Mannschaftsbus eines Bundesligisten – war ein solches Szenario für Sie je vorstellbar? Watzke: Nein, aber der Fußball hat eine große Bedeutung auf der ganzen Welt – deshalb ist klar, dass er auch im Fokus von Terroristen steht. SPIEGEL: Waren Sie nach dem Spiel gegen den AS Monaco bei der Mannschaft? Watzke: Ja, natürlich. Ich war sofort in der Kabine und habe jeden Spieler in den Arm genommen. Ich habe mich dafür bedankt, was jeder Einzelne unter diesen extremen emotionalen Belastungen für den Klub und auch für unsere demokratische Freiheit geleistet hat. SPIEGEL: Wie war die Atmosphäre in der Kabine? Watzke: Sehr bedrückend. Es war eine Herkulesaufgabe, der sich unsere Mannschaft gestellt hatte. Sie hat es außergewöhnlich gut gemacht. Als wir die Dimension des Anschlags erkannt hatten, da wussten wir, dass es jetzt in erster Linie nicht mehr um unsere Erfolgschancen in der Champions League gehen würde, sondern um viel mehr. SPIEGEL: Sie saßen nicht mit im Bus. Wie haben Sie von dem Anschlag erfahren? Watzke: Ich war schon im Stadion, als mich Christian Hockenjos (der Direktor für Organisation des BVB – Red.) informierte. Die Uefa hat dann sofort eine Krisensitzung einberufen. Das größte Problem war, dass wir schnell Entscheidungen treffen mussten, ohne wirklich die Ausmaße des Attentats zu kennen. Wir wussten zwar, dass in irgendeiner Weise ein Sprengkörper auf den Bus geflogen war, aber wir kannten keine Details. Auch nicht zur Verletzung von Marc Bartra. SPIEGEL: Wie schwierig war es für Sie, dass Sie nicht direkt vor Ort sein konnten? Watzke: Ich bin per SMS fortlaufend über die Situation am Bus informiert worden und wusste daher auch, dass bis auf Marc niemand verletzt war. Die Spieler waren in Sicherheit. Trotzdem war es wirklich eine der extremsten Situationen, die ich in meinem Leben erlebt habe. SPIEGEL: Wie viel Zeit hatten Sie und der Krisenstab für die Beratungen? Watzke: Wenig. Wir hatten die Zuschauer im Anmarsch und teilweise auch schon im Stadion. Wir mussten schnell 30
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ODD ANDERSEN / AFP
SPIEGEL: Herr Watzke, ein Anschlag auf
BVB-Geschäftsführer Watzke: „Jeden Spieler in den Arm genommen“
viele Entscheidungen, insbesondere im Sinne der Sicherheit, treffen. Die allererste Entscheidung war aber: Wir können heute auf gar keinen Fall spielen. Diese Position habe ich mit Vehemenz vertreten. SPIEGEL: Gab es von der Uefa Druck, das Spiel zeitnah nachzuholen? Watzke: Wenn man versucht, der Uefa den Schwarzen Peter zuzuschieben, ist das nicht korrekt. Am Ende des Tages gab es – insbesondere mit Blick auf den äußerst engen Spielkalender – einfach nur die Möglichkeit, das Spiel am Mittwoch nachzuholen. SPIEGEL: Gibt es bezüglich der Neuansetzung des Spiels Unstimmigkeiten zwischen Ihnen und der Mannschaft? Watzke: Zwischen mir und den Spielern ganz sicher nicht. Die Spieler haben jedes Recht zu sagen, dass sie unter Schock standen. Ich habe der Mannschaft schon am Mittwochmorgen vor dem Spiel klargemacht: Wenn einer sich
nicht in der Lage fühlt zu spielen, dann kann er das dem Trainer sagen. Und ich habe auch gesagt: Von uns hätte es vollstes Verständnis gegeben und jede Form der Unterstützung. Jede! SPIEGEL: Kann man in einer solchen Situation den Fokus überhaupt aufs Sportliche legen? Watzke: Ich habe den Spielern gesagt, dass es nicht um Resultate geht, sondern um mehr: um unsere Freiheit, um die Demokratie. Ich war glücklich, dass wir gespielt haben und das Zeichen setzen konnten, dass wir uns dem Terror nicht beugen. SPIEGEL: BVB-Trainer Thomas Tuchel hat die Uefa für die schnelle Neuansetzung offen kritisiert. Watzke: Man muss den unmittelbar Betroffenen einfach zugestehen, dass in einer solchen Stresssituation und nach einem solchen Spiel Emotionales geäußert wird. Da sollte man nicht jedes Wort auf die Goldwaage legen.
Deutschland SPIEGEL: Stand zur Debatte, das Spiel
wertet worden. Ich habe kurz überlegt, ob wir uns nicht ganz aus dem Wettbewerb verabschieden sollen. Aber dann wäre es für die Täter ein Sieg gewesen. SPIEGEL: Der Borusse Matthias Ginter ist nach dem Anschlag in Paris und der Länderspielabsage von Hannover nun schon zum dritten Mal in eine Situation mit einem möglichen terroristischen Hintergrund geraten. Wie steckt ein junger Mensch so etwas weg? Watzke: Da ist jeder anders. Die Spieler haben die Möglichkeit, den Anschlag auch psychologisch mit Experten aufzuarbeiten, und bekommen jede Hilfestellung von uns. SPIEGEL: Wie viel Glück hatte Ihre Mannschaft, dass nicht noch mehr passiert ist? Watzke: Nach dem Anschlag waren wir im Dauerstress, viele Menschen konnten nicht mehr schlafen und mussten im Minutenrhythmus Entscheidungen treffen. Wenn es ruhiger wird, werden wir alles sorgfältig analysieren. Grundsätzlich glaube ich aber: Wir hatten Glück, dass nicht mehr passiert ist – gerade wenn man sieht, wie professionell dieser Anschlag durchgeführt wurde. SPIEGEL: Gab es im Rahmen des Spiels am Mittwoch die Sorge, dass ein weiterer Anschlag passieren könnte? Watzke: Die Zusammenarbeit zwischen Verein, Polizei und Sicherheitsbehörden war überragend. Wir hatten das Gefühl, dass alles für unsere Sicherheit getan wird und auch alle kommunikativ an einem Strang ziehen. Ich habe am Mittwoch mit Bundesinnenminister Thomas de Maizière gesprochen, Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mich angerufen. Ich habe eine große Solidarität mit uns gespürt. Außerdem deuten die Bekennerschreiben darauf hin, dass man nicht explizit Borussia Dortmund schaden wollte. Es war vielmehr ein Anschlag auf die Bundesrepublik Deutschland. SPIEGEL: Werden Sie Ihre Sicherheitskonzepte verändern? Watzke: Wir werden alles auf den Prüfstand stellen und nach einer intensiven Analyse womöglich Veränderungen vornehmen. Aber alles hat seine Grenzen. Und wir können auch nicht jeden Spieltag das Hotel wechseln – zumal in Zeiten der sozialen Medien sowieso alles transparent ist. Und das Hotel von zehn Panzerwagen umstellen zu lassen geht auch nicht. Interview: Rafael Buschmann, Tim Röhn
mehr nur ums Spiel, sondern die Welt schaut mit ganz anderen Augen zu.“ Adli sagt, Psychiater hätten die Augenzeugen von Terroranschlägen befragt und dabei herausgefunden, dass „die Verarbeitungskapazität zwischen den Menschen extrem unterschiedlich“ sei. Es spräche aber einiges für die Entscheidung, das Spiel sofort nachzuholen: „Es ist gut, sich durch den Anschlag nicht komplett aus der Tagesordnung bringen zu lassen. Es hat für die Menschen und Fans etwas Beruhigendes, wenn sie sehen: Die machen weiter“ – auch wenn sich bei einigen Spielern mögliche Folgen wie Flashbacks oder Schlafstörungen erst mit zeitlicher Verzögerung zeigen könnten. Dann habe man es mit einer posttraumatischen Belastungsstörung zu tun. Der Psychiater Manfred Lütz, 63, Chefarzt am Alexianer-Krankenhaus in Köln, verweist auf die hohe symbolische Bedeutung des Fußballspiels. Sich der Situation zu stellen, das sei grundsätzlich nicht falsch. Papst Johannes Paul II., der im Mai 1981 auf dem Petersplatz in Rom niedergeschossen wurde, habe danach Audienzen wieder dort abgehalten. Viele Menschen kommen mit so einem Anschlag gut zurecht, Fußballer sind jung und deshalb eher nicht so stressanfällig. Aber sie werden sich daran gewöhnen müssen, Ziele von Anschlägen zu werden. Helmut Spahn, einst Sicherheitschef des Deutschen Fußball-Bundes, startet Anfang Mai als Sicherheitsdirektor des Weltverbands Fifa. „Wenn mich vor einer Woche jemand gefragt hätte, ob ich mir so etwas vorstellen kann, da hätte ich ‚Nein‘ gesagt“, erklärt Spahn, „bei meinen Risikobewertungen hatte ich einen Anschlag auf einen Mannschaftsbus nicht auf der Agenda. Daher war ich zwar nicht geschockt, aber schon mehr als überrascht.“ Denn es sei klar, dass der Sport besonders im Fokus von Terroristen stünde. Die Berichterstattung sei exorbitant groß, ideal für Terroristen: „Sie wollen unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung im Kern treffen und damit maximale Aufmerksamkeit erzielen.“ Haben Fußballprofis eine gesellschaftliche Verpflichtung, sich den Gefahren zu stellen? Sah die Dortmunder Vereinsführung die Spieler in irgendeiner Bringschuld im Kampf gegen den Terror? Zumindest kam es einigen Akteuren so vor, als sie die Rede des Vereinspräsidenten Reinhard Rauball vom Dienstagabend im Stadion noch einmal hörten. Der Ligaverbandschef und frühere SPD-Landesminister hatte nur 75 Minuten nach dem Angriff auf den Dortmunder Mannschaftsbus die Spielverlegung auf den Mittwoch begründet: Natürlich sei das „für die Spieler jetzt eine extrem schwierige Situation. Aber sie sind Profis, und ich bin davon
SASCHA SCHUERMANN / AFP
ganz abzusagen? Watzke: Dann wäre es gegen uns ge-
Minister de Maizière in Dortmund Wie ein Staatsakt
überzeugt, dass sie das wegstecken“. Es klang wie eine Aufforderung. Kein Borussen-Spieler, der im Bus gesessen hatte, kritisiert das Verhalten der Klubführung offen. Aber einige haben mit ihrem Umfeld, mit ihren Beratern gesprochen, manche dieser Agenten waren auch am Donnerstag noch bei ihren Klienten. Einige Spieler, die auch nach der nachgeholten Partie noch wie unter Schock wirkten, sehen sich offenbar benutzt von Uefa-Funktionären, die einen reibungslosen Wettbewerbsablauf sicherstellen wollten. Und von der Spitze des eigenen Vereins, die sich um des lieben Friedens willen nicht gegen die Uefa-Pläne einer schnellen Durchführung gestellt hätten. Und sich vielleicht auch in der Rolle der Antiterrorkämpfer im Dienste der Gesellschaft hätten präsentieren wollen. „Die Spieler fühlten sich als Betroffene alleingelassen und sich zum Objekt degradiert“, sagt der Freund eines der Businsassen. Vielleicht hätten die BVB-Offiziellen die Tragweite unterschätzt, als sie den Anschlag in einer ersten Stellungnahme am Dienstag als „Vorfall“ verniedlichten. Aber es kam im Nachhinein in der Mannschaft nicht so gut an. Junge Profis wie der Nationalspieler Julian Weigl, 21, hatten am Mittwochabend im Anschluss an die nachgeholte Partie Tränen in den Augen, einige waren aufgewühlt. Ein Teamkamerad erzählte, wie er nachts vor dem Spiel immer wieder aufgewacht sei, immer wieder den Knall der detonierten Sprengsätze im Ohr. Auch Trainer Thomas Tuchel sei schwer angeschlagen gewesen, er hatte unterhalb einer Stelle im Bus gesessen, an der die Scheibe einen Einschlag aufwies. Vor dem Spiel am Mittwoch hatte Tuchel im Sender Sky die Uefa dafür kritisiert, dass der Verband der Mannschaft nicht mehr Zeit gegeben habe, die Erlebnisse zu verarbeiten. In der Uefa-Zentrale in Nyon am Genfer See schaltete sich Aleksander Čeferin, der DER SPIEGEL 16 / 2017
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RALPH SONDERMANN
Uefa-Präsident, in die Diskussion ein. Er soll nur eine zentrale Forderung gestellt haben, heißt es in Nyon: Dass keines der beiden Teams unter Druck gesetzt wird zu spielen. Zwischenzeitlich sei auch erwogen worden, die Partie in Monaco auszutragen, dann habe man sich aber doch entschieden, den Spielplan einzuhalten. Tuchel und andere Businsassen seien am nächsten Tag noch „im emotionalen Ausnahmezustand“ gewesen, sagt ein Berater. Torwart Roman Bürki weinte nach dem Spiel, Abwehrspieler Sokratis sagte, man werde „behandelt wie Tiere“. Manche Dortmunder Akteure sahen sich als Staffage im Antiterroraufmarsch der Politik. CDU-Mann de Maizière saß im Stadion neben BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke. Hannelore Kraft, die NRW-Wahlkämpferin der SPD, bei ihrem Parteifreund Rauball, in der Nähe Reinhard Grindel, der DFB-Präsident und ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete. Das gefiel wohl den Fußballfunktionären. Sie waren bedeutend, als wären sie Teil Landespolitiker Jäger: „Bis an die Grenzen des Rechtsstaats gegangen“ eines Staatsakts. Selbst der Besuch beim verletzten Spieler Bartra im Knappschaftskrankenhaus, wo der Spanier operiert worden war, geriet zur öffentlichen Zeremonie. Watzke enterte die Klinik mit dem Pressechef des Klubs durch das Spalier der Kameraleute. Auch Trainer NRW Innenminister Jäger galt als Hoffnungsträger der SPD. Nach dem Tuchel war bei dem Opfer im Krankenhaus. Anschlag in Dortmund und Pannen im Fall Anis Amri steht Er nahm den Hintereingang. Was wird nach diesem Attentat passie- er unter Druck – und hält Hannelore Kraft so aus der Schusslinie. ren? Ganz sicher wird die Debatte weitergehen, wie prominente Sportler und große m Tag nach dem Anschlag gab es seinem Berliner Anschlag in NordrheinVeranstaltungen besser geschützt werden einen ganz anderen Ralf Jäger: Westfalen gelebt hatte. Und so gibt es können. Ähnlich wie nach dem Anschlag Der Innenminister von Nordrhein- im Landtagswahlkampf für die Opposiauf den Berliner Weihnachtsmarkt wird es Westfalen war ruhig und leise. In einem tion seit Monaten vor allem ein Thema: dabei auch um Kleinigkeiten gehen, etwa holzvertäfelten Raum in seinem Ministe- Jäger. „Haste Scheiße am Fuß, haste Scheiwie man die Sicherheit von Mannschafts- rium trat er vor die Presse, um etwas zu ße am Fuß“, sagte der Fußballer Andreas bussen verbessern kann. dem Angriff auf die Profis von Borussia Brehme einst frustriert. Der Satz beDer BVB-Bus hat ein spezielles Brems- Dortmund zu sagen. Die Behörden in schreibt die aktuelle Lage des Ministers und Stabilisationssystem. Er hat eine NRW würden den Generalbundesanwalt ganz gut. Rauchmeldeanlage. Er hatte aber kein Pan- „nach Kräften unterstützen“, sagte der Positive Berichterstattung hatte Jäger zerglas. Die Ausstattung mit Panzerglas ist Sozialdemokrat, „besonnen“. zum letzten Mal, als er vor einigen Woin Bussen verboten, weil die Insassen die Er hielt ein längs gefaltetes Blatt Papier chen eine Kampagne zu VerkehrskontrolFenster im Falle eines Unfalls mit einem in den Händen, als klammere er sich da- len startete. Das lief einen Tag lang im Hammer einschlagen müssen, um ins Freie ran. Die Ringe unter seinen Augen waren Radio rauf und runter. Aber eben nur zu gelangen; die Türen sowie die Dachluke noch tiefer als sonst. Die Schultern hingen. einen Tag. allein reichen angesichts der Größe des „Wir werden uns dem Hass und dem TerEinst wurde Jäger bis zum Kronprinzen Gefährts nicht als Fluchtwege aus. ror, egal aus welcher Richtung er kommt, von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft „Natürlich“, sagt Manuel Hiermeyer, nicht beugen“, sagte Jäger. Wort für Wort (SPD) hochgeredet, jetzt gilt er als BelasSprecher des Busherstellers MAN, „wird könnte das eine markige Kampfansage tung. Kraft hat trotzdem an ihm festgeman sich nun gemeinsam mit dem Verein sein. Aber es klang nicht so. Es klang halten. Gedanken machen müssen, was dieser An- kleinlaut. Die Opposition aus CDU und FDP schlag im Blick auf die Sicherheit bedeuEs sind die großen Themen seiner zetert deswegen, zumindest öffentlich. tet.“ Man wird einen Weg finden, wie man Amtszeit, die dieser Tage vor Jäger liegen Tatsächlich aber bietet er auch ein willden Bus in eine rollende Festung verwan- wie ein Scherbenhaufen. Die Sicherheit kommenes Ziel. „Eigentlich ist es inzwideln kann. Man wird diese Lücke stopfen. bei Fußballspielen – sie war dem Fußball- schen mit Jäger viel schöner, als es ohne Und dann hoffen, dass sich nicht bald eine fan Jäger immer ein wichtiges Anliegen. ihn wäre“, gluckst ein Innenpolitiker der neue auftut. Und der Kampf gegen den Extremismus CDU. Als Kraft Jäger vor sieben Jahren zum von links, rechts oder von Islamisten soJörg Blech, Rafael Buschmann, Jörg Diehl, Innenminister machte, da wählte sie einen Sebastian Hammelehle, Martin Knobbe, wieso. In seine Amtszeit fallen Pannen und Hoffnungsträger aus dem sozialdemokraJörg Kramer, Gerhard Pfeil, Tim Röhn, Fidelius Schmid, Nico Schmidt Affären wie jene um Anis Amri, der vor tischen Herzen Nordrhein-Westfalens. Sie
Haste Scheiße am Fuß
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wollte einen, der die Bodenständigkeit, die Fußballschläger kippten einen Einsatzihr selbst so wichtig ist, verkörpert. Und wagen der Polizei um, 49 Beamte wurden sie suchte einen, der überzeugend den har- verletzt. Was tat Jäger? Er sprach ungerührt von einem „erfolgreichen Polizeiten Hund geben konnte. Jäger lieferte beides. Rockern wollte er einsatz“. So behandelt er auch seine beiden aktudie „Kutten ausziehen“, Rechten „auf die Springerstiefel steigen“, den Sumpf aus- ellen Problemthemen: die Pannen im Fall trocknen. Noch heute hört man Jäger an, des Attentäters Anis Amri; und die Affäre woher er kommt. Er spricht das kehlige um den von der Arbeit freigestellten PoliIdiom des Ruhrpotts, selbst wenn er sich zeigewerkschaftler Rainer Wendt, der weiter ein Teilzeitgehalt vom Staat kassierte. vor dem Landtag staatstragend gibt. Er muss sich nicht verstellen, damit man Rein gar nichts hätten seine Behörden bei ihm die einfachen Wurzeln abnimmt. Er, Amri versäumt, findet Jäger. Man sei sogar der nach der Schule in der Stahlarbeiter- „bis an die Grenzen des Rechtsstaats“ geKneipe seiner Mutter arbeitete. Der Groß- gangen. Und bei Wendt sowieso nicht; das und Außenhandelskaufmann lernte, sein habe ja die Vorgängerregierung so eingePädagogikstudium abbrach und in die stielt. Der Innenminister hat sich in eine WaPolitik wechselte. Heute wird er in einem dicken Dienst- genburg zurückgezogen. Jeden Angriff wagen gefahren, ist Herr über Tausende quittiert er mit einer Gegenattacke. Das Mitarbeiter. Doch der rotschöpfige Ruhr- zeigt eine Panne seiner Pressestelle. Sie pott-Proll, der ist immer noch da. Dazu verschickte vor einer Landtagsdebatte zur gehört eine Eigenschaft, die man diesem Gewalt in Fußballstadien versehentlich seine Antworten auf Redebeiträge von OpMilieu gern zuschreibt: die Sturheit. Es gibt mehrere Varianten, wie man als positionsabgeordneten – die noch gar Minister mit Pannen und brenzligen The- nichts gesagt hatten. Jäger konterte trotzdem schon: „Herr men umgehen kann. Man kann die theoretische Existenz von Fehlern einräumen, (Abgeordneter der CDU), reißerischer ging Aufklärung versprechen und mit ein paar es nicht, oder?“, stand dort. Oder: „Sie Placebo-Reformen daherkommen. Oder verfallen hier in bekannte Muster, Schelte man setzt sich an die Spitze der Aufklä- an der Polizei, Schelte an den Vereinen, rung und feuert einen Untergebenen. Oder Schelte am Innenministerium.“ Als die Panne herauskam, sagte Jäger man behauptet: Alles richtig gemacht, keine Ahnung, wieso Opposition und Medien kühl, die Redebeiträge der Opposition seien „vorhersehbar“ gewesen. Er habe „nur so rumzicken. Die erste Methode hat Bundesinnen- noch nicht gewusst, wer es sagt“. „Jäger ist seit Amtsbeginn in einer minister Thomas de Maizière (CDU) nach dem Anschlag am Berliner Breitscheid- ständigen Verteidigungshaltung“, sagt ein platz erkennen lassen. Jäger bevorzugt die CDU-Abgeordneter, „aber man muss ihm auch Respekt zollen: Wie der das so an beiden anderen. Als Silvester 2015 am Kölner Haupt- sich abprallen lässt, seit über einem Jahr, bahnhof Hunderte Frauen von arabisch das kann nicht jeder.“ Am Donnerstag, zwei Tage nach dem Anschlag und einen Tag nach dem NachDer Minister hat holspiel Dortmund gegen Monaco, stapfte sich in eine Wagenburg er schon wieder selbstbewusst in den Innenausschuss des Landtags. „Hömma“, zurückgezogen. sagte er beim Reingehen, „das war aber gestern Pech, zwei irreguläre Gegentore.“ oder nordafrikanisch aussehenden Män- Er hatte den Rücken wieder durchgenern sexuell belästigt wurden, versprach drückt, ein selbstbewusstes Lächeln im Jäger schnell Aufklärung. Sein Ministe- Gesicht. Aus Sicht der Opposition ist der Sturrium ließ eiligst einen Bericht erstellen. Ergebnis: Die Kölner Polizei hatte den kopf Jäger zum Problemfall für HanneEinsatz verbockt. Den Polizeipräsidenten lore Kraft geworden. Demnach hat sie der Stadt hatte Jäger bereits Tage zuvor nur den richtigen Zeitpunkt verpasst, um ihn loszuwerden. Andere sehen es so: entlassen. Im Untersuchungsausschuss fand die Weil sich alle ständig an Jäger abarOpposition allerdings weitere Defizite, an- beiteten, kam es zu keiner richtigen Degebliche Vertuschungsversuche und Un- batte über Krafts Bilanz als Regierungsgereimtheiten. Nun verlegte Jäger sich auf chefin. In vier Wochen wird in Nordrhein-WestStrategie drei: Alles richtig gemacht. Was falen gewählt. Die Flure des Landtags sind wollt ihr? Das kann er. Als 2014 in Köln eine voller Gerüchte, wer nach der Wahl in welDemonstration unter dem Motto „Hoo- cher Koalition welches Amt übernehmen ligans gegen Salafisten“ aus dem Ruder könnte. Jägers Name fällt auch. Aber nicht lief, gab es einen Aufschrei. Rechte und als Innenminister. Fidelius Schmid DER SPIEGEL 16 / 2017
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Deutschland
Wahlkämpferin Petry
Populismus Keine zwei Jahre nach ihrer Wahl in die AfD-Führung steht Frauke Petrys Macht auf der Kippe. Ihre Gegner hintertreiben ihre Spitzenkandidatur für die Bundestagswahl, allen voran der Rechtsausleger Björn Höcke.
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HC PLAMBECK / DER SPIEGEL
Alternative für Petry
D
ie Verschwörer trafen sich am Montag zur Mittagszeit in einem Hotel am Marktplatz von Goslar. Ein halbes Dutzend AfD-Männer saßen im Separee und überlegten, wie die Frau zu entmachten sei, die sie einst selbst mit vereinten Kräften in das höchste Parteiamt bugsiert hatten: Frauke Petry. Der Initiator des Geheimtreffens, Armin Paul Hampel, ehemaliger Journalist und Mitglied im Bundesvorstand der AfD, hatte Vertreter aller Parteilager zusammengeführt: Rechtsausleger wie Alexander Gauland genauso wie den bürgerlich-konservativen Ralf Özkara, Unternehmer und neuer AfD-Chef in Baden-Württemberg. Besonderes Gewicht hatte in dem Kreis aber das Wort des Mannes, den Petry aus der AfD werfen will: Thüringens AfD-Chef Björn Höcke. Vereint wurde die Runde durch eine Überzeugung: Es geht nicht mehr mit Petry. Über die hochschwangere Parteichefin habe man gar nicht viele Worte verlieren müssen, erzählt ein Teilnehmer. Die Herren seien längst mit ihr durch. Sie trieb eher die Frage um, wie man Petry im Bundestagswahlkampf an den Rand drängen kann. Deshalb soll auf dem bevorstehenden Parteitag am kommenden Wochenende ein Spitzenteam gebildet werden, in dem Petry eingemauert wird – als eine unter vielen. Früher saß Frauke Petry selbst in solchen geheimen Zirkeln und dirigierte die Parteitruppen im AfD-internen Machtkampf. Jetzt gehen viele frühere Mitstreiter von der Fahne, arbeiten gegen sie, und ausgerechnet ihr Rivale Höcke ist an entscheidender Position beteiligt. Wie konnte es so weit kommen? Die Bundesvorsitzende ist immer noch die prominenteste Figur der AfD, das bürgerliche und talkshowtaugliche Gesicht der Partei. Die Basis hatte sie zunächst als zugängliche und kompromissbereite Alternative zum rechthaberischen Parteigründer Bernd Lucke kennengelernt. Das ebnete ihr den Weg an die Spitze. Doch nun ist ein neuer Machtkampf entbrannt: Es geht um die Ausrichtung der Partei, aber auch um den Führungsstil der Vorsitzenden, die keinen Widerspruch duldet und die sich mit ihrem Ehemann, dem nordrhein-westfälischen Parteichef Marcus Pretzell, immer mehr einigelt. Petry gibt sich vor dem Parteitag als Anführerin jenes gemäßigten Flügels, der Rechtsextreme wie Höcke aus der Partei drängen will. Das ist nicht ohne Ironie, schließlich hat Petry einst selbst mithilfe der Rechten Lucke gestürzt. Aber Petry ist flexibel, auch deshalb hat sie es so weit gebracht. Für den Parteitag hat sie einen Antrag vorbereitet, der die AfD vor die Wahl stellt. Wollt ihr eine „realpolitische Strate-
gie“, den bürgerlich-sauberen Weg, fragt Petry darin. Oder wollt ihr die „fundamentaloppositionelle“ Gruppe um Höcke und Gauland? Petry fordert nun plötzlich rote Linien im Grundsatzprogramm der Partei: Die AfD solle dem Rassismus ebenso abschwören wie „antisemitischen, völkischen und nationalistischen Ideologien“. Eigentlich Selbstverständlichkeiten. Doch als Lucke einst versuchte, diese durchzusetzen, war das der Anfang von seinem Ende in der AfD. Nun könnte Petry ein ähnliches Schicksal bevorstehen. „Ein Lucke war genug!“, posten die rechten AfDler auf Facebook. Das Delegiertentreffen in Köln könnte zum Wendepunkt in Petrys Karriere werden. In weniger als zwei Jahren hat sie es geschafft, ihren enormen Sympathiebonus weitgehend aufzuzehren. Mit einer Serie kleiner und großer strategischer Fehler verwandelte sie sogar loyale Anhänger und enge Mitarbeiter in Gegner.
Anti-Petry-Post Sympathiebonus aufgezehrt
Zum Beispiel ihren gutmütigen Kochef Jörg Meuthen, einen der wenigen verbliebenen Wirtschaftsprofessoren in der AfD. Meuthen sollte nach dem Sturz Luckes das bürgerliche Antlitz der Partei sein. Er war Petry zutiefst dankbar, dass sie ihm – einem bis dahin unbekannten Parteifunktionär – den Weg an die Spitze der AfD ermöglichte. Doch wie zerrüttet das Verhältnis der beiden inzwischen ist, zeigte sich am vergangenen Samstag in Essen. Schlagermusik wummerte über den Marktplatz im Stadtteil Altenessen, rund 450 Bürger waren zum Wahlkampfauftakt der AfD in Nordrhein-Westfalen gekommen. Es sollte der erste gemeinsame Auftritt von Petry und Meuthen seit Wochen werden, doch „gemeinsam“ war an diesem Samstag nichts: Schon bei ihrer Ankunft ging Petry grußlos an Meuthen vorbei. Lieber ließ sie sich mit Fans fotografieren, lächelte routiniert in Handykameras. Ein Besucher fragte: „Ist der Herr Doktor Meuthen schon da?“ – „Jaja, der ist da“, sagte
Petry knapp. „Wo der rumschwirrt, weiß ich nicht.“ Meuthen stand unübersehbar nur wenige Meter entfernt in einem blauen Zelt bei der Bühne und las betont konzentriert in seinem Redemanuskript. Nordrhein-Westfalen ist für ihn politisches Feindesland, hier ist Petry-Territorium, denn hier regiert ihr Gatte Pretzell die AfD. Und so wurde es für Meuthen an diesem Samstag immer wieder unbequem. Kaum betrat Meuthen die Bühne, pfiff ihn der Moderator zurück: „Das machen wir jetzt noch mal!“ Für jeden Redner sei zum Einlauf eine Musik vorgesehen, wurde Meuthen belehrt, die möge er abwarten. Das Publikum, inklusive Petry, lachte amüsiert. Aus den Lautsprechern dröhnte sodann der Marsch „Preußens Gloria“. Meuthen stapfte dazu wie ein lustloser Tanzbär auf die Bühne. Der Wind wehte ihm sein Manuskript vom Pult, was ein weiteres Lächeln auf Petrys Gesicht zauberte. Als nächster Redner sprang dann – ganz ohne Musik – Pretzell auf die Bühne, der Meuthens ausgestreckte Hand ignorierte. Erst als Meuthen leise „Marcus!“ rief, schlug Pretzell ein. Es sind solche kleinen Fiesheiten, mit denen Petry und Pretzell Parteifreunde ärgern. Seit Petrys Aufstieg an die Parteispitze hat sich das Paar zunehmend abgeschottet. Jeder profilierte Parteifreund, der sich nicht unterwirft, wird misstrauisch beäugt. „Frauke Petry hat nicht verstanden, wie Politik funktioniert, sie sieht die Partei als Solonummer“, urteilt Parteifreund Armin Paul Hampel. „Kompetenz empfindet sie als Bedrohung.“ Petry wolle Konflikte nicht ausdiskutieren, sondern echte und vermeintliche Gegner gleich „loswerden“. Der Großteil des Bundesvorstands und die Mehrheit der Landesvorsitzenden sind von Petry abgerückt. Mal ging es um fundamentale Streitpunkte wie die Bündnisse von Petry und Pretzell mit europäischen Rechtsextremen wie Marine Le Pen, die sie auf eigene Faust schlossen. Sehr oft waren es aber auch kleinere Dinge: Als Petry etwa jüngst ihren „Zukunftsantrag“ zum Parteitag vorstellte, der die AfD auf bürgerlichen Kurs zwingen soll, tauchte in der finalen Version ein Frontalangriff auf den Parteivize Alexander Gauland auf – ohne Absprache mit allen Unterzeichnern. Genervt zogen einige Landeschefs daraufhin ihre Unterstützung zurück. Petry stößt aber nicht nur Parteifreunde vor den Kopf, sondern auch die eigenen Mitarbeiter wie Michael Klonovsky, einen ehemaligen „Focus“-Redakteur. Wie der SPIEGEL vergangene Woche berichtete, stand Klonovsky nicht nur bei Petry als Medienberater unter Vertrag, sondern auch bei dem EU-Abgeordneten Pretzell, um das Gesamthonorar von 10 000 Euro im Monat gemeinsam aufzubringen. Doch DER SPIEGEL 16 / 2017
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SASCHA FROMM / FUNKE FOTO S. / ACTION PRESS
glieder wollten „keine Diskussionen mehr die EU-Parlamentsverwaltung stellte sich über Personen, sie wollen endlich über quer, also zahlte Pretzell seinen Anteil moInhalte reden“, verkündet Höcke, in Annatelang nicht, weder Gehalt noch Sozialzug und Krawatte vor einer Deutschlandversicherungsbeiträge. fahne sitzend. Nun zieht der einstige Vertraute vor das Auf dem Parteitag in Köln will Höcke Arbeitsgericht, sogar eine Strafanzeige genicht auftreten. Doch als Königsmacher gen Pretzell liegt vor. Die AfD sieht stauwird er sehr wohl im Hotel Maritim pränend zu, wie der Streit eskaliert. Pretzell sent sein: Wer ins Spitzenteam will, darf warf Klonovsky Erpressung vor und raunte kein Höcke-Gegner sein. Die Vorbereitung über dessen Eheprobleme; Klonovsky refür den Parteitag fällt leichter als beim vanchierte sich am Donnerstag mit einer Sturz Luckes im Jahr 2015 – in Köln stimlangen Suada auf seiner Facebook-Seite: men Delegierte ab, keine einfachen Par„Pretzell ist eine Hochstaplerfigur, ein unteimitglieder, die unberechenbar sind. seriöser Mensch mit krankhaftem Drang Beim Geheimtreffen in Goslar war sich zur Intrige und zum Schüren von Konflikdie Runde schnell einig: Gauland ist für ten, ein Hasardeur, der Verträge für unverdas Spitzenteam gesetzt. Das sagt er ganz bindlich und Versprechen für elastische offen: „Wenn es die Partei will, stehe ich Floskeln hält“, schrieb er. „Eine Partei, die für ein Spitzenteam selbstverständlich zur in einer solchen Situation eine vom KonVerfügung.“ Eine Wunschpartnerin Gaufliktautomaten Marcus Pretzell gesteuerte lands ist Alice Weidel, eine junge westFrauke Petry als Spitzenkandidatin ausruft, deutsche Ökonomin. Sie sitzt im AfD-Bunwäre verraten und verkauft.“ desvorstand und wäre ein liberales GegenÄhnlich gefährlich ist für Petry und Pretstück zum rechtskonservativen AfD-Vize zell der Streit mit Matthias Moosdorf. Der Gauland. Zwar war Weidel eine treibende Cellist eines renommierten StreichquarKraft des Höcke-Ausschlussverfahrens, tetts hatte im Frühjahr 2016 Kontakt zur doch die Aussicht auf ein Spitzenamt in AfD-Vorsitzenden gesucht, fasziniert von der künftigen AfD-Fraktion scheint flexiihrer „Schnelligkeit und Intelligenz“. Petry bel zu machen. Weidel und Gauland hätkönne „zwei Spielzüge im Voraus planen“, ten ihre Kooperation schon diskret sonschwärmte Moosdorf Vertrauten vor. AfD-Mann Höcke diert, heißt es, und bei den skeptischen PaSchnell stieg er zu Petrys engem Berater Stärker denn je trioten in Goslar habe Gauland vehement auf, organisierte sogar die standesamtliche Trauung mit Pretzell im Leipziger MendelsImmer mehr geraten Petry und Pretzell für sie geworben. Allerdings ist unklar, ob sohn-Haus. Nun ist die Harmonie dahin. In an der AfD-Basis in Verdacht, die Partei Weidel die Unterstützung des rechten Parzwei Beschwerdebriefen an die AfD-Spitze als Vehikel eigener Machtgelüste zu miss- teiflügels am Ende bekommt. Petrys Gegner wollen die Chefin nicht beklagte Moosdorf seine „Kaltstellung“ und brauchen. Da wundert es wenig, dass der enthüllte pikante Details: über die Kontakte Rechtsideologe Höcke ein Comeback feiern aus der Partei drängen wie einst Bernd Luetwa, die er dem AfD-Paar in höchste rus- kann. Nach seiner Dresdner Rede und dem cke, und Petry ist sich ihrer Bedeutung für sische Kreise vermittelt habe, zu Putins Wort vom Holocaust-Mahnmal als „Denk- die AfD sehr wohl bewusst. „Sie brauchen Chefberater Igor Lewitin und Sergej Tscher- mal der Schande“ stand der Thüringer kurz- mich als maßgebliche Repräsentantin in jomin, dem Moskauer Beauftragten für in- zeitig auf der Kippe; sogar enge Weggefähr- der Öffentlichkeit“, verkündete sie der Baternationale Beziehungen. ten wie der rechtsnationale Verleger Götz sis schon 2016 auf dem Parteitag von StuttDie Russen wollten Petry möglichst un- Kubitschek distanzierten sich von seinen gart. So könnte es in Köln zum Showdown auffällig treffen, am liebsten wie zufällig Aussagen. Heute ist Höcke stärker denn je. kommen. Erst kürzlich kokettierte sie im auf dem Dresdner Semperopernball. Dafür „Hätte Petry nur eine Rüge oder Ämter- „Tagesspiegel“ mit Rücktrittsgedanken. Petry wird sich nicht so einfach von der will Moosdorf eigens VIP-Karten für je sperre gegen Höcke forciert, wäre er jetzt 3660 Euro besorgt haben, Ballgarderobe, wohl marginalisiert“, sagt ein AfD-Landes- Bühne schieben lassen. Sie weiß, dass ihr einen Friseur, einen Tanzlehrer. Aber Pe- chef. „Aber nein, es musste partout der Abgang als weiterer Rechtsruck gewertet würde. Auf Bitte des SPIEGEL wertete das try und Pretzell ließen den Abend platzen: Parteiausschluss sein.“ „Am 1. Februar gegen 22 Uhr erfolgte ein Dass Petry nun die AfD von Höcke und Institut für Demoskopie Allensbach UmAnruf, dass Dr. Petry den Ball absagen jeglicher rechten Ideologie reinigen will, fragedaten von AfD-Anhängern vom Somwürde und ihr Ehemann M. Pretzell alle halten viele AfD-Funktionäre für reines mer 2015 aus. Kontakte übernehmen würde“, klagte Machtspiel. Habe Petry nicht selbst geforIn dieser Phase dümpelte die RechtsparMoosdorf in seinem Brief an Parteifreunde. dert, das Wort „völkisch“ zu rehabilitieren, tei schon einmal wegen Luckes Abgang Die russischen Politiker ließen sich zwar fragen sie. Wetterte sie nicht selbst in einer im Umfragetief. Aus den Daten wagt Albreitschlagen, das AfD-Paar dann „zufäl- Rede zur deutschen Einheit im vergange- lensbach-Meinungsforscher Thomas Peterlig“ in einem Dresdner Nobelhotel zu tref- nen Jahr gegen Flüchtlinge als „Lumpen- sen die Schätzung: „Würde die AfD die fen. Jedoch: „Der hinterlassene Eindruck proletariat der afroarabischen Welt“, und letzten halbwegs gemäßigten Vertreter war kein guter“, notierte Moosdorf. erteilte nicht sie einem „bunten“ Deutsch- verlieren und würden sich die RechtsradiNur mit Mühe ließ sich ein geheimer land eine Absage: „Bunt ist auch ein Kom- kalen gänzlich durchsetzen, könnte die Gegenbesuch des AfD-Paares in Moskau posthaufen“? Partei ein Drittel ihrer derzeitigen Anhänorganisieren, abermals ohne Abstimmung Je härter Petry gegen Höcke austeilt, ger verlieren.“ Es ist unklar, ob sie bei der mit dem Bundesvorstand und obwohl die desto demütiger gibt der sich. „Ich selbst Bundestagswahl so über die FünfprozentRussen „Pretzell gar nicht dabei haben“ bin in den letzten Tagen, Wochen und Mo- hürde käme. Petrys letzter Trumpf ist die wollten. „Aber Frau Dr. Petry akzeptiert naten hart angegriffen worden“, säuselt Angst ihrer Gegner vor dem Wähler. keine anderweitige Beratung mehr“, Höcke in einer Videobotschaft an die Basis, Melanie Amann, Martin Pfaffenzeller, Severin Weiland seufzte Moosdorf. „leider auch von Parteifreunden.“ Die Mit36
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Rüsten gegen den Krieg Debatte Die Bundeswehr wird ohne deutlich mehr Geld ihre Aufgaben nicht erfüllen können. Von Konstantin von Hammerstein
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Tempo, mit dem sich der weltpolitische Temperatursturz in kleines Ratespiel. Die Bundeswehr hat 225 Kampfvollzog, riss alle Parameter der deutschen Verteidigungspanzer, weitere 100 sollen in den nächsten Jahren politik mit sich. Der Glaube, man habe bei einer Verschärdazukommen. Der „Leopard 2“ wiegt in seiner neufung der sicherheitspolitischen Situation genügend Zeit, esten Version 64 Tonnen und muss über längere Strecken die eigenen Streitkräfte wieder auf einen höheren Level mit schweren Sattelschleppern verlegt werden. Die zu heben, erwies sich als naiv. Logistikspezialisten der Truppe haben berechnet, dass sie Die Lage ist seitdem nicht besser geworden. An ihrer 97 dieser Schwerlasttransporter benötigen, wenn die PanOstflanke hat es die Nato mit einem Gegenspieler zu tun, zer voll einsatzfähig sein sollen. Nun die Frage: Wie viele der militärische Gewalt als legitimes Mittel seiner Außengibt es tatsächlich bei der Bundeswehr? politik betrachtet, der keine Hemmungen hat, sich mit Falsch. Es sind 9. einem Pariaregime wie dem syrischen zu verbünden, und Noch eine Frage: Erfüllt es den Tatbestand der „Aufder mit allen Mitteln versucht, die Stabilität der westlichen rüstung“, wenn die Streitkräfte zusätzliche Sattelschlepper Demokratien zu erschüttern. An ihrer Südflanke steht das beschaffen, um ihre „Leopard 2“ auch einsetzen zu könBündnis einem Ring von Staaten gegennen, deren Zahl seit Ende des Kalten Krieüber, die im besten Fall labil und im ges übrigens um fast 2000 geschrumpft ist? schlechtesten gescheitert sind. Dass Afrika Der Wehrbeauftragte hat den Fall eines der Hinterhof Europas ist und viele AfriGebirgsjägerbataillons beschrieben, dem kaner von einem Leben in Europa träuplanmäßig 522 Nachtsichtgeräte zustanmen, wissen Franzosen und Spanier schon den. Tatsächlich gab es nur 96, von denen lange. Seit der Flüchtlingskrise realisieren allerdings 76 an andere Einheiten abgegees auch die Deutschen. ben werden mussten. Blieben noch 20, von denen 17 beschädigt waren. Rüstet die Bundeswehr auf, wenn sie einen hohen oldaten sind nicht die Antwort auf zweistelligen Millionenbetrag in neue diese Probleme. Sie müssen politisch Die Rüstungsdebatte Nachtsichtgeräte investiert? gelöst werden, doch gleichzeitig sind Die Antwort ist wichtig, denn das AStreitkräfte ein wichtiges Instrument der Würde Deutschland sich an Wort hat wieder Konjunktur, A wie AufAußenpolitik. Sie können durch Abschredas Zwei-Prozent-Ziel der Nato rüstung. Außenminister Sigmar Gabriel ckung Kriege verhindern und Konflikthalten, müsste der Verteidikombiniert es gern mit dem Zusatz „Spigebiete militärisch so stabilisieren, dass gungsetat fast verdoppelt rale“, dann ist es wahlkampfkompatibel. die Politik Zeit gewinnt. Wenn sie denn werden. US-Präsident Donald Bei einer SPD-Veranstaltung warnte er vor einsatzfähig sind. Trump übt starken Druck aus, Kurzem, in der Mitte Europas drohe ein Bei der Bundeswehr kann davon nicht Verteidigungsministerin von „Militärbulle“ zu entstehen. die Rede sein. Mit großer Mühe bewältigt der Leyen hat das Ziel jüngst Mit der Realität hat das nichts zu tun. die Truppe derzeit ihre – relativ kleinen – bekräftigt. Aber ist es zeitIn den vergangenen 25 Jahren ist die BunAuslandseinsätze. Die Großverbände aber, gemäß, mehr Geld für Waffen deswehr systematisch geschrumpft wordie für klassische Landes- und Bündnisauszugeben? Der SPIEGEL den. Das war politisch vernünftig, denn verteidigung notwendig sind, stehen nur begleitet die Diskussion mit nach dem Ende des Kalten Krieges brauchnoch auf dem Papier. Unter dem Zwang, kontroversen Beiträgen. te niemand mehr eine Armee mit über die Verschuldung in den Griff zu bekomeiner halben Million Soldaten in der Mitte men, hat der Staat in den vergangenen Europas. Die Streitkräfte wurden kleiner. Landes- und Jahren die öffentliche Infrastruktur verkommen lassen. Bündnisverteidigung spielten keine Rolle mehr, entscheiBei Autobahnbrücken oder Schulen ist das offensichtlich, dend waren nur noch die Auslandseinsätze. Sie bestimmbei der Bundeswehr spielt sich das Elend versteckt hinter ten den Bedarf an Personal, Material und Munition. Kasernenzäunen ab. An der Ostflanke der Nato herrschte nach dem Fall des Ihre Lkw stammen aus den Siebziger- und AchtzigerEisernen Vorhangs Frieden, und wenn sich die sicherheitsjahren und müssen für 2,7 Milliarden Euro ersetzt werden. politische Lage einmal ändern würde, hätte man genügend Die alten Funkanlagen sollen in den kommenden Jahren Zeit, die Armee wieder auszubauen. Dachte man. Die Fifür 5,5 Milliarden gegen neue Geräte ausgetauscht werden, nanzkrise verschärfte den Schrumpfungsprozess noch. weil die Truppe sonst weder mit den eigenen Einheiten CSU-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg noch mit den Verbündeten kommunizieren kann. Milliarließ sich 2010 für die „einmalige Chance“ feiern, bis 2014 den müssen in die digitale Erneuerung der Streitkräfte innoch einmal 8,3 Milliarden Euro aus dem Verteidigungsvestiert werden, weil sich zukünftige Konflikte stark im haushalt zu quetschen. Von dieser „Neuausrichtung“ hat Cyberraum abspielen werden. sich die Bundeswehr bis heute nicht erholt. Es geht eher um Renovierung und Modernisierung als Dann veränderten sich die Rahmenbedingungen. Es kaum Aufrüstung. Auch die wird teuer, doch die sicherheitsmen die Ukrainekrise 2014, die russische Annexion der politische Lage erfordert eine Bundeswehr, die wieder Krim, der Vormarsch des IS im Irak und in Syrien. Das voll einsatzfähig ist. I
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Deutschland
„Das ist unterirdisch“ SPIEGEL-Gespräch Die bayerische Wirtschaftsministerin Ilse Aigner wehrt sich gegen Gerüchte über ihr Privatleben und die Machokultur in der Politik. Aigner, 52, ist seit dreieinhalb Jahren bayerische Wirtschaftsministerin und seit 32 Jahren Mitglied der CSU. Aigner ist eine der wenigen Frauen, die es in der Partei nach ganz oben geschafft haben. Die CSU ist nach der AfD die Partei mit dem geringsten Frauenanteil. 2015 waren nur 20 Prozent der Mitglieder weiblich. Ein Gespräch über Hahnenkämpfe unter Männern und die Frage, ob man es sich als Frau erlauben kann, alleinstehend zu sein. SPIEGEL: Frau Aigner, was unterscheidet
Frauen und Männer in der Politik? ren. Es gibt nicht „die Männer“ und „die Frauen“. Wir sind ja alle Individuen. Was wir hier besprechen sind natürlich Generalisierungen. Einverstanden? SPIEGEL: Natürlich. Aigner: Ich glaube, dass Frauen ganzheitlicher rangehen. Sie sehen nicht nur ihr Fachgebiet, sie sehen, was links und rechts davon passiert. Sie denken vom Ende her: Wie kann man eine Lösung erzielen? SPIEGEL: Männern geht es ums Prinzip? Aigner: Männer sagen: Hier bin ich, das ist meine Meinung, davon rücke ich kein Stück ab. Frauen suchen den Kompromiss. SPIEGEL: Männer sind also besser für den Wahlkampf, Frauen besser fürs Regieren? Aigner: Da ist was dran. Männer verkaufen sich besser, weil sie selbstbewusster ihre Meinung äußern. SPIEGEL: Nach so vielen Jahren in der CSU, hat man da die Männer verstanden? Aigner: Ich bin schon vor der Politik in einer Männerwelt aufgewachsen. Meine Eltern hatten einen Elektrobetrieb, da liefen überall Monteure rum. Ich bin Radio- und Fernsehtechnikerin, da war ich als Frau allein und als Elektrotechnikerin in der Hubschrauberentwicklung später auch. In der Politik kam aber eine neue Komponente dazu. Es ging plötzlich um die Frage: Wer gewinnt? Wer kann seine Positionen am besten durchsetzen? Das ist ein Männerding: Es geht um die einzelne Schlacht, und die muss immer gewonnen werden. Darauf blicke ich manchmal doch staunend, noch immer. SPIEGEL: Bei der CSU haben bislang meistens Männer die Schlachten gewonnen. Was machen die Frauen falsch? Aigner: Manchmal steht man sich als Frau selbst im Weg. Man sagt Dinge nicht so Das Gespräch führten die Redakteure Ralf Neukirch und Britta Stuff in München.
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PETER SCHINZLER / DER SPIEGEL
Aigner: Eine Sache müssen wir vorab klä-
CSU-Politikerin Aigner: „Eine alleinstehende Frau ist für viele das Schlimmste“
deutlich, weil man sich fragt: Zerschlage ich zu viel Porzellan? Deshalb wirkt man dann im Zweifelsfall eher schwächer. Aber wenn Frauen auftreten wie Männer, kommt das auch nicht gut an, denken Sie an Margaret Thatcher. Die war erfolgreich, wurde aber extrem brutal angegriffen. Es ist schwierig für eine Frau, sich auf der einen Seite durchzusetzen und auf der anderen Seite nicht zu hart – oder man könnte auch sagen: nicht zu männlich – zu wirken. SPIEGEL: Warum sollten Frauen nicht hart wirken dürfen? Aigner: Den meisten Frauen ist es wichtiger, gemocht zu werden. Harte Frauen stehen viel mehr in der Kritik als harte Männer. SPIEGEL: Denken Sie manchmal in CSU-Sitzungen, wenn der Raum voll mit Männern ist: ach du lieber Himmel? Aigner: In der Politik sind die Männer meistens in der Überzahl, nicht nur in der CSU. Klar, ich sitz da manchmal und denke: Es ist eigentlich schon alles gesagt, aber noch nicht von jedem, streng nach Valentin. Männer glauben, dass sie in jedem Fall auch das Wort erheben müssen, Frauen schweigen da eher. SPIEGEL: Ist es ein politischer Nachteil für Sie, eine Frau zu sein? Aigner: An manche Position wäre ich als Mann nicht gekommen. Als ich in den Landesvorstand kam, war gerade eine Frau ausgefallen. Man konnte auf diese Position keinen Mann setzen, das ist immer sehr fein ausziseliert, mit Regionalproporz und allem. Und dann hab ich da gestanden. Ich habe aber auch das Gegenteil erlebt. SPIEGEL: Wann war das? Aigner: 1992 habe ich mich in der CSU als Kandidatin für das Bürgermeisteramt in meinem Heimatort Feldkirchen-Westerham beworben. Ich lebe da übrigens noch immer, das ist meine Heimat, meine Basis. Aber damals haben manche in der Partei offen oder versteckt argumentiert, dass ich ja in ungeklärten Familienverhältnissen lebe und deshalb nicht Bürgermeisterin werden kann. Ich war 27 Jahre alt und nicht verheiratet. Es hätte ja sein können, dass ich bald Kinder will und dann das Amt nicht mehr ausüben kann – das war die Argumentation, leider auch von Frauen. Das wäre einem Mann nie passiert. Die Frage der Kindererziehung, der Vereinbarkeit mit der Arbeit, wird auch heute noch ausschließlich Frauen gestellt. SPIEGEL: Sie leben immer noch in „ungeklärten Familienverhältnissen“. Glauben Sie, dass das ein Hindernis wäre, wenn Sie Ministerpräsidentin werden wollten? Aigner: Abgesehen davon, dass das derzeit keine Frage ist, für die bayerische Bevölkerung wäre es wohl kein Problem. Für manchen Parteifreund schon. Offenbar ist eine alleinstehende Frau für viele noch immer das Schlimmste, ein vollkommen inakzeptabler Zustand. Man kann geschieden sein,
zum vierten Mal verheiratet, man kann schwul, lesbisch, irgendwas sein, aber alleinstehend, das geht nicht, da ist was faul. SPIEGEL: Müssen Sie sich Sprüche anhören? Aigner: Ich krieg viele nette Angebote, Fanpost und so weiter. Das ist auch sehr schön. Aber ganz ehrlich, es hat sich bei mir einfach nicht ergeben, ich bin da echt entspannt. SPIEGEL: Warum ist es ein Problem, wenn eine Politikerin alleinstehend ist? Aigner: Vielleicht fehlt das Verständnis, dass man auch ganz gut alleine durch sein Leben kommen kann. Dass man niemanden braucht, der einen versorgt. Vielleicht ertragen das manche Männer nicht. Ich weiß es nicht. Ich bin quasi mit meinem Beruf verheiratet. Meine Tage beginnen früh und gehen bis spät in den Abend. Am Wochenende bin ich auch oft auf Veranstaltungen. Da ist auch die Frage, ob man überhaupt jemanden kennenlernt, der sich zu einem hintraut. Dann müsste es noch ein Mann sein, der akzeptiert, dass ich eine eigenständige Person bin. Erfolgreiche Männer haben oft immer noch gern Frauen, die sich nach ihrem Terminplan richten. Das geht bei mir eben nicht. Aber ich bin zufrieden, wie es ist. SPIEGEL: Was ist das verletzendste Gerücht, dass Sie über sich gehört haben? Aigner: Weil ich alleinstehend bin, wird mir mitunter unterstellt, heimlich lesbisch zu sein. Das ist vollkommen absurd. Und es regt mich auf. Also: Ich bin es nicht! Aber wenn es jemand ist, ist das auch kein Grund, jemanden zu diskreditieren. Das ist mehr als schäbig. Das Privatleben anderer politisch zu instrumentalisieren ist für mich grundsätzlich unterirdisch. SPIEGEL: Eine Ministerin erzählte uns: Als sie neu im Bundestag war, musste sie sich an ihrer Tasche festkrallen, weil immer ein Mann die Tasche für sie tragen wollte. Kennen Sie das? Dass man sich gegen den Charme der Männer wehren muss? Aigner: Mir hat noch niemand die Tasche aus der Hand gerissen. Ich habe eine positive Einstellung zur Galanterie. Wenn ein Mann so freundlich ist, mir den Koffer zu tragen oder mir die Tür aufzumachen, dann freue ich mich. Ich halte diese Umgangsformen für gerechtfertigt. Mir sagte einmal ein Unternehmer: Emanzipation, alles gut und recht, aber lasst’s euch auch mal helfen. Ich sage: Recht hat er. SPIEGEL: Wir haben ein Bild mitgebracht. Es ist das Plakat zum politischen Aschermittwoch der CSU in diesem Jahr. Sechs Männer. Keine Frau. Aigner: Das Gegenbild kennen Sie auch? SPIEGEL: Nein. Aigner: Das haben wir dann nachgestellt. Vorne ich, dahinter Dorothee Bär, Gerda Hasselfeldt. Wir haben reagiert. SPIEGEL: Nur, dass Ihr Bild ein Spaß ist und das andere die echte Ankündigung der CSU für die Veranstaltung. DER SPIEGEL 16 / 2017
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Aigner: Man kann das Bild logisch erklären. Ich bin nicht drauf, weil ich für die Bundestagswahl nicht zur Verfügung stehe und keine Rede gehalten habe. Der eine wird vielleicht für den Bundestag kandidieren, der andere ist Generalsekretär, der Dritte ist Bundesminister. Aber klar, als ich dann bei der Veranstaltung war, dachte ich auch: Wäre schöner gewesen, wenn da auch eine Frau geredet hätte. SPIEGEL: Auf einer Skala von 1 bis 100: Wie viel Testosteron-Punkte geben Sie dem Bild? Aigner: (zögert) SPIEGEL: 100? Aigner: Da ich alle Männer kenne, würde ich sagen: definitiv nicht 100 (lacht). SPIEGEL: Auf dem Bild fehlt jemand, der eigentlich dabei sein müsste: Finanzminister Markus Söder, der gerade mit Horst Seehofer um die Macht in der CSU ringt. Würde es den Hahnenkampf Söder–Seehofer in dieser Form zwischen Frauen geben? Aigner: Dass Markus Söder nicht dabei war, ist logisch zu erklären. Er will ja auch nicht für die Bundestagswahl kandidieren. Ich glaube nicht, dass es so einen Hahnenkampf zwischen Frauen geben würde. Sind ja auch keine Hähne (lacht). Es gibt einen schönen Spruch: Die Henne weiß auch, dass jeden Morgen die Sonne aufgeht, muss aber nicht jeden Morgen krähen. SPIEGEL: Es gibt auch Frauen, die Machtkämpfe ausgetragen und gewonnen haben. Zum Beispiel Angela Merkel. Aigner: Das stimmt. Aber Angela Merkel hat oft hartnäckig und erfolgreich für die Sache gekämpft. Zum Beispiel hat sie in der EU nach der Finanzkrise vieles durchgesetzt, was vorher für unmöglich gehalten wurde. Das aber nicht durch Ankündigungen, sondern durch Verhandlungen mit großer Sach- und Detailkenntnis. SPIEGEL: Die FDP-Politikerin Irmgard Schwaetzer hat öffentlich geweint, als Klaus Kinkel Außenminister wurde – und nicht sie. Sie sagte später, dass man es sich als Frau nicht erlauben könne, in der Öffentlichkeit zu weinen. Mussten Sie sich mal zusammenreißen? Aigner: Ich weine nicht wegen Politik. SPIEGEL: Sie können sich nicht vorstellen, dass Markus Söder Ihnen die Tränen in die Augen treibt? Aigner: Definitiv nicht. SPIEGEL: Was darf man sich als Frau in der Politik nicht erlauben? Aigner: Sie dürfen nicht ungepflegt oder zerzaust in der Gegend rumrennen. Mathilde Berghofer-Weichner, die erste Frau in einem bayerischen Kabinett, eine wirklich gescheite Frau, wurde irgendwann wegen ihrer Frisur kritisiert. Da hat sie eiskalt gesagt: Eigentlich sollte Sie interessieren, was in meinem Kopf ist, und nicht, was auf meinem Kopf ist. Das fand ich sehr treffend. Wir sind da heute nicht viel weiter.
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Die Frisur und was man anzieht steht bei Frauen immer weit mehr im Vordergrund als bei Männern. Obwohl mir da auch einiges zur Garderobe einfallen würde. SPIEGEL: Hören Sie manchmal Fragen, die einem Mann nie gestellt werden würden? Aigner: Klar. Dass immer noch die Frage gestellt wird, ob eine Frau ein politisches Spitzenamt „kann“, ist schon eine Unverschämtheit. Als ich 2008 Bundeslandwirtschaftsministerin wurde, hat man ernsthaft gefragt: Kann die das? Ich hatte in der Tat mit Landwirtschaft vorher nicht viel zu tun. Aber Horst Seehofer hatte auch keine Erfahrung mit der Landwirtschaft, bevor er Minister wurde. Ihn hat aber keiner gefragt, ob er das kann. SPIEGEL: Haben Sie manchmal das Gefühl, Frauen machen es anderen Frauen besonders schwer? Aigner: Die Frage, wie erfolgreiche Frauen das mit der Kindererziehung auf die Reihe bringen, habe ich im Wesentlichen von Frauen gehört. Denken Sie an die ehemalige Familienministerin Kristina Schröder. Die wurde als Mutter von kleinen Kindern eher von anderen Frauen angefeindet und gefragt, ob das geht: ein solcher Job mit kleinen Kindern. Dass man immer den jeweiligen eigenen Lebensentwurf als den besten, einzig richtigen sieht und alles, was die anderen machen, nicht akzeptiert – das tun Frauen weitaus mehr als Männer. Ich finde: Jede Frau muss den eigenen, für sie passenden Weg finden und sollte nicht von der anderen Seite diskreditiert werden. SPIEGEL: Sind Sie Feministin? Aigner: Ich bin eine selbstbewusste Frau. Aber ich will mich nicht immer mit sogenannten Frauenthemen beschäftigen, das wäre mir zu einseitig. Gleichberechtigung ist wichtig, aber mir wird manchmal zu verbissen darum gekämpft. Ich bin keine Emanze. SPIEGEL: Zum Schluss eine Unverschämtheit: Ist Bayern bereit für eine Ministerpräsidentin? Aigner: Ich wusste, dass Sie das fragen. Und dann fragt auch noch die Frau von Ihnen beiden. Also zunächst: Diese Frage stellt sich gerade nicht. Aber ich sehe trotzdem überhaupt keinen Grund, warum das in Bayern nicht funktionieren sollte. Wir sind deutlich fortschrittlicher, als manche vielleicht glauben. Wir haben in Bayern die höchste Frauenerwerbsquote in den alten Bundesländern, wir haben die meisten Männer, die in Elternzeit gehen. Es gibt also keinen Grund, warum ausgerechnet die Politik hinterherhinken sollte. SPIEGEL: Frau Aigner, wir danken Ihnen für dieses Gespräch. Video: llse Aigners Karriere spiegel.de/sp162017aigner oder in der App DER SPIEGEL
Kommentar
Die Unterwerfung Die CDU muss sich von Angela Merkel emanzipieren.
STOCKI / FACE TO FACE
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chon oft hat Angela Merkel davon profitiert, dass ihre Gegner sie missverstehen. Als sie in dieser Woche ihren Kanzleramtschef Peter Altmaier zum Chefautor des CDU-Wahlprogramms kürte, hob sofort ein Chor der Empörung an. Von einer Unverfrorenheit sprach die FDP. SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann beklagte eine „unzulässige Verquickung“ von Partei- und Regierungsarbeit. Die Frage ist nur: welche Verquickung? Die kann es ja nur geben, wenn es neben dem Kanzleramt noch eine halbwegs selbstständige Parteizentrale gibt; einen Apparat, der dazu dient, den Willen der Mitglieder aufzunehmen und weiterzutragen an diejenigen, die für die CDU in der Regierung sitzen. Davon aber kann im zwölften Jahr der Kanzlerschaft Merkel kaum die Rede sein. Nicht die CDU bestimmt die Regierungspolitik mit, Merkel bestimmt die CDU. Le parti, c’est moi. Natürlich, es gibt immer noch das Konrad-AdenauerHaus mit seinen 150 Mitarbeitern. Wer die Website der Partei besucht, der findet dort, neben fröhlich lachenden Menschen, die Sätze: „Ich schreibe Zukunft. Meine Idee für Deutschland.“ Nach wie vor lädt Merkel jedes Jahr zu einem Parteitag mit tausend Delegierten. Mitarbeit ist dort hochwillkommen, Engagement erwünscht – solange alles auf Merkels Linie bleibt. Als sich der CDU-Parteitag im vergangenen Dezember in Essen gegen die doppelte Staatsbürgerschaft aussprach, erklärte Merkel der staunenden Partei, dass sie sich nicht an den Beschluss gebunden fühle. Seither weiß die CDU, was die Chefin von innerparteilicher Demokratie hält. So gesehen wäre es konsequent, wenn Merkel statt des Adenauer-Hauses eine Eventagentur engagieren würde, die ihr Parteitage und Wahlkampfkundgebungen organisiert. Als die Meldung die Runde machte, dass Altmaier das CDU-Wahlproverfassen werde, hieß Es wäre konsequent, gramm es, nun sei Generalsekretär Peter wenn Merkel für Tauber „entmachtet“. Aber auch das war ein Missverden Wahlkampf statt ständnis. Der brave Tauber hatte des Adenauernie die Absicht, der Chefin zu widersprechen. Die Programmarbeit Hauses eine Eventwurde ihm nicht abgenommen, agentur engagierte. weil die Gefahr bestand, dass er auf eigene Ideen kommt. Es ist für Merkel einfach bequemer, sich mit Altmaier abzusprechen, der mit ihr auf einer Etage im Kanzleramt arbeitet. Außerdem verfügt Altmaier über die nötige Autorität für die schwierigen Gespräche mit der CSU. Nun hat die CDU nie mit der Leidenschaft der SPD Programmdebatten geführt. Seit Adenauers Zeiten interessiert sich die Partei nicht für ihr Geschwätz von gestern, sondern für die Macht. Das ist auch ein Grund dafür, warum die CDU 48 Jahre lang das Land führte und die SPD nur 20. Allerdings wussten die meisten Kanzler, was sie ihrer CDU zumuten konnten – und was nicht.
Parteifreunde Merkel, Altmaier
Merkel hat die Partei verändert wie niemand zuvor. Erst vorsichtig und behutsam, dann immer drängender und eigenmächtiger. Sie hat früher als die meisten verstanden, dass die CDU sich wandeln muss, wenn sie Wähler jenseits der alten Milieus ansprechen will, junge Frauen und Großstädter, die wenig anfangen konnten mit der Pantoffel-CDU des Helmut Kohl. Es gab Gemurre, als Merkel die Homo-Ehe akzeptierte, es gab Gemaule, als sie die Wehrpflicht aussetzte. Einen Aufstand gab es nie. Das verlieh Merkel Selbstbewusstsein.
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atürlich wusste Merkel, wie viel Widerstand ihre Flüchtlingspolitik in der CDU auslösen würde. Doch sie ignorierte das. Als sich die Partei Ende 2015 – auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise – in Karlsruhe versammelte, spendeten ihr dieselben Delegierten stehende Ovationen, die sich noch kurz zuvor auf den Fluren der Messehalle bitter über ihren Kurs beklagt hatten. Es war ein unwürdiges Schauspiel. Die Psychologie kennt das Phänomen der Ersatzhandlung. Weil sich kaum einer in der CDU an Merkel heranwagt, wird umso lustvoller über den unglücklichen Generalsekretär Tauber gelästert. Wolfgang Schäuble gilt als Lichtgestalt, weil sich mit ihm die Fantasie verbindet, dass er Merkel eines Tages doch vom Thron stoßen könnte. Dabei hat sich Schäuble schon in der Spätphase Kohls nicht getraut, die Machtfrage zu stellen. Wenn die CDU eine Volkspartei bleiben will, muss sie sich von Merkel emanzipieren. Merkel hat sich die CDU unterworfen. Was bleibt übrig, wenn sie geht? Merkel hat die Partei vom rechten Rand gelöst, aber dabei entstand eine miefige rechte Partei, die sich nun anschickt, in den Bundestag einzuziehen. Die Kunst wird darin bestehen, die CDU als Partei der Mitte zu erhalten und gleichzeitig die extremen Rechten zu bekämpfen. Dazu war Merkel bisher nicht in der Lage. Deshalb muss das Nachdenken über die Zeit nach ihr jetzt beginnen. René Pfister DER SPIEGEL 16 / 2017
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ETIENNE OLIVEAU / REUTERS
Gesprächspartner Merkel, Xi*: Pendeldiplomatie zwischen Peking und Washington
Verkehrte Welt
Asien Seit US-Präsident Trump Deutschland und China mit Handelskriegen droht, suchen die beiden Staaten nach Gemeinsamkeiten. Das Problem ist nur: Es gibt zu vieles, was sie trennt.
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hinesische Diplomaten genossen in in vielen Fragen gegensätzliche Positionen Berlin bislang nicht den allerbesten vertreten, versuchen eine Annäherung. Ruf. Mal wagten sie bei VertragsKanzlerin Angela Merkel telefoniert erst verhandlungen keine Zugeständnisse zu mit dem chinesischen Präsidenten Xi Jinmachen, ohne in Peking um Erlaubnis zu ping, bevor sie zum Antrittsbesuch nach fragen. Mal drängten sie auf Änderungen Washington reist. Wirtschaftsministerin in letzter Sekunde. Zypries wählt dieselbe Reihenfolge und Umso erstaunter waren Bundeswirt- reist erst nach China und dann in die USA. schaftsministerin Brigitte Zypries und ihr Und Vizekanzler Sigmar Gabriel sagt mit Staatssekretär Matthias Machnig, als sie Blick auf Trumps protektionistische Hanvergangene Woche auf einem G-20-Gipfel delspolitik: „Wenn ein Fenster sich schließt, der Digitalminister in Düsseldorf auf ihre öffnet sich ein anderes.“ Amtskollegen aus der Volksrepublik trafen. Auch China bemüht sich auffallend um Den Übergang ins Onlinezeitalter müsse verbesserte Beziehungen zur deutschen man unbedingt regeln, und zwar gemein- Seite. Seit Wochen beobachten Deutsche sam, bot der chinesische Industrieminister in Peking eine Charmeoffensive der ChiMiao Wei an. Und sein deutscher Ge- nesen. Diplomaten und Unternehmer wersprächspartner Machnig befand: „Mit de- den von hohen Funktionären zur Seite genen konnte man gut zusammenarbeiten.“ nommen und gefragt, was man tun könne, Die Ursache für die ungewohnten um ihnen zu helfen. Freundlichkeiten ist jedoch weder in Berlin „Die Wahl von Donald Trump hat die noch in Peking zu finden, sondern in Wa- Dynamik im chinesisch-europäischen shington. Seit Donald Trump ins Weiße Verhältnis verbessert“, sagt Cui Hongjian, Haus eingezogen ist, herrscht in der inter- Direktor der Europaabteilung des Pekinger nationalen Politik verkehrte Welt: Die Instituts für Internationale Studien. Amerikaner, jahrzehntelange Verbündete „Europa und China teilen ihren zuverDeutschlands im Kampf um Freihandel sichtlichen Blick auf Globalisierung und und eine regelbasierte Weltpolitik, irrlich- internationale Zusammenarbeit.“ Wird tern. Wenn zwischendurch ein Kurs zu er- die Weltpolitik bald von einer Achse Pekennen ist, dann geht es in Richtung Pro- king–Berlin beeinflusst? tektionismus. Deutschland und China, die Experten sehen dafür durchaus Chancen, zugleich aber warnen sie vor zu hohen * Beim G-20-Gipfel in Hangzhou im September 2016. Erwartungen. „Es wäre falsch, sich jetzt 44
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den Chinesen in die Arme zu werfen“, sagt Sebastian Heilmann, Direktor des Mercator-Instituts für Chinastudien in Berlin. Bei aller punktuellen Übereinstimmung der Interessen sind Deutschland und China vor allem in Handelsfragen harte Konkurrenten. Derzeit deutet wenig darauf hin, dass der gemeinsame Widerstand gegen Trumps Politik an den grundsätzlichen Gegensätzen zwischen Berlin und Peking etwas ändern könnte. Zwar fürchten die beiden Regierungen, dass Importzölle der USA ihrer Wirtschaft schaden könnten. Das macht sie aber noch nicht zu Verbündeten. Im Gegenteil: Sollte Trump die US-Wirtschaft tatsächlich durch Zölle oder andere Einfuhrbeschränkungen abschotten, würde das die Rivalität der beiden Exportriesen nur verstärken. Für Deutschland ist China ein gigantischer Markt, der auf Technologie spezialisierten deutschen Firmen beste Absatzmöglichkeiten bietet. China hingegen hat kein Interesse daran, die Hochtechnologie ausländischen Firmen zu überlassen. Peking ist an deutschem Know-how interessiert, um es selbst zu nutzen und auf den Weltmärkten verkaufen zu können. Bei der Durchsetzung ihrer Ziele sind die Chinesen nicht zimperlich. Die Regierung zwingt ausländische Konzerne, Gemeinschaftsunternehmen mit heimischen Firmen zu bilden. So kommen die staatlich gesteuerten Unternehmen in der Volksrepublik an deutsches Wissen. Bestes Beispiel dafür ist der Hochgeschwindigkeitszug von Siemens, der zunächst in einem Gemeinschaftsunternehmen produziert wurde. Mittlerweile bauen die Chinesen eigene, den Siemens-Zügen auffallend ähnliche Schienenfahrzeuge und exportieren sie in viele Länder. Vermehrt kaufen in letzter Zeit chinesische Konzerne auch direkt deutsche Firmen auf, bevorzugt mittelständische Maschinenbauer aus Schlüsselindustrien wie der Robotik oder der Elektronik. Hinter den Investoren steht nicht selten der chinesische Staat als Geldgeber, entsprechend hoch sind die Kaufsummen. Allein im letzten Jahr steckten chinesische Finanziers mehr Geld in Firmenkäufe als in den vergangenen zehn Jahren zusammen. Auch hier droht der deutschen Industrie massiver Aderlass gen Osten – aus Made in Germany wird Made in China. Das Wirtschaftsministerium lässt gerade klären, welche rechtlichen Möglichkeiten Deutschland hat, die chinesische Einkaufstour zu bremsen. Ein Gutachten soll in diesen Wochen fertig werden. Parallel dazu drängt das Ministerium die für den internationalen Handel zuständige EU-Kommission, ein Kontrollinstrument für solche Firmendeals zu schaffen. An den Begehrlichkeiten chinesischer Industriepolitiker hat sich durch den Amts-
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antritt Trumps nichts geändert. Bei einer China holt auf jüngsten Umfrage der deutschen AußenUSA 19,8 handelskammer in China erklärten fast Bruttoinlandsprodukt 30 Prozent der befragten deutschen Unter- in Billionen Dollar* nehmen, ihre rechtliche Lage habe sich 15 weiter verschlechtert. China 13,1 Die Bundesregierung appelliert nun an die chinesische Staatsführung, ihrer 10 Charmeoffensive konkrete Taten folgen zu lassen. „Wir nehmen Staatspräsident Xi 5 Deutschland 3,7 beim Wort und begrüßen, dass er sich für den Abbau von Marktbeschränkungen * in Preisen von 2016 und Benachteiligungen ausländischer Un2017 2000 ternehmen einsetzen will“, sagt Zypries. Prognose Möglichkeiten gäbe es genug, zwischen den vermeintlichen Welthandelspartnern Leistungsbilanzüberschuss Deutschland und China schwelen zahlrei- gegenüber den USA, 2016, in Milliarden Dollar che Konflikte. So will die Regierung in Peking die Auto- China 334 konzerne zwingen, einen bestimmten Anteil Elektrofahrzeuge zu verkaufen. Der Deutsch64 Gesetzentwurf sieht vor, dass die Herstel- land Quellen: IWF, BEA ler ihre Forschung und Entwicklung dafür in China offenlegen müssen – ein Trick, um sich das Know-how der Deutschen zu Hauptgründe, warum ein geplantes Invessichern. China gibt sich gesprächsbereit, titionsschutzabkommen zwischen der EU aber auf konkrete Änderungen am Ent- und China nicht vorankommt. „Es geht wurfstext wartet Berlin bislang vergebens. uns um faire Regeln“, sagt Zypries: Es ist nicht der einzige Streitpunkt. „Marktwirtschaftliche Investitionen müsDeutschlands Stahlkonzerne leiden unter sen auch marktwirtschaftlich motiviert einer Schwemme billiger Bleche aus der und getragen sein.“ Auch außenpolitisch gibt es mehr DiffeVolksrepublik, die mit staatlichen Subventionen hergestellt werden. Bislang sind die renzen als Gemeinsamkeiten. Aus den Konflikten an der europäischen Peripherie Proteste dagegen fruchtlos. Im Gegenzug verweigert die EU den hält sich Peking heraus. Dafür treten die Chinesen den Status einer Marktwirtschaft, Chinesen in ihrer Nachbarschaft umso entobwohl ihnen das Brüssel schon vor Jahren schiedener auf. Merkel hat bei ihrem letzin Aussicht gestellt hatte. Lenken die Eu- ten Pekingbesuch im vergangenen Juni ropäer ein, könnten sie nur noch deutlich ihre Besorgnis über das Expansionsstreben Chinas im Südchinesischen Meer ausgeeingeschränkt Strafzölle verhängen. Und auch beim Joint-Venture-Zwang in drückt. Sollten die Amerikaner ihre Rolle China bewegt sich wenig. Er ist einer der als Ordnungsmacht in Ostasien tatsächlich
aufgeben, so würde Deutschland sich gegen China stellen. Chinakenner warnen die Bundesregierung denn auch vor Naivität. „Wir dürfen nicht vergessen, dass wir mit China mehr Streitigkeiten haben als mit den USA“, sagt Handelsexperte Gabriel Felbermayr vom Ifo-Institut in München und warnt: „Auch die Chinesen werden für den gemeinsamen Kampf gegen die USA einen Preis fordern.“ Ähnlich sieht es Mercator-Experte Heilmann: „Ohne Druck wird sich an der Benachteiligung der deutschen Industrie nichts ändern.“ Der Bundesregierung empfiehlt er eine Pendeldiplomatie: „Man sollte die Politik Trumps nutzen, um Zugeständnisse Pekings zu erreichen. Umgekehrt kann man in einigen Feldern auf die amerikanische Politik einwirken.“ Tatsächlich gibt es neben der Handelspolitik Bereiche, in denen Berlin und Peking gemeinsam versuchen könnten, die amerikanische Politik zu beeinflussen. Dazu gehört vor allem der Kampf gegen den Klimawandel. Während Trump die Rückkehr zur Verbrennung von Kohle feiert, hat China erste Schritte zur Abkehr von fossilen Brennstoffen eingeleitet. Auch Trumps Geringschätzung der Vereinten Nationen stößt sowohl in Deutschland als auch in China auf Widerstand. Hier wäre eine Allianz gegen die USA denkbar. Mehr als eine punktuelle Zusammenarbeit aber ist unrealistisch. Eine gemeinsame Front gegen eine mögliche amerikanische Isolationspolitik wird es zwischen Deutschland und China nicht geben. Was die beiden Länder auf jeden Fall verbindet, ist indes eine neue, gemeinsame Hoffnung: dass Donald Trump seinen Kurs bald grundsätzlich ändert. Ralf Neukirch, Gerald Traufetter, Bernhard Zand
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„Gefühlt wie ein Bettnässer“
Gewalt Auch Männer werden in Partnerschaften misshandelt, Tendenz steigend. In Sachsen und Thüringen gibt es erstmals Schutzwohnungen für die Opfer.
* Name geändert.
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SVEN DOERING / DER SPIEGEL
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ie hatten sich im Chat an der Singlebörse von Freenet kennengelernt. Schon beim ersten Treffen brach sie in Tränen aus. Ihr gewalttätiger Mann misshandle sie. Sie habe Angst zu sterben. „Ich fand sie nicht sonderlich attraktiv“, erinnert sich Maik*. Aber er habe Mitleid gehabt. Sie aktivierte, so sagt er, sein Helfersyndrom. Er zog zu ihr. Maik war Anfang dreißig. 1,94 Meter groß, 109 Kilogramm schwer und Geschäftsführer eines kleinen Betriebs in Sachsen. Ein gestandener Mann. Die Frau ein wenig älter, 1,75 Meter groß. Nichts an ihr war Furcht einflößend. Doch in den sieben Jahren ihrer Beziehung habe sie aus ihm ein Wrack gemacht, sagt Maik, körperlich und seelisch. Habe ihn geschlagen und getreten. Er verlor seinen Job. Zurück blieben ein zertrümmertes Leben und tiefe Scham. „Ich habe mich gefühlt wie ein Bettnässer.“ Gewalt in Partnerschaften ist ein großes Problem, meist ist von Männern die Rede, die ihre Frauen schlagen, bedrohen oder vergewaltigen. Statistiken des Bundeskriminalamts (BKA) besagen, dass 81,8 Prozent der Opfer von Partnerschaftsgewalt Frauen sind. Doch das Dunkelfeld ist enorm. Schätzungen zufolge werden viele der häuslichen Exzesse nicht angezeigt. Vor allem Männer scheuten aus Angst vor Spott und Häme den Gang zur Polizeiwache. Während sich die Wissenschaft über das Phänomen noch nicht einig ist und eine dünne Datenbasis beklagt, zeichnet sich doch ein Trend ab. Das BKA zählt seit Jahren immer mehr Übergriffe auf Männer von weiblichen oder männlichen Partnern und Expartnern. 2012 registrierte die Polizei annähernd 20 000 Opfer, 2015 waren es bereits fast 23 200. In Sachsen wurden gerade zwei Männerschutzwohnungen eingerichtet. Im thüringischen Gera betreibt der Verein Gleichmaß mit Spenden eine solche Unterkunft. Derzeit sind dort drei Männer untergebracht, so Projektchef Tristan Rosenkranz. Zwei seien von ihren Frauen körperlich bedroht worden, einer mit einem Messer. Zudem beklagten sie eine „ökonomische Kontrollgewalt“ durch ihre Frauen. Ein Mann wurde von seiner Partnerin gestalkt. Zehn weitere Männer stünden bereits auf der Warteliste.
Gewaltopfer Maik: „Irgendwann tat es gar nicht mehr weh“
Deutschland
Die Zahl der Opferberatungen in Sachsen hat sich innerhalb von acht Jahren verdoppelt. Es gibt dort eine „Sensibilisierungskampagne“ mit einem eigenen Internetauftritt für misshandelte Männer: Gib-dich-nicht-geschlagen.de. Auch Schleswig-Holstein hat wegen der zunehmenden Gewalt ein Modellprojekt Männerberatung in Kiel, Flensburg und Elmshorn gestartet. Sie habe damit gerechnet, dass sich Männer melden würden, die über Missbrauch in der Kindheit reden wollten, sagt eine der Beraterinnen in Kiel. Doch tatsächlich hätten sich bisher nahezu ausschließlich Männer an das Büro gewandt, die Opfer häuslicher Gewalt geworden seien. Das Problem, klagt Staatssekretärin Anette Langner im Kieler Sozialministerium, werde „nach wie vor zu wenig wahrgenommen“. Der geschlagene Mann ist noch immer ein Tabu in der Gesellschaft. Das Sächsische Landeskriminalamt hat ein Lagebild zu häuslicher Gewalt im Freistaat erstellt. Die Beamten zählten fast 4000 Angriffe auf Frauen – und 1700 auf Männer ab 21 Jahren. Teils mit schweren Folgen: 35 Männer mussten stationär behandelt werden, zwei trugen bleibende Schäden davon, drei starben. Maiks Leben änderte sich, als seine Internetbekanntschaft die Scheidung von ihrem Mann vollzog: „Mit einem Mal hat sich die Stimmung komplett gedreht.“ Zunächst habe sie psychisch Druck gemacht: Seine Freunde schlechtgeredet, die Familie ausgeschlossen. Sie lebten in einem abgelegenen Haus, das ihr gehörte. Er empfand zunehmende Abhängigkeit und Isolation. Geld wurde das neue, bestimmende Thema der Beziehung. Seine Frau wollte das Haus sanieren und teure Dinge anschaffen, Maik war dagegen. „Sie vertrug keine Widerworte. Sie schrie und schrie, wie ein bockiges Kind.“ Er sei wahlweise die Lusche oder der Nichtsnutz gewesen. Dann begannen die Schläge. Benutzt habe sie dazu, was sie gerade greifen konnte: das Telefon, eine Blumenvase, eine Pfanne. Zu Beginn, sagt Maik, habe er sie angebrüllt, sie solle aufhören. Doch dann habe er sich in eine Ecke gesetzt und es einfach über sich ergehen lassen. „Irgendwann tat es gar nicht mehr weh.“ Danach ging er aus dem Haus, kam wieder und räumte auf. „Ich dachte, damit kann ich sie besänftigen.“ Und immer habe er geglaubt: Heute war es bestimmt das letzte Mal. Gewehrt hat er sich nie. Der Sozialwissenschaftler Hans-Joachim Lenz beschrieb das Phänomen des still leidenden Mannes in seinem Buch über Männer als Opfer so: Im traditionellen Rollenverständnis werde vom Mann erwartet, „dass er aktiv und überlegen ist, mit seinen
Problemen allein fertig wird und sich jederzeit und selbstverständlich ohne Hilfe von außen wehren kann“. Es werde erwartet, dass ein Mann nicht leide – „oder zumindest sein Leiden nicht zeigt“. Maik beherrschte dieses Versteckspiel offenbar perfekt. Den Arbeitskollegen tischte er die tollsten Geschichten auf, wo denn die blauen Flecken nun wieder herstammten. Er war der Chef, wie konnte er da zugeben, ein Problem mit seiner Frau zu haben? Er hatte Angst, sich lächerlich zu machen. Zu Hause versuchte er, die Stimmung mit Blumen zu retten. Doch wenn er die falschen brachte, bekam er die Vase an den Kopf geworfen. Einmal habe er mit dem Auto fliehen wollen, einem riesigen Pick-up. Da habe sie sich in den Weg gestellt und einen schweren Stein auf die Motorhaube gewuchtet: „Der nächste geht an deinen Kopf.“ Maik sagt, von dem Moment an habe er um sein Leben gefürchtet. Zusammen hätten sie 11 000 Euro verdient, doch das habe ihr nie gereicht. Er habe Kredite aufgenommen, sogar in die
Maiks Eltern kennen seine Leidensgeschichte bis heute nicht. Seine Scham ist zu groß. Firmenkasse gegriffen. Doch sie habe ihn angespuckt, ihm das Knie in den Unterleib gerammt, ihn die Treppe hinabgestoßen. Maik brach sich das Knie. Von der Leiter gefallen, sagte er in der Firma. Er zeigt Narben an seinem Knie. Zweimal habe er versucht, sich umzubringen. Er stieg auf einen Telefonmast und wollte springen. Ein Freund konnte ihn unter Tränen dazu bewegen herunterzukommen. Seine Frau habe sich lustig gemacht: „Wenn dir weiter nichts einfällt, du feige Sau.“ Dass er viele Leidensgenossen haben könnte, kam Maik nie in den Sinn. Das BKA beklagt, dass es seit Jahren deutschlandweit keine repräsentativen Opferbefragungen bei Männern gegeben habe. Vorhandene Erhebungen legten aber nahe, dass Männer etwa gleich häufig wie Frauen zumindest einmal von ihrem Partner angegriffen wurden. Eine internationale Gesundheitsstudie von 2014 in sechs europäischen Städten kam zu dem Ergebnis, dass 3,5 Prozent der Frauen angaben, im Jahr zuvor Opfer eines körperlichen Angriffs geworden zu sein. Bei den Männern waren es 4,1 Prozent. Die Annahme, dass Frauen genauso gewalttätig sind wie Männer, will die Polizei aber unter Hinweis auf Forschungsergebnisse so nicht stehen lassen. Der Unterschied liege vor allem in der Schwere der Misshandlungen: Frauen erlebten weltweit
erheblich häufiger schwere und lebensbedrohliche Gewalt. Frauen als Täterinnen reagierten mit ihrer Gewalt häufiger, als das bei Männern der Fall ist, auf einen Angriff ihres Partners. Sieben Jahre lang lebte Maik in der Beziehung, die er, wie er sagt, als „eine einzige Tortur“ erlebte. Irgendwann reifte der Entschluss: Es ist genug. Auf dem Weg von der Firma nach Hause schaltete er das Handy aus und fuhr in ein Hotel. Sie fand ihn, tobte. Er zog in eine Wohnung, auch da habe sie plötzlich vor der Tür gestanden und mit den bloßen Händen die Scheibe an der Tür eingeschlagen. Die Polizei rückte an. Die Hölle ging weiter. Er schlief bei Arbeitskollegen im Garten, übernachtete im Auto. Maik hätte sich einen Schutzraum gewünscht, wo ihn niemand so einfach finden kann. Den gibt es jetzt, in einem Dresdner Plattenbaugebiet. Drei Schlafzimmer, Küche, Bad. Ikea-Charme mit ahnungsloser Nachbarschaft, als Gästewohnung getarnt. Es ist die erste Männerschutzwohnung in Sachsen. Bis zu drei Männer können hier mit ihren Kindern unterkommen, für drei Monate, die Adresse ist wie bei Frauenhäusern geschützt. Die Betroffenen werden betreut, ihr Leben wird neu geordnet. 65 000 Euro zahlt das Sozialministerium für zwei Wohnungen in Dresden und Leipzig jährlich. „Moderne Gleichstellungspolitik“, sagt Ministerin Petra Köpping (SPD), „richtet sich an beide Geschlechter.“ Torsten Siegemund vom Männernetzwerk Dresden betreut eine der Wohnungen. Er bekam als Erstes einen Anruf von Maik, der begeistert war, dass es endlich eine Anlaufstelle gibt. „Bisher konnten wir die Männer nur beraten, ihnen sagen, sie sollen bei Freunden oder Verwandten untertauchen. Oder sich ein teures Zimmer nehmen“, so Siegemund. Maik wohnt heute zurückgezogen im Vogtland, er bekam Hilfe von seiner Rechtsanwältin. Er hat jetzt ein Postfach, seine Meldeadresse ist beim Amt gesperrt. Ein Klinikaufenthalt und eine Therapie brachten ihn wieder ins Gleichgewicht. Er sei noch immer misstrauisch gegenüber Frauen, sagt er. Seine Eltern kennen seine Leidensgeschichte bis heute nicht. Seine Scham ist zu groß. Streit geht Maik instinktiv aus dem Weg: „Wenn es laut wird, verlasse ich den Raum.“ Maik sitzt in seiner 26 Quadratmeter kleinen Wohnung an seiner Doktorarbeit. Ein Bett, eine kleine Couch, eine Orgel. Er wolle gar nicht mehr Platz, sagt er: „Da kann ich schnell alles zusammenpacken, falls ich plötzlich wegmuss.“ Unter dem Heizkörper schaut ein schwarzes Fellbündel hervor. Eine Katze aus dem Tierheim. Maik hat sich zielgerichtet die ausgesucht, die nie vermittelt werden konnte. Steffen Winter DER SPIEGEL 16 / 2017
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Deutschland
„Die alte Türkei ist tot“ Referendum Der deutsch-türkische Sozialarbeiter Ercan Yaşaroğlu fürchtet die Allmachtspläne von Recep Tayyip Erdoğan, sein Schwager hingegen verehrt den Präsidenten. Ein Streitgespräch.
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MILOS DJURIC / DER SPIEGEL
s ist ein grauer, kalter Tag in Berlin. halt für seine Pläne. Glaubst du wirklich, zur Schule gegangen. Damals waren wir Im Café Kotti ist viel los. Ein paar dass sich so viele Leute in der Türkei irren? beide links. Studenten sitzen auf klapprigen Yaşaroğlu: Ehrlich gesagt, ja. Irgendwie hat Uçak: Es gab die AKP zu dieser Zeit ja noch Holzstühlen und trinken Kaffee. Auch der 15. Juli, der Tag, an dem der Putschver- gar nicht. Ich finde mich übrigens noch viele arabische und türkische Männer such war, die Türken verändert. Plötzlich immer links. Aber deshalb kann ich trotzvertreiben sich an diesem Freitagnach- schwingen überall nationalistische Töne mit. dem für die Verfassungsänderung sein. mittag dort die Zeit. Rauchschwaden hän- Uçak: Dein Blick auf die Türkei ist sehr Yaşaroğlu: Hast du denn keine Angst, dass gen in der Luft. Ercan Yaşaroğlu, 57, hat europäisch. Er blendet komplett aus, was die Türkei auf einen Bürgerkrieg zusteusich mit dem Laptop in eine ruhigere Erdoğan für das Land geleistet hat. Schau ert? Dieser starke und neu aufkeimende Ecke auf ein Sofa zurückgezoNationalismus bedroht die gen, um mit seinem Schwager Völkervielfalt in der Türkei. zu sprechen. Seit den AchtSchau doch mal, welche Spanzigerjahren lebt Yaşaroğlu in nungen es in der kurdischen Deutschland, er floh damals Frage wieder gibt. Die Türkei vor dem türkischen Militärwar außerdem einmal eine regime. Vor acht Jahren hat Brücke zwischen Ost und der Streetworker sein Café am West. Jetzt sind wir eine AuKottbusser Tor eröffnet, heute tokratie von vielen im Nahen eine Multikulti-Institution. Osten. Es fehlt nur noch, dass Yaşaroğlu hofft, dass die Erdoğan das arabische AlphaTürken sich an diesem Sonnbet in der Türkei wieder eintag gegen eine Verfassungsführt. änderung und damit auch geUçak: Tayyip Erdoğan nutzt gen einen Machtzuwachs für diesen Nationalismus nur, um Staatspräsident Recep Tayyip Stimmen vor dem Referendum Erdoğan entscheiden. Seine zu gewinnen. Danach wird es Neinstimme hat er im türkiwieder ruhiger werden. schen Konsulat bereits abgeYaşaroğlu: Mit dieser Strategie geben. richtet er aber enormen SchaDie Skype-Verbindung steht: den an. Auch was die außenAuf dem Computerbildschirm politischen Beziehungen bewinkt ihm sein Schwager Retrifft. Es gibt Probleme mit cep Uçak, 57, zu. Der sitzt an allen. Mit Deutschland, mit der türkischen Ägäisküste im den Niederlanden, mit den Garten seiner Pension in AyUSA. vacık, die er gemeinsam mit Erdoğan-Kritiker Yaşaroğlu in Berlin: „Er richtet enormen Schaden an“ Uçak: Ich habe auch das Geseiner Frau Esma betreibt. fühl, dass es kaum noch LänDie Sonne scheint, Fischerboote schau- dir doch mal an, wie modern zum Beispiel der gibt, die der Türkei wohlgesinnt sind. keln im Meer. Uçak teilt nicht nur den die Krankenhäuser mittlerweile sind. Frag Ich ziehe daraus aber einen anderen Vornamen mit dem türkischen Staatsprä- mal die Leute, zu welcher Zeit es ihnen Schluss: Für mich ist das ein weiterer Beleg sidenten, sondern auch die politischen besser ging: vor Erdoğan oder während dafür, dass wir einen starken Mann an der Überzeugungen. seiner Regierungszeit. Keiner kann abstrei- Spitze brauchen. Außerdem finde ich es ten, wie erfolgreich dieser Mann ist. falsch, immer nur der Türkei die Schuld Yaşaroğlu: Recep, mir fällt es aus der Fer- Yaşaroğlu: Es kann aber auch keiner ab- in die Schuhe schieben zu wollen. ne sehr, sehr schwer nachzuvollziehen, streiten, dass in letzter Zeit vieles schlecht Deutschland und Holland haben ihren Anteil dazu beigetragen, dass die Situation warum du am Sonntag mit Ja stimmen läuft. willst. SPIEGEL: Streiten Sie sich in der Familie jetzt so ist, wie sie ist. Uçak: Ach komm, so schwierig ist das doch häufig über Politik? Yaşaroğlu: Tayyip Erdoğan hat diese digar nicht. Die Türkei erlebt innenpolitisch Uçak: Eigentlich nicht. Aber im Moment plomatischen Krisen doch bewusst prowie auch außenpolitisch gerade drama- ist das ja eine ganz besondere Situation. voziert. Er hat übertrieben mit seinen tische Zeiten. Damit das Land das durch- Die Positionen in unserer Familie sind sehr Nazivergleichen und so weiter. Aber auch steht, brauchen wir einen starken und gemischt. Meine Frau zum Beispiel wird das war natürlich Wahlkampftaktik. Er charismatischen Führer, der in den wich- mit Nein stimmen, meine Mutter auch. wollte die Türken im Ausland mobilitigen Situationen schnell entscheiden Aber ich bin ein echter Demokrat. Ich fin- sieren. kann. Tayyip Erdoğan hat mehr als 40 Mil- de ihre Ansichten bedauerlich, aber ich SPIEGEL: Was für ein Land wird die Türkei lionen Anhänger und einen großen Rück- respektiere sie auch. Genauso wie ich dei- nach dem Referendum sein? Was ist Ihre ne Meinung toleriere, Ercan. Prognose? Yaşaroğlu: Wir sind ja auch schon sehr lan- Yaşaroğlu: Ich wage nicht, mir das auszuDas Gespräch moderierten die Redakteure Katrin Elger und Maximilian Popp. ge befreundet. Wir sind sogar zusammen malen. 48
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EMIN OZMEN / LEJOURNAL / DER SPIEGEL
Uçak: Ich denke, dass sich Tayyip Erdoğan Uçak: Selbstverständlich. Es war zum Bei- SPIEGEL: Hat sich Ihr Blick auf Deutschland durchsetzen wird. Und dann wird es leich- spiel falsch, dass Erdoğan lange Zeit mit durch die Debatten der vergangenen Woter für ihn sein, das Land zu regieren. Fethullah Gülen zusammengearbeitet hat. chen und Monate verändert? Yaşaroğlu: Ja, dann kann er tun, was er Ich behaupte nicht, dass die Türkei perfekt Uçak: Nein. Ich halte Deutschland nach wie will. Was glaubst du, wie lange der Aus- ist. Im Gegenteil: Wir haben eine Menge vor für ein großartiges Land. Ihr Deutnahmezustand, den Tayyip Erdoğan ver- Probleme. Unserer Wirtschaft könnte es schen müsst nur anerkennen, dass die Türbesser gehen, auch der Tourismus entwi- kei ihren eigenen Willen hat. Wir lassen hängt hat, noch andauern wird? Uçak: Mindestens noch ein weiteres Jahr. ckelt sich nicht so, wie wir uns das vor- uns nicht länger vom Ausland vorschreiEs geht nicht anders. Die Gülenisten stellen. Aber das Präsidialsystem wird uns ben, was wir zu tun, wen wir zu wählen haben den gesamten Staatsapparat er- dabei helfen, diese Probleme hinter uns haben. obert. Sie sitzen überall, in der Justiz, in zu lassen. Yaşaroğlu: Erdoğans Hetze gegen die Bunder Polizei. Sie können großen Schaden SPIEGEL: Erdoğans harter Kurs schreckt desregierung, die Bespitzelung von Opanrichten, wie wir am 15. Juli gesehen jetzt schon viele Besucher ab. Wie nehmen positionellen in Deutschland durch den haben. Es ist wichtig, dass wir sie loswer- Sie die Berichterstattung der ausländischen türkischen Staat, der Fall Yücel – all das den. Und deshalb braucht Erdoğan die Medien über die Türkei wahr? hat türkischen Migranten das Leben in entsprechende Macht. Ihm ist nach dem Uçak: Viele Journalisten sind mir zu par- Deutschland schwerer gemacht. Die VorPutschversuch gar nichts anderes übrig teiisch. Sie geben sich nicht damit zu- urteile, die wir alle nur allzu gut kennen, geblieben, als schnell zu hansind wieder da. Plötzlich heißt deln. es wieder, die Integration sei gescheitert, der Doppelpass Yaşaroğlu: Aber in den Gefängsei ein Problem, der Islam sei nissen sitzen doch nicht nur gefährlich. Rassisten nehmen Gülenisten. Es sind auch viele Erdoğan als Vorwand, um ihMenschen, die nur ihrer Arren Hass gegen Einwanderer beit nachgegangen sind: Jourauszuleben. Das macht mich nalisten, Anwälte, Lehrer. traurig. Uçak: Woher willst du das denn wissen? Man kann in die Köpfe SPIEGEL: Wie erklären Sie der Leute doch nicht reinsich die Begeisterung unter schauen. Sie müssen sich jetzt Deutschtürken für Erdoğan? verantworten – und wer unYaşaroğlu: Die naheliegende schuldig ist, kommt auch wieErklärung ist, dass sich viele der auf freien Fuß. Ich habe Türken in Deutschland immer gerade erst wieder darüber genoch wie Fremde, wie Bürger lesen, dass zwei Dutzend Menzweiter Klasse fühlen – obschen freigelassen wurden. wohl sie seit Jahren oder Jahrzehnten hier leben. Erdoğan SPIEGEL: Aber Zehntausende vermittelt ihnen jene Anersind noch in Haft. kennung, die sie hierzulande Yaşaroğlu: Das mit den Freioft vermissen. lassungen habe ich nicht mitbekommen. SPIEGEL: Was muss geschehen, damit Deutschland und die Uçak: Eben. Das ist ja Teil des Türkei wieder zueinanderProblems, dass du immer nur finden? Ausschnitte siehst. Die Journalisten haben übrigens nicht nur Erdoğan-Anhänger Uçak in Ayvacık: „Er ist ein charismatischer Führer“ Yaşaroğlu: Die gegenseitigen ihre Arbeit gemacht. Jedenfalls Beschimpfungen müssen aufsoweit wir das wissen. Sie haben sich eines frieden, darüber zu berichten, was in der hören. Unsere Regierungen müssen einen Verbrechens schuldig gemacht, und dafür Türkei geschieht. Sie wollen selbst Politik Weg finden, anständig miteinander zu remüssen sie sich jetzt verantworten. So ist machen. In Deutschland haben Zeitungen den. Und Erdoğan soll sich bei der Bundas in einem Rechtsstaat nun mal. Wähler dazu aufgefordert, beim Referen- desregierung für seine Nazivergleiche entschuldigen. SPIEGEL: Woher wollen Sie wissen, dass die dum mit Nein zu stimmen. Journalisten Verbrechen begangen haben? SPIEGEL: Wo haben Sie das gesehen? Uçak: Die Freundschaft zwischen DeutDenken Sie auch so über den deutsch-tür- Uçak: Die „Bild“-Zeitung hat getitelt: schen und Türken ist über Jahrzehnte hinkischen Journalisten Deniz Yücel, der seit „Atatürk hätte ‚Nein‘ zum Präsidialsystem weg gewachsen. Sie kann nicht innerhalb Wochen in der Türkei in Untersuchungs- gesagt“. Das haben dann auch türkische weniger Monate zerstört werden. haft sitzt? Medien aufgegriffen. Yaşaroğlu: Mir wäre trotzdem sehr viel Uçak: Ich weiß über den Fall Yücel zu we- Yaşaroğlu: Ich vermisse in Berichten Respekt wohler dabei, wenn Erdoğan sich bei dem nig. Aber unsere Justiz arbeitet gewissen- gegenüber den Menschen in der Türkei. Referendum nicht durchsetzen würde. haft, das können Sie mir glauben. Journalisten sollen kritisch schreiben, dafür Recep, willst du nicht doch lieber mit Nein Yaşaroğlu: Erdoğan hat die Meinungs- und sind sie da. Aber ich stoße in großen deut- stimmen? Pressefreiheit abgeschafft. Jeder, der ihn schen Zeitungen immer wieder auf Artikel, Uçak: Ganz bestimmt nicht! kritisiert, ist in Gefahr: türkische Journa- die bewusst beleidigend und verletzend sind. SPIEGEL: Herr Yaşaroğlu, Herr Uçak, wir listen, deutsche Journalisten, deutsch-tür- SPIEGEL: Können Sie dafür ein Beispiel danken Ihnen für dieses Gespräch. kische Journalisten. Früher gab es eine nennen? Video: Warum ist Erdoğan Türkei, in der die Menschen miteinander Yaşaroğlu: Wenn Erdoğan in Berichten als furchtbar, Herr Yaşaroğlu? diskutierten. Diese Türkei ist tot. „Irrer vom Bosporus“ beschrieben wird, SPIEGEL: Herr Uçak, gibt es in Ihren Augen dann ist das nicht nur falsch, sondern es spiegel.de/sp162017erdogan hilft ihm auch im Wahlkampf. auch Fehler, die Erdoğan gemacht hat? oder in der App DER SPIEGEL DER SPIEGEL 16/ 2017
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Q UELLE: STI F TER V ER BA N D FÜR DI E DEUTSCH E WI SSEN SCH A F T
Gesellschaft Früher war alles schlechter Nº 68: Zahl der Vereine
1960 gab es in Deutschland 86 000 Vereine
2015 waren es 598000
eine, wovon mehr als ein Viertel bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gegründet wurde. Neu gegründete Vereine widmen sich vor allem der Umwelt und dem Naturschutz, der Bildung und Erziehung. Im Gegensatz zum klassischen Kegel- oder Gesangsverein sind Fördervereine, deren Zahl stetig steigt, weniger gemeinschaftsbildend, sondern eher Zweckgemeinschaften zur finanziellen Unterstützung etwa von Schulen oder Kinderorchestern. Bei rund einem Drittel aller Vereine wächst die Mitgliederzahl, bei knapp jedem vierten geht sie zurück. „Ein Vereinssterben gibt es nicht“, sagt Holger Krimmer vom Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, der diese Daten gesammelt hat. maik.grossekathoefer@spiegel.de
Floristik
SPIEGEL: Wie man das jetzt genau macht, das ist doch auch ein bisschen Geschmackssache. Herold: Nein, nicht bei der Technik des klassischen deutschen, rund gebundenen, durchgestaffelten Straußes aus mindestens fünf Werkstoffen. Die Bindestelle muss sauber sein, spiral angelegt. Da gibt
Wie schwierig ist der Frühling, Herr Herold? Jürgen Herold, 34, war deutscher Meister im Blumensträußebinden, lehrt in Peking und gilt als einer der besten Floristen der Welt. SPIEGEL: Herr Herold, Sie be-
schäftigen sich seit 18 Jahren mit der Kunst, den perfekten Blumenstrauß zu binden. Was ist so schwer daran? Herold: Ein Blumenstrauß muss eine transparente Wolke aus Blumen sein, die bis in die Tiefe hinein gestaltet ist, sodass man nicht nur die Umrisse wahrnimmt, sondern ei50
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nen das heimelige Gefühl überkommt, man schaue in einen verwilderten Garten hinein und entdecke dort am Boden die Blüten einer alten, vergessenen Tulpenzwiebel. SPIEGEL: Verstehe. Herold: Das Anspruchsvollste ist die Technik des Aufspreizens. Der Strauß muss sich um 180 Grad aufklappen lassen, ohne dass man es bemerkt oder sieht, es muss trotzdem natürlich wirken. Das unwillkürlich aussehen zu lassen verlangt die größte Willkür. Das ist das Maß der Dinge, das Meisterschulniveau. Wenn es einem über Stunden in der Hand ganz langsam gelingt, dann ist das sehr befriedigend.
YVES SUCKSDORFF
Es gibt kein Vereinssterben. Kürzlich war in der „Sächsischen Zeitung“ unter der Überschrift „Gegen das Vereinssterben“ zu lesen, dass der Rassekaninchenzüchterverein Radebeul über „nur noch drei aktive Mitglieder“ verfüge. Die Jugend habe kein Interesse mehr an der Kaninchenzucht. Das ist bedauerlich. Insgesamt jedoch gilt: Vereine kommen und gehen, aber es kommen viel mehr als gehen. Seit 1970 hat sich die Zahl der Vereine in Deutschland verfünffacht. Derzeit sind rund 36 Millionen Jugendliche und Erwachsene Mitglied in mindestens einem Verein – fast jeder Zweite also. 2014 wurde der bisherige Höchststand erreicht: 630 143 im Amtsregister eingetragene Vereine. Etwa 15 Prozent davon sind Sportver-
Herold
es nichts zu diskutieren. Der Ausdruck, die Bewegung, die Linienform, die Farbe, die Stiellänge, die Saison: Das alles muss passen. Zu orangefarbenen Tulpen und warmgelben Ranunkeln brauche ich kein Violett. Aber diese Aura von Ländlichkeit, Urwüchsigkeit, Natürlichkeit, die gerade beliebt ist, das kann sich natürlich ändern. Vielleicht werden wir in Zukunft opulenter, nicht so kleinlaut, still, es darf auch mal wieder schreien. SPIEGEL: Was macht Sie wütend? Herold: Blau gefärbte Rosen regen mich auf. Oder geschnittene Orchideen, auf Plastikunterflächen geklebt, da wird mir übel. jst
Gesellschaft
sie den Schein hatten, das ist ein Schnitt von 35. Rekordhalter ist ein Mann aus Liverpool mit 39 Anläufen. Irgendwann verlor Whiteley-Mason dann doch die Lust am Verlieren. „Ich hatte die Nase wirklich voll davon, ich habe keinen Sinn mehr darin gesehen, den Führerschein Eine Meldung und ihre Geschichte Warum zu machen“, sagt er. Wird ja wohl auch gehen, dachte er. ein Brite 25 Jahre brauchte, Das Problem, wenn man es so nennen will, war aber, um den Führerschein zu machen dass er im Beruf mehr Erfolg hatte als auf der Straße. Er stieg auf, wurde Geschäftsführer eines Pflegeheims, er musste öfter mal reisen oder wurde zu Notfällen gerufen. hristian Whiteley-Mason hat neuerdings eine Das war mit dem Bus nicht zu machen, und er wollte Pressesprecherin, die wissen möchte, wie viel man nicht ständig mit dem Taxi fahren oder seinen Lebensdenn für ein Interview mit ihrem Klienten zu zahgefährten bitten, ihn hinzubringen. len bereit sei. Whiteley-Mason wohnt in Barnsley, einer Also fing er wieder an mit den Fahrstunden, bis er im Stadt in der Nähe von Sheffield, er ist 42 Jahre alt und Januar dieses Jahres und 14 Jahre nach dem 32. Versuch leitet ein Altenpflegeheim mit 35 Zimmern, ein großzum 33. Mal antrat. „Alle haben mich ausgelacht“, sagt flächig tätowierter Mann, dessen wesentliche Leistung Whiteley-Mason. „Ich wollte es darin besteht, am Steuer ein Verihnen zeigen.“ sager zu sein. Er lernte seinen 14. Fahrlehrer 25 Jahre und 33 Versuche hat Whiteley-Mason gebraucht, um kennen, einen Mann namens Wayne, den britischen Führerschein zu maoffenbar ein großer Könner seines chen. Erst im Februar dieses Jahres Fachs. Ihm gelang es, seinem Fahrhat es endlich geklappt. Gekostet schüler die Aufregung zu nehmen. hat ihn die ganze Sache am Ende Er übte jetzt mit einem Automa10 000 Pfund, etwa 12 000 Euro. Ein tikwagen. Weil er nicht mehr schalkleines Vermögen, darum kann er ten musste, konnte er sich besser wohl jedes Honorar gebrauchen. auf den Verkehr konzentrieren. In der Theorieprüfung musste Weil er aber ein netter Mensch ist Whiteley-Mason mindestens 43 und durchaus stolz auf seinen späten von 50 Multiple-Choice-Fragen in Erfolg, erzählt er seine Geschichte 57 Minuten richtig lösen. Er kam dann auch ohne Geld, am Telefon. auf 47 – souverän. Dann musste er „Meine erste Fahrstunde habe sich an einem Bildschirm etliche ich 1992 genommen“, sagt er. Da Whiteley-Mason Filmclips mit Verkehrsszenen anwar er 17. Bill Clinton wurde zum sehen und eine Taste drücken, US-Präsidenten gewählt, Hanswenn er eine gefährliche Situation Dietrich Genscher trat als Deutschentdeckte, 44 von 75 möglichen lands Außenminister zurück, und Punkten waren das Minimum. Er in Barnsley flog der untalentierte schaffte 55 – schon knapper. WürMr. Whiteley-Mason durch die de er doch wieder nervös werden? Fahrprüfung. Vor der praktischen Prüfung beBei seinem ersten Fahrlehrer Von der Website Bild.de tete Christian Whiteley-Mason aus nahm er volle 56 Stunden UnterBarnsley: „Lieber Gott, mach, dass mich nicht wieder diericht. „Er meinte, ich solle aufgeben, ich würde es nie se strenge Frau prüft, die mich immer durchfallen ließ.“ schaffen“, sagt Whiteley-Mason. Aber aufgeben kann der Dann kam der 21. Februar, ein Dienstag. Die Prüfung beMann offenbar genauso schlecht wie Auto fahren. gann morgens um acht, Whiteley-Mason fühlte sich gut, Er sei nun mal ein nervöser Typ, sagt er. Immer schon auch seine Gebete wurden erhört: Am Fahrschulzentrum gewesen. Sobald er im Auto saß, wurde er nervös, und sowartete eine Prüferin auf ihn, die er noch nicht kannte, bald der erste Fehler gemacht war, noch nervöser. Seine die Dame hieß Sue. Sie ging mit ihm zum Auto und stellte Beine zitterten, er verlor den Überblick und das Gefühl ein paar Fragen. Die erste lautete: „Wie wechselt man für den Verkehr. Die Fehler, die er so machte, waren keine einen Reifen?“ Whiteley-Mason antwortete: „Ich rufe bei Kleinigkeiten. Als er rückwärts um die Kurve fahren sollte, Green Flag an.“ Green Flag ist ein Pannenservice. Sue kam er auf den Gehweg und rammte ein Auto. Er übersah lachte, und Whiteley-Mason dachte: Heute klappt es! ein Stoppschild. Ein paarmal wechselte er die Fahrschule, Als die Testfahrt vorbei war, hatte Sue auf dem Prüaber das änderte nichts am Resultat. fungsbogen nur drei kleine Patzer notiert: Er war zögerlich Die Jahre vergingen. Der Eurotunnel wurde eröffnet, in einen Kreisverkehr gefahren, er hat an einer Kreuzung 1994, und Whiteley-Mason flog durch die Fahrprüfung. etwas spät gebremst und hatte beim rückwärts Einparken Lady Di starb, 1997, er flog durch die Fahrprüfung. In korrigieren müssen. 15 solcher Schnitzer wären erlaubt London feierte der erste „Harry Potter“-Film Weltpremiere, gewesen. Sue gratulierte ihm, er fiel ihr um den Hals. 2001, er flog durch die Fahrprüfung. Bis 2003 war er Gleich am nächsten Tag kaufte er sich einen gebrauch32-mal durchgefallen. 32-mal in gut zehn Jahren, macht ten Smart, gelb mit schwarzem Dach. Jeden Tag fährt er einen Fehlversuch etwa alle vier Monate. nun damit zur Arbeit und zum Einkaufen, und er macht Die Niederlagen waren ihm offenbar zur Gewohnheit Spritztouren durch die Stadt. „Es fühlt sich einfach großgeworden. Dass er sich inzwischen auf einen Spitzenplatz artig an“, sagt Christian Whiteley-Mason. In all der Zeit in dieser Statistik des Scheiterns emporgearbeitet hatte, hat er viel über Autos gelernt und noch mehr über sich. war ihm nicht bewusst. Die 20 schlechtesten Fahrschüler Englands haben zusammen 700 Versuche gebraucht, bis Maik Großekathöfer
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Frau Schultz reist in den Krieg Schicksale Renate Schultz aus Berlin liebte einen deutschen Kurden. Letztes Jahr starb er im Kampf gegen den IS. Nun fuhr sie in den Irak, weil sie wissen wollte, warum ihr Mann starb, wie er starb – und wer er eigentlich war. Von Takis Würger und Christian Werner (Fotos)
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n einem kalten Berliner Wintermorgen packt Renate Schultz, 63 Jahre alt, ihren Rollkoffer, nimmt ein Taxi nach Tegel, steigt in eine Maschine der Lufthansa und fliegt in den Krieg. Sie will nach Mossul reisen, an die Grenze des „Islamischen Staats“. Im Oktober des vergangenen Jahres hatte Schultz von dort eine Kurznach52
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richt ihres Mannes bekommen. Er schrieb ihr: „Hallo Rena, hier ist schwierig.“ „Das hast du befürchtet“, antwortete Schultz, „bleibt es bei deinem Entschluss zurückzukehren?“ „Ja, auf jeden Fall.“ „Küss dich“, schrieb Schultz. Drei Tage später war ihr Mann tot.
Schultz und ihr Partner waren ein ungleiches Paar. Dort ihr Mann, Said Cürükkaya, bei seinem Tod 49 Jahre alt, ein Kurde mit deutschem Pass, der so etwas wie ein Doppelleben führte. Er war Besitzer einer Wäscherei, der „RWS Textilpflege“, gelegen in einem Einkaufszentrum. In seinem Leben davor war er ein Mann, der getötet hat, der eine Waffe bedienen und eine Tretmine le-
Gesellschaft Witwe Schultz im Irak Eine Frau, die nur Frieden kennt
gen konnte. Dieses Leben war eigentlich vorbei, aber er war nie ganz davon losgekommen. Hier Renate Schultz, eine ehemalige Fabrikarbeiterin, die über den zweiten Bildungsweg Jura studiert hatte, während sie ihre drei Kinder großzog. Eine erfolgreiche Anwältin aus Berlin. Eine Frau, die kleine Hundeaufkleber auf ihre Zigarettenschachteln klebt, weil ihr die Bilder der Geschwüre zu hart sind. Es gab vieles, was Said und Schultz trennte, die Sprache, die Kultur, aber er mochte ihre Stärke, und sie mochte, dass er anders war als andere, sagt sie. Ihre Liebe war stärker als der Zweifel, ob so eine Partnerschaft funktionieren könne. Nun ist die Hälfte dieser Liebe gestorben, und ein Raum hat sich geöffnet für die Frage, ob Schultz ihren Mann richtig verstanden hat. Sie sagt, sie mache diese Reise, weil sie Antworten suche: „Warum musste Said
sterben?“ und „Wer hat Schuld am Tod meines Mannes?“ Sie hat in Kurdistan ein paar Freunde Saids angerufen und gesagt, sie würde kommen. Einen konkreten Reiseplan gibt es nicht, das sei schwierig mit Kurden, sagt Renate Schultz. Als sie am Ausgang des Flughafens in Arbil einen alten Freund ihres Mannes erblickt, der sie abholt, steigen ihr die Tränen in die Augen. Schultz ist eine elegante Frau, sie trägt einen schwarzen Mantel eines japanischen Designers und setzt sich eine Sonnenbrille auf, als sie das Flughafengebäude verlässt. Vor ihr erstreckt sich die Wüste bis zum Horizont. Der Fahrer des Jeeps trägt Uniform, hat dicke Muskeln, einen Schnurrbart und lacht nie. In einem Hotel im christlichen Viertel Arbils trifft Renate Schultz einen Scheich, der die Hälfte des Jahres in Bottrop lebt und in der anderen Hälfte im Irak mit seiner Kalaschnikow Terroristen tötet, wie er sagt. Der Scheich sagt, er sei einer der besten Freunde Saids gewesen. Als Said sterbend im Krankenhaus gelegen habe, habe er neben dem Bett gesessen. Er stellt eine Flasche Johnnie Walker auf den Tisch, schenkt sich ein und lässt von einem Pagen Pistazien rösten, die er heiß verzehrt. Schultz fragt, was passiert sei am 26. Oktober des vergangenen Jahres. „Said hat gesagt, wenn wir nicht kämpfen, nimmt der IS Rom ein“, sagt der Scheich. Es ist keine Antwort. Dann fällt der Strom aus, und alles liegt im Dunkeln. Schultz fragt weiter in die Finsternis hinein, sie lächelt dazu, aber das Lächeln verschwindet langsam, als sie auf keine Frage eine Antwort bekommt. Sie fängt an zu rauchen, „American Spirit“, eine nach der anderen. Der Scheich redet vor sich hin, er gibt Antworten auf Fragen, die niemand stellt. Zwischendurch ruft er immer wieder Menschen in Deutschland an, die dann ein paar Sätze sagen, bevor der Scheich auflegt. Einer dieser Männer am Telefon sagt: „Said war ein Symbol.“ Für Schultz war Said kein Symbol, sondern der Mann, mit dem sie 15 Jahre ihres Lebens teilte. Sie sah ihn zum ersten Mal, als er mit abgelatschten Schuhen in ihre Kanzlei spazierte, ein kleiner Mann mit Olivenaugen, der lächelte. Er war mit gefälschten Papieren nach Deutschland gereist. Schultz arbeitete für eine Kanzlei, die spezialisiert war auf Asylanträge. Said wurde ihr Mandant. Er erzählte ihr, wie er in einem Bergdorf in der Türkei aufgewachsen war, wie er unter einem Dach mit Ziegen gelebt hatte. Wie die Eltern Paprika pflanzten und Brot aus selbst gedroschenem Weizen buken. Was er erzählte, klang nach einer schönen Kindheit. Aber Schultz fragte sich, wie schön eine Kindheit sein kann, wenn Kinder ihre Sprache nur flüstern dürfen.
Saids Muttersprache ist Zazaki, eine Sprache der Kurden. Die Türken hatten Zazaki verboten. Said gehörte zu einem Volk, das sich nicht regieren durfte, dem an manchen Orten der Zugang zum Wasser und das Land gestohlen wurden. Schultz hatte viele kurdische Mandanten und wusste, wie dieses Volk litt. Wie die Türken die Felder der Kurden abbrannten, damit die Schafherden verhungerten, wie türkische Polizisten arbeiteten. Die Polizei nahm Said zum ersten Mal fest, als er Medizin studierte. In Saids Heimatdorf hatte jemand „Faschismus ist Mord“ an eine Wand gemalt. Said war es nicht gewesen, sagte er, aber die türkischen Polizisten sperrten ihn zwei Wochen lang ein und schlugen ihn, damit er gestehe. Er erzählte Renate Schultz nie genau, wie er gefoltert wurde, aber er sagte, dass ein Autoreifen dafür eingesetzt wurde. Bis zu seiner Festnahme war Said ein unpolitischer Mann gewesen. Er erhielt seine Ausbildung zum Guerillero in Syrien. Ein halbes Jahr lang lernte er, wie man schießt und Bomben baut. Er wurde ein Kämpfer der PKK, der kurdischen Terrororganisation. Said erzählte Schultz, wie die PKK alles kontrollierte, was er tat, wie sich die Kämpfer gegenseitig bespitzelten, dass es in der PKK keine Freiheit gab. Zehn Jahre lang lebte Said mit der Waffe in der Hand in den türkischen Bergen. Er ließ türkische Güterzüge entgleisen, er stürmte Polizeistationen und tötete Polizisten. Einen Winter lang hungerte er und ernährte sich von Grashalmen. Einmal schlich er nachts in das Dorf seiner Eltern, um seiner Mutter einen Kuss zu geben. Schultz mochte diesen Mann, der Freiheit zum Prinzip seines Lebens erklärt hatte. Sie mochte, dass ihm ein wenig Brot und Käse reichten, um den ganzen Abend lachend zu verbringen. Sie mochte es, dass seine braunen Augen weich wurden, wenn sie zu zweit waren, und dass diese Augen in Sekunden kalt werden konnten. Irgendwann verließ Renate Schultz ihren ersten Mann. Er war ein Staranwalt, präzise, klug, erfolgreich, wohlhabend, aber er hatte nie in den Bergen gelebt. Schultz entschied sich für Said Cürükkaya, einen Mann, der eine Zeit lang mit internationalem Haftbefehl gesucht worden war. Sie heirateten nie, das brauchten sie nicht, um zu wissen, dass sie zusammengehören. Nachts schliefen sie Hand in Hand. Sie brachte ihm bei, wie man Fahrrad fährt, und lief neben ihm her, damit sie ihn auffangen konnte, falls er stürzte. Er wollte ihr für den gemeinsamen Urlaub im Irak eine Pistole schenken, damit sie sich verteidigen könne. Said lernte Deutsch im Goethe-Institut, er studierte Sozialpädagogik, danach eröffnete er einen Dönerimbiss und einen DER SPIEGEL 16 / 2017
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Gesellschaft
Kämpfer Mohamad vor Mossul, entschärfte Sprengfallen der Terroristen, Fahne mit Gesicht des Verstorbenen Cürükkaya: Seine Haut roch
Kiosk. Er half anderen Kurden bei der Flucht. Schultz sagt, am Ende kannte Said das Asylgesetz besser als sie. Er aß am liebsten Spaghetti aglio e olio, bekam ein Bäuchlein und spielte gern Computer. Er wurde Deutscher. Das war die eine Hälfte. In Arbil fährt Renate Schultz zu einem Haus, das den Peschmerga gehört, der Miliz der Kurden. Im Keller des Hauses befindet sich ein Raum, in dem noch Saids Schreibtisch steht. Darauf liegen Kneifzangen, eine Plastikschale mit Zündern, ein Schraubendreher und ein paar entschärfte Minen. Said hat sie entschärft. Das war die andere Hälfte dieses Mannes. Als er in Deutschland lebte, versteckte Said seine Vergangenheit vor Fremden hinter seinem Lächeln. Wenn er schlief, wusste Schultz, dass sie ihn nur aus der Entfernung wecken durfte, weil er sonst vor Schreck um sich schlug. Wenn er Blut sah, ging Said aus dem Zimmer, weil er, wie er sagte, so viele Freunde gesehen hatte, die in ihrem Blut gestorben waren. Einmal war Said mit Renate auf den Jahrmarkt gegangen, um Autoscooter zu fahren. Er erzählte ihr, dass ihm ein Freund, mit dem er in den Bergen gewesen war, immer erzählt hatte, dass er so gern mal auf den Jahrmarkt wolle. Der Freund sei dann im Krieg gestorben, und jetzt, sagte Said, wolle er ihm diesen Wunsch stellvertretend erfüllen. Krieg und Frieden passen nicht zusammen, eigentlich. Menschen, die lang im Krieg gelebt haben, kommen im Frieden 54
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Said habe am Tag davor gesagt: „Die schlecht zurecht. Und umgekehrt. Hier war nun eine Frau, die nur Frieden kannte und haben die Taktik geändert. Die Minen sind sich einen Mann suchte, dessen Geschäft nicht mehr wie früher.“ Mohamads Cousin, der vor Said gegander Krieg war. Und hier war ein Mann, der den Krieg kannte und der sich eine Frau gen war, um Minen zu räumen, lag tot da, des Friedens suchte. Vielleicht funktionier- Schrapnelle steckten in seinem Hals. Said te diese Beziehung nicht trotz, sondern ge- lag auf dem Bauch. Er atmete. Sein Blut floss in den Staub. Mohamad drehte ihn rade wegen dieser Spannung. Im Keller an Saids Schreibtisch streicht um und legte Saids Kopf in seinen Schoß. ein junger Mann über die Zünder. Er trägt „Lass mich nicht allein“, sagte Said. Eins seiner Augen fehlte, im anderen eine Uniform in Flecktarn. Es ist Mohamad Bukar, 30, Saids Meisterschüler im Um- steckten Splitter. „Bitte nicht reden“, sagte Mohamad. gang mit Minen. „Ich hätte für ihn mein Ein Hubschrauber brachte Said nach Augenlicht gegeben“, sagt Mohamad. Arbil. Am Abend fuhr Mohamad ins Krankenhaus. Er erinnert sich, dass seine Haut nach Schwarzpulver roch und nach Blut. Niemand hat ihn danach gefragt, aber Mohamad sagt zu Schultz: „Der Unterschied zwischen dir und mir ist, dass du ein Land hast und dass ich keins habe.“ Renate Schultz nickt, als würde sie verMohamad und Said entschärften zusammen. Die IS-Kämpfer versteckten Minen stehen, was das bedeutet, aber vielleicht in Teddybären, in goldenen Uhren, in ei- ist das unmöglich, wenn man aus Deutschnem Spielzeugauto. Keine andere Waffe land kommt. Saids Heimat Kurdistan hat keine festen bringt in diesem Krieg mehr Menschen um. Als Said verletzt wurde, stand Moha- Grenzen. Es liegt in den Ländern Türkei, mad mit der Waffe im Anschlag ein paar Syrien, Irak und Iran. Es gibt auf der Welt Meter entfernt und sicherte die Peripherie, circa 30 Millionen Kurden. Sie sind gespalso erzählt er es. Sie waren in Baschika, ei- ten in verschiedene Gruppen, manche sind nem Ort vor Mossul. Mohamad hörte ei- Jesiden, manche Muslime, manche Komnen Knall und spürte die Druckwelle, er munisten, manche Terroristen, manche bewusste, dass jeder Stein vermint sein könn- kämpfen sich gegenseitig, aber sie haben te, aber in diesem Moment, so erzählt er gemeinsam, dass sie sich einen souveränen Nationalstaat wünschen. es, rannte er einfach zu seinem Freund.
Sie versteckten Minen in Teddybären, in goldenen Uhren, in einem Spielzeugauto.
nach Schwarzpulver und Blut
Schultz sagt, Said sei von diesem Wunsch getrieben gewesen, auch wenn er alles Mögliche andere machte. Er vernetzte sich mit Kurden in ganz Deutschland und blieb nie lang an einem Ort, er studierte in Bremen, hielt Vorträge in Bottrop, besuchte kurdische Aktivisten in Köln. Schultz und er sahen sich an den Wochenenden, beide brauchten die Zeit dazwischen für sich, sagt Schultz. Ein paar Jahre vor seinem Tod eröffnete Said in Hamburg-Harburg eine Wäscherei. Sie liegt heute noch im Phoenix-Einkaufszentrum, neben dem Bekleidungsgeschäft New Yorker. Das Einkaufszentrum ist hell wie eine Zahnarztpraxis. Im Fußboden kann man sich spiegeln. Said hatte gekämpft, gehungert und gefroren für seine Ideale, nun wusch er hier für 1,60 Euro Hemden für Menschen, von denen die wenigsten auf einer Landkarte zeigen konnten, wo Kurdistan liegen könnte. Wahrscheinlich war ihm seine Wäscherei fremd, ein Mittel nur, um irgendwie Geld zu verdienen; jedenfalls stand er selten selbst in seinem Geschäft, er tauchte ab und zu auf, um zu prüfen, ob das Geld in der Kasse stimmte, und war dann wieder weg. Said hatte ein Diplom, eine Frau, einen deutschen Pass, aber nachts, wenn er dachte, dass Schultz schlief, schaute er sich auf dem Computer Waffen an, sagt sie. Sie wusste, dass er als Kommandeur der Guerilla Hunderte Soldaten befehligt hatte, und fragte sich, ob er sich in Deutschland manchmal nutzlos fühlte.
Als die Terroristen des IS im Jahr 2014 Sindschar einnahmen, waren Schultz und Said im Urlaub auf Mallorca. Sechs Tage lang saß Said auf einem Hocker im Flur, weil das drahtlose Internet dort am besten war, und las Nachrichten aus Kurdistan. Am Ende des Urlaubs sagte er: „Ich gehe da hin.“ „Was willst du da machen?“, fragte Schultz. „Ausbilden und kämpfen“, sagte Said. Die kommenden zwei Jahre pendelte er zwischen Berlin und Kurdistan. Renate Schultz wusste nichts von Minen, sie dachte, Said sei vor allem Ausbilder. Er mochte es nicht, wenn sie ihm Fragen stellte, das war immer so gewesen. Wenn er nach Hause kam und sie ihn fragte, wo er gewesen sei oder mit wem er telefoniert habe, fühlte er sich an die Bespitzelung der PKK erinnert. Sie hatte akzeptiert, dass dieser Mann anders war. Sie stellte keine Fragen mehr. Mit jeder Stunde, die Schultz im Irak verbringt, mit jedem Glas süßem Tee, das sie trinkt, und mit jeder Frage, die sie jetzt stellt, wird klar, dass diese Reise auch eine ist, bei der es um die Frage geht, wer der Mann war, den sie liebte. Im Herbst vergangenen Jahres besuchte Schultz ihn im Irak. Sie aßen Hammel mit den Peschmerga, spielten mit den wilden Hunden vor dem Camp, Said erzählte Schultz, er hoffe, für seine Dienste ein kleines Haus als Dank zu erhalten, in das sie zusammen einziehen könnten. Sie wun-
derte sich bei dieser Reise, wie müde ihr Mann wirkte. Er hatte kein Geld, kein Auto, keine Wohnung. Sie begriff die Befehlsstrukturen nicht, in die er eingebunden war, aber sie ahnte, da stimmte etwas nicht. Sie stellte keine Fragen. Vor dem Abschied fragte Said: „Rena, soll ich dir den Schlüssel zurückgeben?“ Er meinte den Schlüssel für die gemeinsame Wohnung in Berlin. „Das ist ein schlechtes Omen, der bleibt bei dir“, sagte Schultz. In einem weißen Jeep, geschützt durch Soldaten mit Sturmgewehren, fährt Schultz Richtung Mossul. Mohamad, der Minensucher, sitzt neben ihr. 30 Kilometer von der Front entfernt rollt der Jeep in ein Lager der Peschmerga. Davor weht an einem Mast eine Fahne in den Farben Kurdistans, auf der Saids Gesicht abgebildet ist. Es ist so unwirklich, dass man mehrmals hinschauen muss, aber da weht im Wüstenwind tatsächlich eine Fahne mit dem Gesicht von Said Cürükkaya. Schultz weiß, dass manche Kurden ihren toten Mann für einen Märtyrer halten, aber das hier ist mehr. Hier vor Mossul auf der Fahne schaut er in die Welt wie ein kurdischer Che Guevara. Schultz blickt kurz auf die Fahne und dann wieder weg. In einem Zelt empfängt sie ein General, der einen Patronengurt um die Hüfte trägt. Am Sofa lehnen Gewehre voller Kratzer. Der General trägt Badelatschen. „Waren Sie der verantwortliche General?“, fragt Schultz. DER SPIEGEL 16 / 2017
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IN DER SPIEGEL-APP
K.o. nach 14 Sekunden Narben, Blut, verstümmelte Ohren – die brutale Kampfsportart Mixed Martial Arts ist in Tschetschenien und Dagestan ein echter Breitensport. Schon kleine Kinder steigen dort in den Ring, um sich als echte Männer zu beweisen. Der Fotograf Maxim Babenko verbrachte mehrere Monate in der von Krisen gebeutelten Region und sagt: Eigentlich wollen dort alle so sein wie die Kämpfer im Ring: stark, respektiert und unabhängig. Sehen Sie die Visual Story im digitalen SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code.
J E TZ T DI G I TAL L E S E N
Gesellschaft
„Ja.“ „Von wem hat Said die Anweisungen bekommen?“ „Er hat alles für sich allein entschieden.“ Saids Einheit hieß „Feuereinheit“. Mohamad sagt, dass sie aus freiwilligen Zivilisten bestand, die nicht zuschauen wollten, wie die Terroristen morden. Man kann es mutig nennen, als Zivilist in den Krieg zu gehen, oder tollkühn oder dumm. Schultz steigt in den Jeep und fährt weiter Richtung Front. Baschika, der Ort, an dem Said gestorben ist, wurde von Kurden erobert, aber er ist durchzogen mit Tunneln, die ins Innere von Mossul führen, und er ist voll mit Minen, Sprengfallen, dem Tod. Die letzten Meter dieser Reise geht Schultz nur in Begleitung von Mohamad und dem Fotografen des SPIEGEL, er dokumentiert, was sie tut und sagt. Baschika galt vor dem Krieg als die Stadt der Oliven. Der Jeep mit Renate Schultz auf dem Rücksitz rollt vorbei an Straßenhändlern, die dicke schwarze Oliven anbieten, aber kaum Kunden haben. Die Stadt liegt in Trümmern. Schwarzer Rauch steigt aus einigen Häusern. Die Luft riecht nach Zementstaub und Sprengpulver. Schwer bewaffnete Peschmerga begleiten Frau Schultz aus Berlin. Sie schaut auf zerrissene Häuser, auf zerbrochene Möbel, auf verkohlte Olivenhaine, auf die Reste dessen, was mal eine Stadt war. Der Jeep hält vor einem Haus, von dem nur noch zwei Wände stehen. Schultz steigt aus, unter den Sohlen ihrer Turnschuhe knirschen zerborstene Glasscheiben. Auf dem Boden liegen Steinbrocken und Splitter, ein verbogenes Bettgestell, eine Decke, ein Blechteller, eine Gefriertruhe. Überall hier, sagt Mohamad, verstecken sich Minen. Schultz folgt ihm neben die Ruine des Hauses. Dort klafft ein vielleicht 40 Zentimeter tiefes Loch in der Erde, das die Mine sprengte, die Said das Leben nahm. Mohamad steht neben dem Loch und erzählt Renate Schultz, wie es war. Sein Cousin habe die Mine ausgelöst. Es war eine Antifahrzeugmine, die die Kraft hatte, Panzerstahl zu spalten. Said trug keinen Helm und keine Platten in der Splitterschutzweste. Beim Gespräch im Peschmerga-Camp hatte der General gesagt, dass er Said verboten habe, die Minen in Baschika zu räumen. „Said hat das getan, was er wollte, im Leben und im Krieg“, sagte er. Schultz weint am Erdloch. Sie spricht zu ihrem toten Mann und sagt: „Was machst du denn schon wieder für Sachen?“ Sie hat ihn nie eingeschränkt in seiner Freiheit. Sie wusste, er ist ein Wolf, sagt sie, und Wölfe lassen sich nicht festhalten. Einmal, so erzählt sie es, sagte er zu ihr: „Rena, seit ich dich kenne, weiß ich, was Liebe ist.“ 56
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Schultz steht in den Trümmern Baschikas wie eine Erscheinung, gehüllt in ihren schwarzen Mantel, um den Hals trägt sie ein violettes Tuch. Sie gehört hier nicht her. Um sie herum stehen die Kämpfer der Peschmerga mit geladenen Sturmgewehren, mit Gesichtern voller Schatten, in deren Falten sich der Staub sammelt. Said war einer dieser Männer. Es gibt Fotos von ihm, die ihn im Krieg zeigen, auf manchen trägt er in der Hand ein russisches Scharfschützengewehr. Wer sich die Fotos anschaut und Saids Lächeln darauf sieht, weiß, wo der Mann hingehörte. Am Horizont ist Mossul zu sehen, man hört das Geräusch einschlagender Raketen. Schultz ist in den Krieg gefahren auf der Suche nach Antworten. Aber die Antworten, die sie findet, geben ihr keine Ruhe. Wer gab Said die Befehle? Niemand. Warum musste er sterben? Er musste nicht sterben. Er trug keinen Helm, seine Weste hatte keine Keramikplatten, ein Mann vor ihm trat auf eine Mine.
Sie schaut auf zerrissene Häuser, verkohlte Olivenhaine, die Reste einer Stadt. Warum musste er sterben? Weil es Krieg ist. Ein paar Wochen nach ihrer Reise, als Schultz wieder in ihrer hellen Wohnung in Berlin sitzt, vor sich ein Glas Weißwein, sagt sie, sie verstehe jetzt, dass niemand die Verantwortung trage am Tod ihres Partners außer ihm selbst. Sie habe diese Reise gemacht, um Abschied zu nehmen von einem Land und ihren Freunden. Ihre Erkenntnis sei, dass Said so starb, wie er lebte. Das deutsche Leben, das sie mit ihm teilte, war keine Lüge, da ist sie sich sicher, aber es war nur die halbe Wahrheit. Said Cürükkaya wurde am 28. Oktober des vergangenen Jahres von Arbil ins Militärkrankenhaus in Koblenz geflogen und starb dort. Zur Trauerfeier in Deutschland kamen viele Menschen und schwenkten die kurdische Fahne. Die Wäscherei in Harburg führt Saids Geschäftspartner allein weiter. Im Hinterzimmer hängt ein Foto von Said an der Wand, in das jemand mit Photoshop ein paar Flügel auf seinen Rücken montiert hat. Schultz überlegt, ob sie in Zukunft für eine Hilfsorganisation arbeiten will, die sich in Kurdistan engagiert. Saids Leiche wurde in die Türkei ausgeflogen. Er wurde in dem Bergdorf beerdigt, in dem er aufwuchs. Seine letzte Nachricht an Renate Schultz hieß: „Ich vergesse dich nicht.“
Ich habe kürzlich mit dem Psychoanalytiker HansJoachim Maaz geredet, bei dem praktisch die gesamte ostdeutsche Wendegesellschaft auf der Couch lag. Maaz gestand mir, dass er sich ein Leben lang für einen Linksliberalen gehalten habe, jetzt aber plötzlich rechts sei. Er hat das mit den Grünen, Angela Merkel und der AfD begründet, es ist zu kompliziert, um es hier abzuhandeln. Auf jeden Fall sagt Maaz irgendwann: Die 68er haben sich, weil die eigenen Väter zu belastet waren, Ersatzväter gesucht. Unter anderem Che Guevara und Ho Chi Leitkultur Alexander Osang versteht in Minh. Bolivien, wie die SPD tickt. Diese Helden sterben weg, und auf Dauer kann sich niemand mit der Verteufelung der AfD und des US-amerikanischen Imperialismus allein bei Laune halten. Eine ch stand vor einem Geysir irgendwo in der Mitte eines Zeit lang sah es so aus, als könnten Daniel Ortega und bolivianischen Nationalparks, als ich zum ersten Mal Hugo Chávez die Lücke füllen, aber Chávez hat sein Land die Begeisterung der deutschen Sozialdemokratie für ins Verderben gestürzt, bevor er starb, und Ortega hätte ihren Spitzenkandidaten nachvollziehen konnte. Der Himden Mann, der er geworden ist, vor 30 Jahren erschossen. mel war winterblau, es gab nur ein paar Wolken, die kurz Bleibt der bolivianische Chef, Evo Morales. Morales beüber unseren Köpfen hingen, denn wir standen in 4800 Meschenkt die Schulen mit Laptops, doch auf jedem klebt ter Höhe. Die letzten Tage waren traumhaft gewesen, wir ein Morales-Gesicht. Er hat La Paz mit einem Netz von waren mit ein paar Geländewagen über riesige Salzseen modernen Seilbahnen überspannt, aber alle Kabinentüren gefahren, hatten Flamingos in rosafarbenen Gewässern betragen Morales-Aufkleber. Das ist kein gutes Zeichen. An obachtet und Lamas auf dunkelgrünen Wiesen. Ab und zu vielen Hauswänden von Santa Cruz, wohin Che einst den hielten wir an und fotografierten uns in der Landschaft. Sozialismus exportieren wollte, Manchmal fragten die Guides, steht: „EVO NO“. woher wir kommen. Es waren EngEhe ich nach Vallegrande fahländer dabei, Holländer, ein paar ren konnte, habe ich in einem TröAmerikaner, Chilenen und Japadelladen in Santa Cruz eine kleine ner, in der Mehrzahl aber waren Heiligenstatue von San Martín de es Deutsche. Seltsamerweise spraPorres gekauft. San Martín ist chen die meisten Deutschen Engschwarz, er war ein Ordensbruder lisch, auch miteinander. Man eraus Lima, der später heiliggesprokannte sie trotzdem. Sie hatten die chen wurde. San Martín wurde besten Rucksäcke, die besten Wanvor allem durch sein soziales Enderschuhe, und die meisten von ihgagement für die Schwachen, die nen hatten auch schon einen AlpaKranken und die Armen bekannt. ka-Pullover an, den sie auf irgendAußerdem aß er kein Fleisch, einem Markt in La Paz, Sucre oder konnte mit Tieren sprechen und Cuzco gekauft hatten. Viele waren vollbrachte kleinere Wunder. Er seit Wochen in Südamerika unterschwebte und brachte es fertig, an wegs, manche fingen in Rio an, mehreren Plätzen zugleich zu sein. dann Uruguay, Argentinien, rüber Er hat es allerdings nie geschafft, nach Chile und hoch nach Bolivien. Priester zu werden. Manche machten es umgekehrt. Moment mal, dachte ich. Kein Ich habe in Santa Cruz, BoliHauswand in Santa Cruz, Bolivien Priester, aber ein Mann, der an vien, begonnen und fahre nach mehreren Orten zu gleicher Zeit sein kann. Vielleicht lag Norden. Kurz nachdem ich in Santa Cruz angekommen es an der dünnen Luft hier oben. Aber schlagartig wurden war, bekam ich eine SMS von einem Freund. Unbedingt mir die Parallelen klar. Man muss nur Priester durch Abinach Vallegrande fahren. Venceremos! tur ersetzen. Ich stand am Geysir, neben mir Julia aus ErIn Vallegrande war Che Guevara begraben. Ich wollte langen, die einen grauweißen Anden-Pullover trug und ihm meinen Respekt zollen, es lag auf dem Weg. Ich mag Englisch mit britischem Akzent sprach. Che, aber er war nie der Held meiner Ostberliner Jugend, Als ich Martin Schulz das erste Mal bei Anne Will sah, denn ich lebte ja bereits im Weltkommunismus. Mein bester konnte er nicht mal die Frage beantworten, ob er mit den Freund und Trauzeuge trug jahrelang das Bild des jungen Linken koalieren würde, und vollbrachte dennoch das Muammar al-Gaddafi in seiner Brieftasche. Das schien ihm Wunder, als Neuanfang zu gelten. Dass ein Mann mit diein den Achtzigern eine Möglichkeit, systemkonform und ser Vergangenheit, diesem Aussehen, diesem Alter als aufmüpfig zugleich zu sein. Kann man sich nur noch schwer Hoffnungsträger gilt, ist an sich ein Wunder. Bestimmt vorstellen. Ich verehrte Teófilo Stevenson, einen kubanikann er mit Tieren sprechen. Klar, es ist ein weiter Weg scher Schwergewichtsboxer. Stevenson verweigerte eine von Che zu Schulz, aber auch die SPD hat sich verändert. Millionengage für einen Kampf gegen Muhammad Ali, den Und welchen Sozialdemokraten könnte man sich am beser – davon war ich überzeugt – gewonnen hätte. Er boxe ten in einem Alpaka-Pullover in lustigen Farben vorstelnicht für Geld, sagte er. Er boxe nur für sein Volk. Jahre len? Nicht Steinmeier, nicht Schmidt und schon gar nicht später habe ich ihn in Kuba besucht, ein älterer, großer Steinbrück. Wer würde mit Poncho und einer Panflöte in Herr, der seltsam schief lief und nur unter der Bedingung der Fußgängerzone am wenigsten auffallen? mit mir reden wollte, dass ich ihm 200 Dollar gebe. Das Richtig. San Martin. El Schulzo. hat mein Heldenkonzept ins Wanken gebracht.
Che und Schulz
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL
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THOMAS KOEHLER/PHOTOTHEK.NET
ICE 4 der Deutschen Bahn
Milliardendeal
Bahn setzt auf extralange ICE-Züge Bis 2030 will der Konzern den Fernverkehr stark ausbauen. zern pro Jahr rund 50 Millionen Fahrgäste mehr transportieren als derzeit. Bereits in der jüngeren Vergangenheit boomte das Geschäft mit ICE und IC – unter anderem weil die DB viele Billigtickets auf den Markt warf. 2016 erzielte das Unternehmen im Fernverkehr einen Fahrgastrekord. Bislang sind zwei ICE 4 im Probebetrieb zwischen Hamburg und München unterwegs. Ab dem Fahrplanwechsel Ende des Jahres sollen die Züge regulär eingesetzt werden. Nach und nach sollen die ICE 4 vor allem die veralteten Intercity-Züge ersetzen. Langfristig könnte die DB bis zu 300 Züge bei Siemens bestellen und damit einen Großteil der heutigen Flotte erneuern. böl
Die Deutsche Bahn (DB) hat bei Siemens deutlich mehr Langversionen des ICE 4 bestellt als ursprünglich geplant. Wie aus dem Umfeld des Konzerns verlautete, soll Siemens nun 100 zwölfteilige und 19 siebenteilige ICE liefern. Bislang war vorgesehen, dass die DB nur 85 zwölfteilige Züge erhält, dafür aber 45 siebenteilige. Die Änderungen haben keine Auswirkungen auf den Umfang des Geschäfts: Der Finanzrahmen bleibt bei 5,3 Milliarden Euro. Es ist der größte Auftrag in der Bahn-Geschichte. Die langen ICE 4 bieten 830 Menschen Platz und sind fast 350 Meter lang. Mit der neuen Konfiguration reagiert die DB auch auf den geplanten Ausbau des Fernverkehrs. Bis 2030 will der Kon-
Karrieren
Der ehemalige „Bild“-Herausgeber Kai Diekmann wird Berater des amerikanischen Transportdienstes Uber. Als Mitglied im „Public policy advisory board“ soll er Sparringspartner und Ratgeber in politischen Fragen sein. Man betrachte das Gremium nicht 58
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DANIEL BISKUP / LAIF
Kai Diekmann berät Uber
Diekmann
als Lobbyvertretung, sondern als einen „internen Feedbackkanal“, heißt es bei Uber. Einmal im Jahr treffen sich die Mitglieder in San Francisco, der Einsatz für das mit mehr als 60 Milliarden Dollar bewertete Start-up wurde bisher mit Unternehmensanteilen kompensiert. Die prominente Runde reicht von Ray LaHood, dem früheren USVerkehrsminister, bis zur ehe-
maligen EU-Kommissarin Neelie Kroes. Uber kann Berater gut gebrauchen: In vielen Ländern debattieren Politik und Öffentlichkeit kontrovers über den aggressiven Ansatz des Taxikonkurrenten, bei dem die Vermittlung direkt zwischen Kunden und Fahrer stattfindet. In Deutschland sind Teile des Angebots von Uber seit 2015 verboten. mum
Wirtschaft Nachhaltigkeit
ben, die sie noch nie oder selten getragen haben. Budde: Deshalb wäre ein Abo für Trendklamotten nicht nur Ina Budde, 28, Lehrbeauftragte besser für die Umwelt, sonfür Nachhaltiges Design an der dern auch finanziell attraktiv Modehochschule Esmod in für Leute, die sich gern moBerlin, über volle Kleiderschrändisch kleiden. Im Schnitt ke und Abonnements für wird ein Teil nur siebenmal Trend- und Outdoorklamotten getragen. Wenn man einen „price per use“, also die KosSPIEGEL: Junge Start-ups wie Kilenda, Kindoo oder Kleide- ten pro Tragezeit, berechnet, kommt einen manches rei bieten Mode zum Mieten Schnäppchen teuer zu stehen. an. Findet da ein Umdenken in der Branche statt? SPIEGEL: Zum Beispiel? Budde: Wir leihen Bücher, Budde: In Skandinavien gibt streamen Videos, mieten Aues Verleihangebote für SportHochregallager bei Hermes tos – warum nicht also auch und Outdoorkleidung. Solche Onlinehandel ckeln sich zu einer eigenen ein Spotify für Mode? Vor Spezialkleidung ist teuer, Investmentklasse“, sagt allem bei Kinderkleidern ist sehr strapazierfähig, wird in Boom der Savills-Deutschland-Chef das ein naheliegender Ander Regel aber nur sehr selWarenlager Marcus Lemli. Der Anteil des satz: Die Kids wachsen ten getragen. Und zu Hause schnell aus den Sachen henimmt sie auch noch unnötig Der florierende Onlinehandel Onlinegeschäfts am Einzelhandelsmarkt liegt in Deutschraus, Mütter haben schon Platz weg. treibt das Geschäft mit Loland bereits bei 13 Prozent, immer privat gebrauchte SPIEGEL: Was hat die Industrie gistikimmobilien in nie zuvor entsprechend steigt der BeKlamotten untereinander erreichte Höhen. Im ersten davon? darf von Amazon, Zalando weitergegeben. Gerade diese Quartal dieses Jahres wechBudde: Sie kann Kunden auf Zielgruppe macht sich aber selten in Deutschland Verteil- und Co. nach weiteren LogisDauer an sich binden und an tikzentren. 2016 wurde mit auch Gedanken über die zentren und Lagerhallen im einem Kleidungsstück mehrrund 4,7 Millionen QuadratFolgen ihres Konsums. fach verdienen, am Ende viel- Wert von 1,7 Milliarden Euro metern mehr als doppelt so Hier professionalisiert sich den Eigentümer, eine Steigeleicht sogar am Recycling. viel Logistikfläche fertiggerade ein gesellrung von 136 Prozent gegenDas soll Fast-Fagestellt wie fünf Jahre zuvor. schaftlich erfolgreiüber dem Vorjahresquartal. shion-Unternehches KleidertauschIn den Top-sieben-Regionen – „Das Wachstum des E-Commen wie H&M modell. Berlin, Düsseldorf, Frankfurt, merce ist noch lange nicht oder Zara nicht vorbei“, sagt Lemli. Die Hamburg, Köln, München, davon entbinden, SPIEGEL: Einer Stuttgart – hat sich das Trans- Nachfrage nach Flächen im nachhaltiger zu Greenpeace-Studie stationären Einzelhandel verproduzieren, aber aktionsvolumen sogar verzufolge geben liert dagegen an Schwung, es könnte ein neu- dreifacht. Das geht aus Be95 Prozent der der Umsatz ist im ersten rechnungen des Immobilienes, zusätzliches Deutschen an, dass Quartal nur um acht Prozent dienstleisters Savills hervor. Vertriebskonzept sie Kleider in gestiegen. aju „Logistikimmobilien entwisein. one ihrem Schrank haBudde YFS
JOCHEN ZICK / ACTION PRESS
„Spotify für Mode“
Kommentar
Die falschen Alternativen der SPD Warum die Abgabenlast der Mittelschicht gesenkt werden muss Er will der Anwalt der „hart arbeitenden Mitte“ sein. Doch geht es um ihre Steuern, sieht SPD-Chef Martin Schulz keinen Handlungsbedarf. Diejenigen, die entlastet werden müssten, zahlten „keine Lohnsteuer“, sagt er. Stattdessen müsse der Staat mehr für Familien tun und die Kita-Gebühren streichen. Doch damit bietet Schulz falsche Alternativen an. Er hängt der irrigen Vorstellung an, dass Normal- und Niedrigverdiener nur wenig zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen, aber in besonderer Weise von seinen Leistungen profitieren. Doch das stimmt so nicht. Zum einen müssen Arbeitnehmer hierzulande mehr an Staat und Sozialkassen abführen als in fast allen anderen Industrieländern, so bestätigte vergangene Woche einmal mehr die OECD. Zum anderen ist die deutsche Familienpolitik ein 200 Milliarden Euro teures Chaos, das mal die kinderlose Ehe und mal die Großfamilie fördert und
von dem nach einer Studie des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung wohlhabendere Kreise stärker profitieren als die Mittelschicht. Ein zielgenaues Konzept für die „hart arbeitende Mitte“ bestünde deshalb aus einem steuer- und familienpolitischen Zwei-Punkte-Programm. Erstens: ein Umbau der Familienförderung, bei dem Besserverdienerleistungen wie das Ehegattensplitting zugunsten von mehr staatlicher Kita-Finanzierung eingeschränkt werden. Zweitens: eine Reform des Abgabensystems, die vor allem unteren und mittleren Einkommensschichten zugutekommt. Die Blaupause für eine entsprechende Reform hat übrigens schon vor Jahren eine Institution vorgelegt, die für Sozialdemokraten denkbar unverdächtig ist: der Deutsche Gewerkschaftsbund. Michael Sauga DER SPIEGEL 16 / 2017
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Der König von Heilbronn Unternehmer Lidl-Gründer Dieter Schwarz ist einer der reichsten Deutschen und ein Phantom. Mit seinem Geld kauft er sich seine Heimatstadt. Kindergärten, Kirchengemeinden oder Hochschulen – alle sind von ihm abhängig.
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n den ersten Tagen dieses Jahres, vor aller Augen, geschah etwas, das zum Schlimmsten zählt, was Heilbronner Bürger sich vorstellen können: Dieter Schwarz war verärgert. Mitschuldig war ein nackter alter Mann im Schnee. Der Vorfall ereignete sich in der Festhalle Harmonie, beim Neujahrskonzert des Württembergischen Kammerorchesters. Serviert wurde Erbauliches und Gefälliges; Brahms, Johann Strauss. Doch Madeleine Landlinger, seit September 2015 Intendantin des Orchesters, zu kurz, um vorauseilenden Gehorsam als Grundhaltung zu verinnerlichen, hatte es darauf angelegt, dem Publikum etwas zuzumuten: moderne Videokunst. Über mehrere Leinwände huschten Fabelwesen, Jäger und Hasen. Blitze zuckten, 60
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die Augen eines Kleinkinds wurden eingeblendet sowie besagter entblößter Senior. Manche der vorwiegend älteren Zuschauer waren so verstört, dass sie den Abend nur noch mit geschlossenen Augen über sich ergehen ließen. Besonders pikiert war das Ehepaar in Reihe 5, Mitte, Franziska und Dieter Schwarz. In der Pause marschierten sie zur Intendantin und bekundeten so deutlich ihr Missfallen, dass jeder es mitbekam. Die versammelten Bildungsbürger reagierten empört, weil die Intendantin den wichtigen Sponsor des Orchesters vergrätzt hatte. Zugleich aber fühlten sie sich nun von höchster Stelle autorisiert, die Darbietung doof zu finden: „Dem Dieter Schwarz hat’s au net g’falle.“ Fast wie am Englischen Hof, wo das Mahl als beendet
gilt, sobald die Queen den Tisch verlässt. Schwarz ist der König von Heilbronn. Jeder Deutsche kennt Lidl. Doch außerhalb von Heilbronn kennt kaum einer Dieter Schwarz, den Gründer und Alleininhaber. Den scheuen Mann hinter dem WeltDiscounter aus Baden-Württemberg, dem man sein Geld gibt, wenn man FreewayCola oder Crusti-Croc-Chips kauft. Schwarz, 77, zählt zu den reichsten Deutschen. Geschätztes Vermögen: 19 Milliarden Euro. Das Einzige, was ihn wirklich plagt, ist die Frage: Was tun mit all dem Geld? Wohin es bisher floss, ist in der 117 000-EinwohnerStadt Heilbronn zu sehen – allerdings nicht in Schwarz’ direktem Umfeld. Sein Wohnhaus ist die Stein gewordene Spießigkeit, mit Rüschengardinen und immergrünen Kugel-
JÜRGEN POLLAK / DER SPIEGEL
Lidl-Filiale in Heilbronn: „Vertrauen ist ein schwieriges Thema in diesem Unternehmen“
hat er versprochen, dass fast ausschließlich Heilbronn davon profitieren soll. Doch die Almosen schaffen Abhängigkeiten. „Das ist wie bei einem Drogendealer“, sagt einer, der geschäftlich mit ihm zu tun hat. Die Bürger danken Schwarz die Gaben, indem sie ihn schützen. Sie schenken ihm die Anonymität, die er verlangt. Sie fotografieren ihn nicht, sprechen ihn nicht an. Selbst in Heilbronn wissen viele nicht, wie
WIRTSCHAFTSWOCHE
bäumen im Vorgarten. Schwarz’ Anzüge und Krawatten sind schon sichtbar lange in Betrieb. Schwäbisches Understatement? Nein, Schwarz denkt einfach größer. Was ihn interessiert, sind Macht und Einfluss. Um sich beides zu sichern, leistet er sich ein teures Spielzeug: Schwarz kauft sich eine Stadt. Er kauft sich Heilbronn, wo er geboren wurde und bis heute lebt. Wer hier aufwächst, kann sich Schwarz nicht entziehen, selbst wenn er ihn persönlich nie zu Gesicht bekommt. Schwarz ist einer der größten Arbeitgeber der Region, einer der wichtigsten Steuerzahler der Stadt. Er spendete Geld für die Renovierung eines Kirchturms, stiftete Kunst und einen Brunnen für den Marktplatz. Er bezahlt Reisen des Kammerorchesters. Er lässt Lehrer und Erzieher fortbilden und auch mal eine Turnhalle streichen. Er zahlt die Sprachförderung für alle Kinder der Stadt. Sogar einen Hochschulcampus hat er für Heilbronn gebaut. Derzeit investiert er in einen „Zukunftsfonds“, der Start-ups fördert. Seine Milliarden hat er in einer gemeinnützigen Stiftung angelegt. Ein schönes Steuersparmodell, das nur funktioniert, solange er die Gewinne, die sein Unternehmen in die Schwarz-Stiftung pumpt, in Wohltätigkeiten verwandelt. Vor Jahren
Milliardär Schwarz Wohin mit all dem Geld?
er aussieht. Wer mit Journalisten über Schwarz plaudert, gilt als Nestbeschmutzer. Ebenso jeder, der dessen Wirken hinterfragt. Die Lokalzeitung „Heilbronner Stimme“ überlässt das deshalb lieber den Kollegen von der „Stuttgarter Zeitung“. Auch der Oberbürgermeister fällt nicht gerade als Kritiker auf. Schließlich hat Schwarz sich im Wahlkampf für ihn starkgemacht. „Der Geheimnis-Krämer“. „Das Phantom“. „Der Pate“. Die Presse hat über die Jahrzehnte viele Namen für Schwarz ersonnen. Es gibt viele Geschichten über ihn, manche sind auch nur gut erfunden. Wie jene, dass er gelegentlich in Kirchen predige. Wenn Schwarz das in Artikeln lese, lache er auf, heißt es in seinem Umfeld. Schließlich ist er schon vor Jahren aus der Kirche ausgetreten – um Geld zu sparen. Schwarz lässt das auf Anfrage wie folgt erklären: „Der gesamte Unternehmensgewinn wurde zur Kirchensteuer herangezogen. Einer abweichenden Regelung wollte die Kirche nicht zustimmen. Konsequenz: Austritt.“ Was mit seinem Vermögen passiert, soll nur einer bestimmen: er selbst. Von Schwarz kursieren lediglich zwei Fotos. Eine jahrzehntealte Schwarz-WeißAufnahme, die gescheitelten Haare sind noch dunkel. Und ein farbiges, von einem DER SPIEGEL 16 / 2017
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Paparazzo geschossen, mit grauem Haar. nastikraum trifft. Unter Anleitung machen Es zeigt Schwarz vor seinem Haus, die ge- die alten Herren Seitschritt oder Kniebeugen, gern zur Musik von Abba. streifte Krawatte in die Hose gesteckt. Schwarz’ Büro liegt im oberen StockDas Bundesverdienstkreuz soll Schwarz wegen des Foto-Pflicht-Termins abgelehnt werk des Kaufland-Markts in Neckarsulm. haben. Und als Heilbronn den „großzügi- Der internen Zählweise der Filialen folgen Mäzen und allseits geschätzten Mitbür- gend wird diese „der Dreihunderter“ geger“ 2007 zum Ehrenbürger ernannte, wur- nannt. Schwarz hängt an ihr, sie war das de zwar fotografiert, doch das Bildmaterial erste Kaufland überhaupt. Auf der Etage sitzen weitere einstige schlummert seither im Stadtarchiv und soll dort bleiben, solange Schwarz lebt. In seiner Topmanager des Unternehmens, darunter Heimatstadt tut man ihm solche Gefallen. Richard Lohmiller senior. Der ehemalige Schwarz’ Vater war ein Kaufmann klas- Metzgermeister war der erste Kauflandsischen Schlags: Josef Schwarz handelte Mitarbeiter, er nennt sich selbstironisch mit Bananen und Ananas, 1930 trat er als „Dieter Schwarz’ erster Knecht“. Lohmiller Komplementär in die Heilbronner Süd- senior trägt gern Schweinchenschlipse, sein früchte Großhandlung Lidl & Co. ein. Der Sohn ist heute Deutschland-Chef von KaufSenior war ein typischer Vertreter seiner land, seine Schwiegertochter ist GeschäftsGeneration. Ein harter Mann, der von führerin der Schwarz-Stiftung. Alle VeteSelbstverwirklichung wenig hielt. Etwa ranen auf dem Stockwerk sind an die achtvon der Idee des Sohnes, Mathematik zu zig, die sogenannte „Schwarz-Geriatrie“. studieren. Der Vater bestand auf einer kaufmänni- Schwarz-Firmengruppe schen Ausbildung in seinem Betrieb, Die- Anteile und Stimmrechte ter Schwarz fügte sich. Zu dem Zeitpunkt Dieter Schwarz Schwarz hatte er jedoch bereits ein Jahr als AusStiftung gGmbH Unternehmenstauschschüler in den USA verbracht, wo treuhand KG er die ersten Cash&Carry-Märkte für Kapital.......... 99,9% Kapital............. 0,1% Großkunden entdeckte. Mehr als ein halStimmrechte ......0 % Stimmrechte ..100% bes Jahrhundert später kehrt er mit seinem Geschäft nun dorthin zurück: Im Sommer dieses Jahres will Lidl die ersten Filialen in Amerika eröffnen. Schwarz’ Weg nach Schwarz Beteiligungs KG Westen war lang. operatives Geschäft 1963 wurde er persönlich haftender Ge100% 100% sellschafter der Lidl & Schwarz KG. 1968 öffnete der erste „Handelshof“-Großmarkt. Schwarz setzte auf den Erfolg der Selbstbedienungsläden, wo Mehl und Zucker ohne Beratung direkt aus dem Karton verkauft wurden. Er optimierte die Logistik, investierte in regionale Lager, sparte an allem, was der Kunde nicht sah oder Ausschüttungen bezahlen wollte. Schick oder gemütlich waren seine Läden nie. 1970 setzte das Unternehmen bereits 100 Die Einrichtung soll sich seit den SiebMillionen Mark um, zehn Jahre später zigerjahren nicht verändert haben. Die mehr als eine Milliarde. Heute gibt es welt- Wände holzvertäfelt, die Besprechungsweit mehr als 11 000 Lidl-Filialen, hinzu stühle dick gepolstert, auf dem Boden bilkommen gut 1200 Kaufland-Märkte. Für liger Kurzflor. An den Wänden vergilbte die Schwarz-Gruppe arbeiten mehr als Collagen, die Mitarbeiter zu einem Firmen375 000 Menschen. jubiläum gebastelt haben. Den Filterkaffee Schwarz zog sich aus dem operativen Ge- servieren Damen in Kittelschürzen, wie es schäft bereits 1999 zurück. Sein Statthalter sie wohl nur noch auf oberschwäbischen im Konzern ist seither Klaus Gehrig, auch Krämermärkten zu kaufen gibt. Bei Lidl zählte lange Zeit nur eines: dass schon 69. Gehrig ist der Chef der SchwarzGruppe, der Mann, der sich die Hände die Waren möglichst billig waren. Es ist schmutzig macht, damit die von Schwarz dasselbe Geschäftsmodell, nach dem die sauber bleiben. Mitarbeiter nennen ihn den Brüder Albrecht den Discounter Aldi betrieben und Anton Schlecker seine Droge„Killerwal“ (siehe Interview Seite 65). Trotzdem kommt Schwarz noch jeden riekette. Dass die Gründer und ihre FamiTag in die Firma, lange Zeit in einem alten lien die Öffentlichkeit mieden, war eine weißen Mercedes, wegen seiner Kasten- Folge realer Bedrohung. Aldi-Gründer Theo Albrecht wurde form im Umfeld „der Kühlschrank“ genannt. Seine Arbeitskraft erhält er sich, in- in den Siebzigerjahren entführt und für dem er sich montags und donnerstags mit zwölf Tage in einem Kleiderschrank gefaneinem Dutzend Freunde in einem Gym- gen gehalten. Die Schlecker-Kinder wiede62
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rum entkamen ihren Kidnappern dank einer Lösegeldzahlung in Millionenhöhe. Schwarz’ Töchter Regine und Monika waren in den Siebzigerjahren offenbar ebenfalls von Entführungen bedroht. Während die Albrecht-Erben nach dem Tod der Patriarchen einander öffentlich mit Schlamm bewerfen und Anton Schlecker, dessen Reich längst versunken ist, sich gerade in einer öffentlichen Verhandlung wegen Insolenzverschleppung verantworten muss, wahrt Schwarz weiterhin Diskretion. Er zeigt so wenig wie möglich von seinem Reichtum. Und von sich. In vielen LidlFilialen kann er unbemerkt einkaufen, da selbst die Kassiererinnen ihn nicht erkennen. Interviewanfragen lehnt er konsequent ab. Wenn man ihn persönlich in einer Konzertpause trifft, sagt er: „Ich spreche doch nicht mit Journalisten.“ Menschen, die mit ihm privat verkehren, bezeichnen ihn als freundlich – aber auch als uncharismatisch, wenig empathisch. Echte Freunde hat er wenige, aber die schon lange. Sie sind sein Schutzwall. Wenn sie über ihn reden, dann nur gut. Und in Plattitüden. So wie die Herren des Heilbronner Lions Clubs, die über ihr prominentes Mitglied sagen: „Er ist Mensch geblieben.“ Einblick in Schwarz’ Welt erhält man, wenn etwas schiefgeht. Man könnte auch sagen: Wenn einmal nicht alle nach seiner Pfeife tanzen. Denn Schwarz hat gern das letzte Wort. Selbst dann, wenn er Geschenke macht. Vor Jahren stiftete er anonym eine Bronzeskulptur für den Marktplatz. Das Werk ist nicht sonderlich schön, es erinnert stark an mannshohe zusammengebundene Spargel – oder andere Phallussymbole. In der Stadt löste die Skulptur damals heftige Debatten aus, die Schwarz so persönlich genommen haben soll, dass er nie mehr Kunst im öffentlichen Raum stiftete. Stattdessen zahlte er rund 500 000 Euro für die Erneuerung des Turms der Kilianskirche. Nach der Restaurierung war noch Geld übrig. Das sollte in neue Kirchenfenster gehen. Das Problem war, dass die von der Gemeinde und einer unabhängigen Jury favorisierten Entwürfe Schwarz zu modern waren. Was er jedoch nicht direkt äußerte, sondern über sein Sprachrohr, den örtlichen Pflanzenhändler Klaus Kölle, damals Mitglied des Kirchengemeinderats. Die Fenster wurden nie eingebaut. Schwarz’ größtes Geschenk an die Stadt wurde zuletzt sein größtes Ärgernis: der Bildungscampus, auf dem sich heute fünf private Hochschulen befinden. Die Gebäude gehören der Schwarz-Gruppe oder der Stiftung, sie stellen sie kostenlos zur Verfügung. Bei der Einweihung des zweiten Teils 2015 pries Ministerpräsident Winfried Kretschmann Schwarz’ Einsatz als „Mäzenatentum der allerfeinsten Sorte“. Der Ge-
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Kilianskirche, Skulptur auf dem Marktplatz in Heilbronn „Mäzenatentum der allerfeinsten Sorte“
Restaurant der Schwarz-Gruppe in Neckarsulm Um das eigene Image besorgt
Bildungscampus Heilbronn Größtes Geschenk an die Stadt
lobte drückte sich derweil, nur von wenigen wahrgenommen, in den hinteren Reihen herum und genoss still. Ein für ihn typischer Auftritt. Auf Schwarz’ Drängen war 2014 auch die Duale Hochschule Baden-Württemberg (DHBW) auf den Campus gezogen; die größte Hochschule des Bundeslands hatte bis dahin im nahe gelegenen Mosbach ihren Sitz. Und da alles irgendwie Schwarz gehört, wird auf eine Trennung der Welten erst gar kein Wert gelegt. Das Büro der Schwarz-Stiftung befindet sich auf dem Campus. Als deren Pressesprecher fungierte eine Zeit lang ein DHBW-Professor. Misslich wurde die Personalie Reinhold Geilsdörfer. Der frühere DHBW-Präsident wechselte nach seinem Eintritt in den Ruhestand 2016 nahtlos zur Schwarz-Stiftung, die er seither als Vollzeitjob mitleitet. Ein Professor zeigte ihn daraufhin wegen Vorteilsannahme an: Der Verdacht lag nahe, dass Geilsdörfer bereits als Präsident Entscheidungen in Schwarz’ Sinne getroffen haben könnte. Womöglich war darin gar Geilsdörfers Einsatz für den Standort Heilbronn begründet. Eine Razzia in Geilsdörfers Haus förderte weitere Ungereimtheiten zutage. Noch Uni-Präsident mit Beamtenstatus, hatte er für Schwarz zunächst als Berater gearbeitet, für 3000 Euro im Monat, dann sogar als Geschäftsführer der Schwarz-Stiftung, was ihm monatlich 12 500 Euro einbrachte. Die Staatsanwaltschaft ermittelte wegen Korruption. Auch Schwarz wurde verhört. Unter anderem ging es darum, wann Geilsdörfer das Angebot zum Wechsel bekommen habe. 2014, behauptet er. Vielleicht schon 2012, sagte seine Referentin aus. Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft die Ermittlungen eingestellt. Der Verdacht habe sich nicht erhärten lassen. Im Stuttgarter Wissenschaftsministerium war man höchst befremdet. Im Umfeld der Schwarz-Stiftung heißt es, Geilsdörfer hätte den Vertrag niemals unterschreiben dürfen. Er selbst will sich nicht mehr zu der Affäre äußern. Interessenskonflikte erleben Professoren der DHBW immer wieder. Sie fragen sich: Wie sehr sind wir der Wissenschaft verpflichtet – und wie sehr dem Mäzen? Ein Professor sagt: „Viele denken schon immer im Voraus: Was könnte Lidl oder Kaufland missfallen?“ Von den rund 2000 Heilbronner DHBWStudenten kommen zwar nur gut 20 Prozent von Lidl und Kaufland. Die jedoch würden bevorzugt, heißt es unter den Wissenschaftlern. Ein Professor, der eine Lidl-Studentin durchfallen ließ, soll von einem Kollegen bedrängt worden sein, sie bestehen zu lassen. Ein andermal soll die Exmatrikulation einer Lidl-Studentin von höherer Instanz rückgängig gemacht worden sein. Ein derDER SPIEGEL 16 / 2017
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A. CHUDOWSKI / WIRTSCHAFTSWOCHE
Lidl-Filiale in Essen-Kettwig: Die Angst vor Kontrollverlust ist groß
artiger Fall sei nicht bekannt, heißt es von der DHBW. Alle Studierenden würden gleich behandelt. Wenn mit jungen Leuten schlecht umgegangen werden soll, erledigen Lidl oder Kaufland das lieber selbst. Das will auch eine DHBW-Studentin erlebt haben, die in einer Kaufland-Filiale in Neckarsulm ausgebildet wurde. Ständig habe sie Ärger mit ihrem Chef gehabt, erzählt sie. Er habe geschimpft, als sie krank war. Habe sie wegen ihrer Konfektionsgröße beleidigt. Ein angemessenes Zeugnis soll er ihr erst ausgestellt haben, nachdem sie einen Anwalt eingeschaltet hatte. Es war nicht irgendein Kaufland-Markt. Sondern der, in dem auch Dieter Schwarz einkauft. Schon in ihren ersten Tagen stellte er sich der Studentin zufolge den neuen Mitarbeiterinnen vor, untersagte ihnen, ihn jemals mit Namen anzusprechen, bot sich jedoch als Gesprächspartner an für den Fall, dass sie mal ein Anliegen hätten. Als die Studentin sich ein Herz fasste und ihn auf den rüden Umgang im Laden ansprach, soll Schwarz nur geantwortet haben: So etwas traue er dem Filialleiter nicht zu. Damit war das Problem für ihn offenbar aus der Welt. Schwarz lässt ausrichten, er könne sich an diesen Vorgang nicht erinnern. Kaufland will den Fall nicht kommentieren. Der Handel ist ein raues Pflaster. Der deutsche Lebensmittelmarkt ist umkämpft, die Filialdichte ist mit am höchsten in Europa. Der Wettbewerb ist gnadenlos. Wer wachsen will, kann das nur zulasten anderer: auf Kosten der Konkurrenz, der eigenen Mitarbeiter oder der unterbezahlten Näherinnen in Bangladesch. Im Discount mit seinen niedrigen Gewinnmargen geht es um Zehntelwerte, um jeden Zentimeter Regalfläche. Aussteiger schildern immer wieder, wie Angestellte und Führungskräfte systematisch 64
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schikaniert, gedemütigt und kontrolliert werden (SPIEGEL 34/2016). Dieter Schwarz hat dieses System nicht nur toleriert, sondern etabliert. Es hat ihn groß und reich gemacht. Schon unter ihm galt der Grundsatz: Wir ändern uns nur, wenn es gar nicht anders geht. Wenn es schädlich wird fürs Geschäft. Um das eigene Image ist man bei Lidl erst besorgt, seit die Konkurrenz immer stärker wird. Und besonders, seit die Kette vor einigen Jahren in die Schlagzeilen geraten war, weil Mitarbeiter mit Kameras überwacht und geheime Krankenakten anlegt wurden. Als Reaktion holte der Konzern öffentlichkeitswirksam den ehemaligen Bundesbeauftragten für Datenschutz ins Haus. Danach mussten Pressesprecher Worst-Case-Szenarien für alle möglichen Angriffe von außen entwerfen. Die Angst vor Kontrollverlust ist groß. Wenn etwas schiefgeht, ist das schon peinlich. Unvorstellbar jedoch, Dieter Schwarz müsste davon in der Zeitung lesen. Die erste große Imagekampagne in der Firmengeschichte soll 2015 einen zweistelligen Millionenbetrag verschlungen haben. In TV-Spots waren zu Klaviergeklimper lachende Kinder zu sehen und verliebte Pärchen. Einer war den Mitarbeitern gewidmet, für die „gut nie gut genug“ und denen „ein faires Miteinander wichtig ist“. Wie der Alltag von Lidl-Mitarbeitern wirklich aussieht, kann Thomas Müssig erzählen. Der 35-Jährige ist Gewerkschaftssekretär bei Ver.di, Schwerpunkt Handel, Einsatzort Heilbronn. Mitarbeiter aus dem Schwarz-Reich gehören zu seiner Stammklientel, denn Anspruch und Wirklichkeit liegen dort weit auseinander. „Viele Werte werden leider nur für die Außenwelt formuliert“, sagt Müssig. Jeder im Konzern wisse, wie Schwarz ticke. Dass er Überstunden und Stechuhren für eine
Selbstverständlichkeit und Betriebsräte für Teufelszeug halte. Fortschrittlicher zu denken wagten wenige. Müssig spricht von einem „militärischhierarchischen“ Führungsstil, der bei Lidl und Kaufland noch immer gepflegt werde. Befehle sollen befolgt, nicht hinterfragt werden. So war es unter Schwarz. So ist es heute. „Vertrauen ist ein schwieriges Thema in diesem Unternehmen.“ Daran ändere auch das im vorigen Jahr für alle eingeführte Duzen nichts oder der neuerdings legere Kleidungsstil. Ein ehemaliger Mitarbeiter der Schwarz-Gruppe sagt: „Die Generation der Stalinisten sitzt noch immer fest im Sattel – zumindest solange Dieter Schwarz mitredet.“ Schwarz bekommt, was er will. Nicht nur in seinem Unternehmen, sondern auch in seiner Stadt. Wo er sich breitmachen will, darf er das. Selbst am schönen Neckar, selbst wenn da eigentlich schon seit Jahrzehnten jemand anders sitzt. Diese Erfahrung macht derzeit der Heilbronner Ruderklub. Grundstück und Bootshaus der „Ruderschwaben“ grenzen an die Kaufland-Zentrale, Schwarz will hier anbauen. Also wurde der Verein gefragt, ob er nicht umziehen wolle. „Wir sehen das erst mal als Chance“, sagt der Vorsitzende. Noch sei aber „nichts in trockenen Tüchern“, und vorher möchte er über keine Details sprechen, auch nicht mit den Mitgliedern. Die müssten am Ende über die offenbar sehr großzügige finanzielle Offerte der Schwarz-Gruppe abstimmen. Das städtische Schwimmbad könnte ein passendes Uferstück an den Ruderklub abtreten. Die Stadtverwaltung würde da wahrscheinlich mitspielen. Am Ende dürfte Schwarz’ Angebot – wie so oft in den vergangenen Jahren – zu gut sein, um abgelehnt zu werden. Neofeudalismus der reinen Sorte. Solche Geschichten, die Schwarz berechnend aussehen lassen, werden vermutlich keinen Eingang in die große Lidl-Chronik finden, die derzeit von einem ehemaligen Redakteur der „Heilbronner Stimme“ erstellt wird. Zwei Bände à 180 Seiten sind bereits geschrieben, sie umfassen die Zeit von 1790 bis 1930. Die Chronik darf erst veröffentlicht werden, wenn Schwarz nicht mehr am Leben ist. Dass die Lesart der Firmenhistorie in seinem Sinne ist, dürfte gewährleistet sein. Der Chronist hat einen Mitarbeiter, mit dem er sich seit neun Jahren immer wieder zum Austausch trifft und der ihm erklärt, wie alles wirklich war. Sein Name: Dieter Schwarz. Alexander Kühn, Simone Salden Mail: simone.salden@spiegel.de
Video: Das Lidl-Imperium spiegel.de/sp162017lidl oder in der App DER SPIEGEL
Wirtschaft
„Der Killerwal ist ein hoch soziales Wesen“
MARKUS HINTZEN
Gehrig: Nein, das streben wir nicht an. Wir wollen uns mit denen gar nicht vergleichen. SPIEGEL: Aber das wird angeblich bei Ihnen im Haus diskutiert. Gehrig: Ja, aber das sind Ideen von Mitarbeitern, die man wieder einfangen muss. Wir sind ein Handelsunternehmen, und da Handel Klaus Gehrig, oberster Chef von Lidl und Kaufland, über brauche ich am Ende Menschen, die gerne H-Milch, Zucker, Mehl, Butter und Obst Härte im Discount, fleißige Schwaben und sein größtes Problem: verkaufen wollen. einen Nachfolger zu finden, der so gut ist wie er selbst SPIEGEL: Ist es heute schwer für Sie, guten Nachwuchs zu finden? Gehrig, 69, ist gelernter Kaufmann. Seine Lauf- Gehrig: Eine Wertschätzung. Gehrig: Nein, aber der Anteil der Menschen, bahn begann er bei Aldi-Süd. Seit 1976 arbei- SPIEGEL: Wenn ein Unternehmen seinen die von ihrer Persönlichkeitsstruktur her tet er für Dieter Schwarz. 2004 übernahm Mitarbeitern Lockerheit verordnen muss zu uns passen, ist kleiner geworden. Die Gehrig die Leitung der Schwarz-Gruppe, zu – ist das nicht eher ein Zeichen für große Jobs bei uns erfordern mitunter auch eine gewisse Konsequenz und Härte. der die Handelsketten Lidl und Kaufland ge- Unlockerheit? Gehrig: Nein, die Menschen verändern sich SPIEGEL: Wo sind Sie selbst Ihren Mitarbeihören. Konzernsitz ist Neckarsulm. einfach. Viele ältere Führungskräfte haben tern ein Vorbild? SPIEGEL: Herr Gehrig, Sie tragen einen flau- großen Wert auf Distanz gelegt, aber das Gehrig: In meinem Stil, wie ich mit Menschigen dunkelblauen Pullover und eine brauchen eigentlich nur die, die nicht rich- schen umgehe. Ich komme eigentlich mit legere Stoffhose. Ist das jetzt die neue Klei- tig führen können. jedem zurecht. Und ich bin mit mir und derordnung bei Lidl? SPIEGEL: Wir haben gehört, dass ausgerech- mit dem, was ich tue, zufrieden, das ist Gehrig: Ja. Wir haben auch untersagt, dass net Lidl in fünf Jahren der beliebteste Ar- ganz wichtig. unsere Manager, wenn sie die Filialen be- beitgeber der Welt sein will – noch vor SPIEGEL: Trotzdem haben Sie sich selbst als suchen, im dunklen Anzug auftreten und Apple oder Google. Im Ernst jetzt? „Auslaufmodell“ bezeichnet. Wieso das? somit auf Distanz zu den MitarGehrig: Ein Typ wie ich ist doch beitern gehen. gar nicht mehr gefragt. Wir brauchen heute eine andere InSPIEGEL: In Ihrem Intranet heißt ternationalität. Meine Stärke es zu dieser neuen Kleiderregel: war und ist das operative Ge„Mit diesem Schritt sollen Hieschäft, ich bin immer noch viel rarchiegrenzen durchlässiger und draußen an der Front. die Zusammenarbeit einfacher gemacht werden.“ Kann man einSPIEGEL: An der Front? Führen facher mit Ihnen zusammenarSie Krieg? beiten, seit Sie keine Krawatte Gehrig: Nein, damit meine ich mehr tragen? die Basis – unsere Filialen. Ich nehme mir auch die Zeit, um Gehrig: Mit mir konnte man mit Filialleitern oder Kassiereschon immer einfach zusamrinnen zu reden. So bekommt menarbeiten! Wir reden da ja man am Ende vieles mit. Und nicht von mir. wenn ich von jemandem überSPIEGEL: Letztes Jahr haben Sie zeugt bin, dann kriegt er oder auch eingeführt, dass sich alle sie eine bestimmte Aufgabe. Löin der Schwarz-Gruppe duzen: sen sie diese Aufgabe zuverläsWirkt das? sig, kriegen sie eine neue. Dann Gehrig: Ja, das wirkt. schicke ich sie ein Jahr durchs SPIEGEL: Inwiefern? Unternehmen – und dann weiß Gehrig: Man ist vertraulicher mitich: Der oder die ist wirklich geeinander unterwegs. Die jungen eignet. Leute in unserem Unternehmen haben sich viel geduzt, wir wollSPIEGEL: Sie waren irgendwann ten da einheitliche, moderne Reauch einmal sehr von dem letzgeln schaffen. ten Lidl-Chef Sven Seidel überzeugt, der im Februar seinen SPIEGEL: Wird jetzt auch LidlStuhl räumen musste. Gründer Dieter Schwarz geduzt? Gehrig: Ja. Gehrig: Ich spreche grundsätzlich nicht über PersonalentscheidunSPIEGEL: Von allen? gen, auch nicht in diesem Fall. Gehrig: Nein. Nur von uns. Alle derartigen Entscheidungen SPIEGEL: Also vom Vorstand? werden im Interesse des UnterGehrig: Nein, von mir und meinehmens getroffen. ner Frau. Er hat uns vor etwa einem halben Jahr das Du anSPIEGEL: Sie haben in 18 Jahren geboten, kurz nach meinem acht Lidl-Chefs verschlissen. 40. Dienstjubiläum. Hatten die alle denselben Fehler: Sie waren nicht so gut wie SPIEGEL: Ein großer Moment für Klaus Gehrig? Sie? Konzernleiter Gehrig 2015: „Ein Typ wie ich ist nicht mehr gefragt“ DER SPIEGEL 16 / 2017
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Wirtschaft
Gehrig: Ja, das scheint so zu sein! SPIEGEL: So machen Sie immer wieder deut-
Nino Haratischwili
Feridun Zaimoglu
Christian O. Bruch
Markus Hintzen
René Fietzek Olga Grjasnowa
Melanie Grande
SPIEGEL-Gespräche live im Thalia Theater – Planet Deutschland
Volker Weidermann
Autoren nichtdeutscher Herkunft über Populismus, Heimat und die Schönheit der Sprache: Sie kamen als Kinder in die Bundesrepublik, eroberten sich eine neue Heimat und eine neue Sprache, in der sie heute Geschichten schreiben. Was erzählt uns ihre Literatur über Deutschland? Kann ihre Perspektive auf die Bundesrepublik helfen, dieses Land besser zu verstehen, das nur auf dem Papier kein Einwanderungsland ist? Diese und weitere Fragen wird der Literaturkritiker des SPIEGEL, Volker Weidermann, mit den Schriftstellern Olga Grjasnowa, Nino Haratischwili und Feridun Zaimoglu diskutieren.
Sonntag, 23. April 2017, 20 Uhr Thalia Theater, Alstertor, 20095 Hamburg Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter www.thalia-theater.de. Eintritt: 9 bis 18 Euro. Einlass ab 19.30 Uhr. Änderungen vorbehalten.
lich: Sie sind unersetzbar in diesem Laden. Gehrig: Ganz im Gegenteil: Jeder ist ersetzbar. SPIEGEL: Was muss ein Lidl-Chef mitbringen? Gehrig: Neben der fachlichen Qualifikation vor allem Bodenhaftung und Empathie. Große Feste, aufwendige Reisen, ein Champagnerfrühstück auf dem Eiffelturm, das passt nicht zu uns. SPIEGEL: Letzteres soll ja Herrn Seidels Idee gewesen sein … Gehrig: Wir sind ein mittelständisch geprägtes Unternehmen, und dazu gehört eine gewisse Bescheidenheit. Manche haben das in der Vergangenheit mitunter vergessen. Fehler passieren. Aber ich erwarte, dass die Mitarbeiter zu ihren Fehlern stehen und mich informieren. SPIEGEL: Wo hätten Sie sich mehr Bescheidenheit gewünscht? Gehrig: Schauen Sie sich die Lidl-Filialen an, die wir im letzten Jahr gebaut haben, zum Beispiel in Osteuropa. Das sind teilweise riesige Glaspaläste. Aber diese überzogene Bauweise befremdet die Menschen dort. Außerdem passt sie nicht zu uns, und die Umsätze stehen in keiner Relation zum Aufwand. Hier brauchen wir wieder mehr Kostenbewusstsein. SPIEGEL: Worauf achten Sie denn in einer Filiale? Gehrig: Ich bin jetzt seit 46 Jahren in der Branche, ich spüre sofort: Stimmt es, oder stimmt es nicht. Wenn ich zum Beispiel diese großen Eingangshallen in manchen unserer neuen Märkte sehe, das ist doch Platzverschwendung. Bei uns zählt jeder Quadratzentimeter Regalfläche. Natürlich muss man die Filialen aufhübschen. Aber man muss nicht einen Fußboden rausreißen, der gerade einmal sieben Jahre alt ist, und dann einen neuen verlegen lassen, der nur ein paar Nuancen heller ist. Jetzt muss viel öfter sauber gemacht werden, weil der helle Boden schneller Schmutz annimmt. Darüber hätte man vorher nachdenken müssen. SPIEGEL: Sie gelten ja als harter Hund … Gehrig: Nein, ich trage meine Vorstellungen nur engagiert vor. Und ich bin konsequent. Das ist ein Unterschied. SPIEGEL: Sie werden firmenintern „der Killerwal“ genannt. Gehrig: Das habe ich noch nie gehört. Aber ich bin jemand, der die Dinge positiv sieht. Und der Killerwal ist ja ein hoch soziales Wesen, das im Team arbeitet … SPIEGEL: … um kleine Robben zu töten. Gehrig: Am Ende ernährt sich jeder irgendwie. SPIEGEL: Können Sie einmal Ihre weiche Seite beschreiben? Gehrig: Ich habe viel Mitgefühl. Besonders wenn ich mich von Mitarbeitern trennen 66
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FOTOSAMMLUNG STADTARCHIV HEILBRONN
Erstes Lidl-Geschäft in Heilbronn um 1905: „Eine gewisse Bescheidenheit“
muss. Aber es gibt Grenzen. Man kann so einen Job nicht machen, wenn man alle Probleme dieser Welt lösen will. Wir agieren in einem harten Wettbewerbsumfeld, da kann ich nur sagen: Entweder wir behaupten uns, oder wir sind weg vom Markt. Und glauben Sie mir, ich will ja auch, dass die Näherinnen in Bangladesch mehr verdienen. SPIEGEL: Aber Sie profitieren doch von den niedrigen Löhnen dort. Gehrig: Wenn ich morgen einen Euro mehr für ein T-Shirt verlange oder sogar nur 30 oder 50 Cent, dann kauft der Kunde das nicht mehr bei uns, sondern bei der Konkurrenz. Sie können Bangladesch nicht mit Deutschland vergleichen. Das Gehaltsgefüge stimmt nicht. Es kann nicht sein, dass eine Näherin dort so viel verdient wie ein mittlerer Beamter. Oder Rumänien: Dort bekommt ein Lidl-Filialleiter so viel wie ein Bürgermeister. SPIEGEL: Macht Ihnen das alles kein schlechtes Gewissen? Gehrig: Nein. Wenn ich ein schlechtes Gewissen hätte, könnte ich diesen Job nicht machen. Wir können nur bedingt zu mehr Gerechtigkeit auf der Welt beitragen. SPIEGEL: Aber wir in Deutschland leben dadurch auf Kosten anderer. Gehrig: Das stimmt! Allerdings sind wir Deutschen vielleicht ein bisschen fleißiger unterwegs als andere. Sie können nicht aus jedem Menschen einen Schwaben machen. SPIEGEL: Sie werden nächstes Jahr 70 Jahre alt. Macht Ihnen der Gedanke an den Ruhestand Angst? Gehrig: Nein, ich gehe ja nicht in Ruhestand. Aber ich stelle mir oft die Frage: Arbeite
ich, weil ich nicht ohne Arbeit sein kann? Ehrlicherweise: ja. SPIEGEL: Wann wollen Sie denn gehen? Gehrig: Wenn der Inhaber sagt: Jetzt ist es an der Zeit! Ich entscheide das ja nicht. Wenn er morgen sagt: Lieber Klaus, das ist es jetzt gewesen. Dann sage ich: Vielen Dank, wir haben gerne, vertrauensvoll und erfolgreich zusammengearbeitet. Und dann bin ich morgen eben nicht mehr da. SPIEGEL: Wäre ein freiwilliger Rückzug nicht ehrenhafter? Gehrig: Was heißt ehrenhaft? Ich habe dem Unternehmen noch viel zu geben. Und ich habe von meinem Inhaber die Aufgabe bekommen, dass ich die nächsten zwei, drei Jahre meinen Nachfolger einarbeiten soll. SPIEGEL: Wer ist denn ihr Kronprinz? Gehrig: Es ist keiner benannt. Aber wir haben immer noch ein Ass im Ärmel. Wir haben hervorragende Leute. Ich beobachte verschiedene Menschen auf verschiedenen Positionen und biete ihnen die Chance, sich zu bewähren. Mal sehen, wohin das führt. SPIEGEL: Herr Schwarz ist jetzt auch schon 77. Kommt er noch täglich ins Büro? Gehrig: Ja, klar. SPIEGEL: Was macht er den ganzen Tag? Gehrig: Der ist gut beschäftigt, von morgens bis abends, glauben Sie mir. SPIEGEL: Wir oft sprechen Sie miteinander? Gehrig: Wir haben etwa alle drei Wochen einen festen Termin. Und wir telefonieren, wenn es notwendig ist. SPIEGEL: Hat er noch immer bei allem das letzte Wort? Gehrig: Selbstverständlich. Er ist der Inhaber. Interview: Alexander Kühn, Simone Salden DER SPIEGEL 16 / 2017
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Wirtschaft
Revolution ohne Garantie
Betriebsrenten Die geplante Reform soll schaffen, was Riester nicht gelang: die sinkenden gesetzlichen Altersbezüge auszugleichen. Doch sie macht alles noch viel komplizierter.
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rund 18 Prozent. Das gibt es bei kaum ei- und die Renten später aus dem laufenden Geschäft zu zahlen. Dann trägt man als ner anderen Form der Vorsorge. Trotzdem soll die staatlich geförderte Arbeitgeber aber ein erhebliches Risiko. Betriebsrente – die sogenannte Entgeltum- Daneben bieten Pensionskassen und Penwandlung – jetzt das deutsche Rentensys- sionsfonds an, die Organisation der Betem retten und erreichen, was die Riester- triebsrente zu übernehmen. Oder man Rente nie geschafft hat: die sinkenden ge- schließt einfach bei einem Lebensversicherer einen Vertrag für den Mitarbeiter ab setzlichen Altersbezüge auszugleichen. Der Bundestag soll dafür noch in dieser (siehe Grafik). Vor allem kleine Firmen greifen oft auf Legislaturperiode ein Reformgesetz verabschieden, damit die Betriebsrente auch in diese sogenannte Direktversicherung zukleinen Firmen endlich zum Standard wird. rück, doch als Ahl mit verschiedenen VerDoch selbst Koalitionsabgeordnete haben sicherungsmaklern sprach, waren für ihn ihre Zweifel, ob der aktuelle Vorschlag die- „vor allem die Kosten nur sehr schwer zu durchschauen“. Man müsse sich schon in ses Ziel erreichen kann. Dabei sind sich fast alle Fachleute einig, das Thema „reinfuchsen“, lautet Ahls Fadass die Idee der Entgeltumwandlung gut zit, der jetzt einen unabhängigen Experten ist: Arbeitnehmer können einen bestimm- engagiert hat. So geht es vielen Kleinunternehmern, ten Teil des Einkommens in eine Altersvorsorge stecken, dann fallen Steuern und und nicht jeder hat die Kapazitäten, sich Sozialabgaben auf den Beitrag weg, auch so intensiv mit dem Thema zu beschäftigen wie Ahl. „Ein Dachdeckermeister, der für den Arbeitgeber. „Eigentlich finde ich die Betriebsrente abends noch die Buchhaltung mit seiner prima, weil sie auch ein super Argument Frau erledigt, hat dafür weder Geld noch bei der Suche nach neuen Mitarbeitern Zeit“, sagt Detlef Lülsdorf, der Firmen in ist“, sagt Moritz Ahl. Er ist 33 und Chef Fragen der Betriebsrente berät. Doch anstatt dieses Problem zu lösen von Constructiva Solutions, einer Internetagentur mit fünf fest angestellten Mit- und das System grundlegend zu vereinfachen, fügt das geplante „Gesetz zur Stärarbeitern. Als Ahl sich kürzlich entschloss, das kung der betrieblichen Altersversorgung“ Thema anzugehen, stellte er ziemlich dem Durcheinander noch eine weitere schnell fest: Das deutsche Betriebsrenten- Variante hinzu: das sogenannte Sozialpartsystem ist reichlich unübersichtlich. Da nermodell. Es sieht vor, dass Arbeitgebergibt es die Möglichkeit, die Vorsorgebei- verbände und Gewerkschaften künftig geträge in den eigenen Betrieb zu stecken meinsam Betriebsrenten für ihre Branche aushandeln und entsprechende Tarifverträge abschließen. Der Gedanke dahinter: Die Verbände können effizientere Betriebsrentenlösungen finden als der Chef eines einzelnen Unternehmens. Und damit werden die Tarifverträge auch für kleine, nicht tarifgebundene Unternehmen attraktiv. Natürlich wird die Betriebsrente schon heute in vielen Tarifverträgen thematisiert – allerdings schafft das Gesetz ganz neue Möglichkeiten. So soll der Arbeitgeber in der schönen neuen Betriebsrentenwelt verpflichtet werden, die eingesparten Sozialabgaben auf die Beiträge größtenteils wieder zur Betriebsrente zuzuschießen. Außerdem soll die sogenannte Opt-out-Regel beschlossen werden, heißt: Jeder Arbeitnehmer, der nicht ausdrücklich Nein sagt, ist dabei. Vor allem aber sollen beim neuen Sozialpartnermodell nur noch unverbindliche „Zielrenten“ vereinbart werden – und keinerlei garantierte Mindestzusagen mehr Unternehmenschef Ahl: „Sehr schwer zu durchschauen“ CHRISTOPH PAPSCH / DER SPIEGEL
ie viel Rente er einmal haben wird? Kann Andreas Marek, 57, nicht so genau sagen. Obwohl er sich als Kaufmann mit Zahlen auskennt – und bei der Altersvorsorge eigentlich alles richtig gemacht hat. Schon früh steckte Marek Teile seines Gehalts in eine Betriebsrente, als Ergänzung zu seiner gesetzlichen Rente. Das Problem ist nur: Mareks Lebenslauf ist so bunt wie der vieler Arbeitnehmer. Er arbeitete an einer Uni, bei einem Elektrounternehmen, wechselte zur spanischen Handelskammer und ist heute Geschäftsführer bei einem Wirtschaftsverband. Jeder Arbeitgeber hatte sein eigenes Betriebsrentensystem, bei jedem Jobwechsel musste Marek umsteigen. Jetzt hat er zig Verträge in der Schublade, mit jeweils anderen Konditionen, „das ist ziemlich anstrengend zu verwalten“, sagt er. Und lohnen wird sich das Ganze kaum. Das hat ihm kürzlich Brigitte Mayer von der Verbraucherzentrale Hessen vorgerechnet. „Als Faustregel gilt: Wer zweimal mit einer Betriebsrente den Job wechselt, der macht wahrscheinlich eine negative Rendite“, erklärt die Beraterin. Heißt: Am Ende kommt unter Umständen sogar weniger raus, als man eingezahlt hat. Denn oft werden für neue Verträge hohe Gebühren fällig. Noch dazu drückt auf die Rendite, dass Betriebsrentner auf die Auszahlungen im Alter noch den vollen Krankenkassenbeitrag zahlen müssen – derzeit
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möglich sein. Das ist eine kleine Revolution, bedenkt man, dass der deutsche Sparer vor allem beim Thema Altersvorsorge als besonders sicherheitsbedürftig gilt. Und genau diese Revolution sorgt gerade für mächtig Ärger, auch wenn sie durchaus Vorteile hat. Denn das sogenannte Garantieverbot bedeutet, dass Arbeitgeber nicht mehr wie bisher für die Renten ihrer ehemaligen Mitarbeiter haften müssen, wenn etwa die Pensionskasse oder der Versicherer ausfällt, mit dem man zusammenarbeitet. Obwohl diese Gefahr in den meisten Fällen eher theoretischer Natur ist, sei sie bisher „ein wesentlicher Hemmschuh“ für die betriebliche Altersvorsorge gewesen, glaubt Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Die Angestellten wiederum hätten bei dem Zielrentenmodell größere Chancen auf Rendite. Denn Garantien schmälern die Renditechancen, weil der Garantiegeber das Geld ja zu großen Teilen vorhalten muss und nicht frei investieren kann. Trotzdem bedeuten höhere Chancen in der Geldanlage eben auch immer höhere Risiken. Peter Schwark vom Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV), dem Lobbyverband der Versicherungsindustrie, wird derzeit nicht müde, an diese Binsenweisheit zu erinnern. „Nach der jetzigen Gesetzesvorlage können die Renten sogar in der Auszahlphase jederzeit gekürzt werden“, sagt er. „Dabei sind die Menschen in der Rentenphase besonders verletzlich.“ Ganz uneigennützig ist diese Fürsorge natürlich nicht: Würde das Garantieverbot aufgeweicht, hätten die Versicherer einen entscheidenden Wettbewerbsvorteil in der neuen Betriebsrentenwelt. Pensionskassen nämlich erfüllen nicht die nötigen Eigenkapitalvorschriften, um irgendeine Form von Garantie anzubieten, ohne dass am Ende der Arbeitgeber haftet. Allerdings hat Schwark wohl nicht ganz unrecht, wenn er feststellt: „Die Deutschen wollen eine bestimmte Sicherheit bei der Altersvorsorge haben.“ Der Anteil der bisher verkauften privaten Altersvorsorgeprodukte ohne jede Garantie mache in seiner Branche derzeit nur einen niedrigen einstelligen Prozentsatz am Gesamtvolumen aus, fügt er hinzu. Diese Zahl hat offenbar auch Vertreter der CSU in letzter Minute nachdenklich gestimmt, weshalb der Termin für die Verabschiedung im Parlament jetzt erst einmal verschoben wurde. Am liebsten würden die Bayern das Garantieverbot zumindest für die Rentenphase lockern. Weil das aber wahrscheinlich rechtlich schwierig wird, soll es tarifgebundenen Firmen wenigstens ermöglicht werden, beim Thema Betriebsrente aus dem Tarifvertrag auszuscheren, wenn Arbeitgeber und Betriebsrat dem zustimmen.
Betriebsrente bisherige und alternative Entgeltumwandlung § §
GELTENDES RECHT
SOZIALPARTNERMODELL
Arbeitgeber zahlen einen Teil des Arbeitnehmergehalts für eine Altersvorsorge ein. Auf die Beiträge fallen keine Steuern und keine Sozialabgaben an.
DURCHFÜHRUNGSWEGE
NEUERUNGEN
Direktzusage Arbeitgeber zahlt im Alter an Arbeitnehmer eine monatliche Betriebsrente.
Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände vereinbaren ein branchenweites Betriebsrentenmodell. Versorgungsträger sind Pensionskassen oder Pensionsfonds.
Unterstützungskasse Zumeist in der Rechtsform eines eingetragenen Vereins. Direktversicherung Arbeitgeber schließt für Arbeitnehmer eine Lebensversicherung ab. Pensionskasse Wird von einer oder mehreren Firmen getragen. Pensionsfonds Flexibler als herkömmliche Modelle betrieblicher Altersversorgung. (Mindest-)Leistungen werden in der Regel garantiert. Fällt der Versorgungsträger aus, haftet der Arbeitgeber!
Arbeitnehmer
Dabei sollte das neue Sozialpartnermodell doch eigentlich für alle attraktiv sein, sogar für nicht tarifgebundene Betriebe. Doch auch da regen sich Zweifel, ob kleine Firmen reihenweise etwaige Renten-Tarifverträge übernehmen werden, die sie weder verstehen noch beeinflussen können. „Wir machen eine Tür auf, aber wie viele durchgehen werden, weiß ich nicht“, sagt ein Abgeordneter. Deshalb hat die Regierung zur Vorsicht in dem Gesetz auch an der alten Welt der Betriebsrenten etwas herumgebastelt. Quer über alle Systeme hinweg soll etwa gelten, dass Arbeitgeber, die die Betriebsrenten von Geringverdienern mit 20 bis 40 Euro im Monat bezuschussen, 30 Prozent davon über die Steuer zurückbekommen. Darüber hinaus soll eine mögliche Betriebsrente nicht mehr vollständig auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden. Ein Freibetrag von immerhin 100 bis 200 Euro ist vorgesehen – ein „his-
Statt Garantierenten gibt es nur eine unverbindliche „Zielrente“. Arbeitgeber müssen 15 Prozentpunkte der eingesparten Sozialabgaben zur Betriebsrente zuschießen. Opt-out-Modell Arbeitnehmer, die keine Entgeltumwandlung wollen, müssen das ausdrücklich sagen. Arbeitgeber haften nicht für Mitarbeiterrenten – „pay and forget“!
torischer Schritt“, wie Arbeitsministerin Nahles findet. Schließlich gilt die volle Anrechnung auf die Grundsicherung als wichtiger Grund für das Scheitern der Riester-Rente. Der CDU-Abgeordnete Peter Weiß, der derzeit mit seinen Koalitionskollegen noch die letzten Verhandlungen zur Vorlage führt, will außerdem noch einige Elemente aus dem Sozialpartnermodell auf das gesamte System übertragen. „Das Opt-outModell sollte für beide Welten gelten“, sagt er, „genau wie die Pflicht der Arbeitgeber, die durch die Entgeltumwandlung eingesparten Sozialabgaben in Teilen zu der Vorsorge zuzuschießen. Das würde tatsächlich den Durchbruch für die betriebliche Altersvorsorge bedeuten.“ Allerdings bleibt das Problem, dass eine Betriebsrente bei häufigem Jobwechsel schnell unrentabel wird, wohl auch in Zukunft bestehen. Die Frage der Krankenkassenbeiträge in der Rentenzeit wird mit dem Gesetz ebenfalls kaum verbessert – weil den gesetzlichen Krankenkassen sonst jährlich mehrere Milliarden fehlen würden. „Arbeitnehmer müssen auch in Zukunft Betriebsrentenangebote genau prüfen und im Zweifel Nein sagen“, warnt die Verbraucherschützerin Mayer deshalb. „In vielen Fällen kann eine andere Geldanlage schlicht besser sein.“ Anne Seith Mail: anne.seith@spiegel.de DER SPIEGEL 16 / 2017
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Wirtschaft
Strecken mehr Plätze in den Verkauf gege- Lufthansa hingegen wird ab dem 361. Tag ben, als tatsächlich vorhanden sind. Das vor Abflug ständig die Auslastung prognoshat auch einen Vorteil für die Kunden: tiziert; je näher das Flugdatum rückt, desto Selbst komplett ausgebuchte Verbindungen genauer werden die Vorhersagen. Die Überbuchungsrate liegt im Schnitt bei fünf Prokönnen noch gekauft werden. Geschäftsreisende mit flexiblen Tickets zent, drei Millionen gebuchte Lufthansaerscheinen häufiger nicht als Urlauber mit Passagiere erschienen 2016 nicht. Für den Lufthansa-Flug von Frankfurt einem restriktiven Ticket. Mancher ReisenLuftfahrt Nach dem Rauswurf de will nur eine Strecke fliegen, bucht aber nach Orlando am vergangenen Montag eines United-Airlines-Passagiers Hin- und Rückflug, weil das billiger ist – zeigt das nur für Mitarbeiter zugängliche wird die Praxis der Überbuchun- ohne Überbuchung ein leerer Platz. Gibt System 281 gebuchte Passagiere in der Ecoviele Verbindungen, wie zwischen Ham- nomyclass an. Es gibt in der Boeing 747gen kritisiert. Manche Passagiere es burg und Frankfurt, ist die Wahrscheinlich- 400 aber nur 272 Sitzplätze. Auch in der profitieren jedoch davon. keit groß, dass ein Gast sich spontan für Premium-Economy-Class reichte der Platz nicht aus: 34 Buchungen kamen auf 32 Sitzeinen anderen Flug entscheidet. Dienstags und mittwochs ist im Luftver- plätze. Weil aber nur 51 Gäste Businessclass s dauerte nur Minuten, dann brandete eine Welle der Empörung kehr am wenigsten los, kritisch wird es oft gebucht hatten, ging die Rechnung auf: durchs Netz. Ein Passagier war aus an Freitagen und Sonntagen. Auch die Des- Dort waren 67 Sitzplätze verfügbar, und einer Maschine von United Airlines ge- tinationen spielen eine Rolle: Auf Japan- Lufthansa konnte einige Kunden mit einem zerrt worden. Er schrie, als ihn Flughafen- oder Südkorea-Strecken bleiben gebuchte Upgrade auf einen Liegesitz überraschen. Die wahren Probleme beginnen erst, Offizielle martialisch über die Auslegeware Gäste kaum fern. Reisende aus Lateinameder Maschine schleiften, Blut lief über sein rika gelten dagegen als „landestypisch un- wenn mehr Passagiere mitfliegen wollen, zuverlässig“, wie es ein Lufthanseat for- als Plätze im gesamten Flugzeug vorhanden Gesicht. Seit diesem Vorfall vom vergangenen muliert – auf diesen Strecken wird folglich sind. Als Faustformel gilt: Wer wenig für ein Ticket bezahlt hat und kein Vielflieger Wochenende hat eine der größten US-Flug- mehr überbucht. Billigairlines verkaufen seltener mehr Ti- mit Statuskarte ist, wird häufiger am Boden linien ein handfestes PR-Problem. Experten bescheinigten der Airline ein miserables ckets, als sie Plätze haben. Ihre Tickets ver- gelassen. Auch ein später Check-in macht Krisenmanagement, Kunden riefen zum fallen meist, wenn ein Gast die Reise nicht es wahrscheinlicher, nicht mitzukommen. Boykott auf und forderten die Entlassung antritt, weshalb es unwahrscheinlich ist, Einzelreisende ziehen häufiger den Kürdes United-Chefs Oscar Munoz. Mancher dass ein gebuchter Platz leer bleibt. Bei zeren als Familien. Doch die Zahl dieser Fälle ist insgesamt gering. Nur 6 von Beobachter (t)witterte gar, die Flug100000 Passagieren mussten 2016 gelinie werde sich von diesem Imagegen ihren Willen am Boden bleiben, schaden nie mehr erholen. so die offizielle Statistik für US-FlugDenn das Opfer des rabiaten Zulinien. griffs hatte sich nichts zuschulden Manchmal sind dafür auch Kunkommen lassen. Der Mann besaß den verantwortlich, welche die Airein gültiges Ticket von Chicago nach line für wichtiger als andere hält. Bei Louisville. Weil aber vier UnitedLufthansa haben Vielflieger im TopCrewmitglieder mit an Bord mussstatus eines HON Circle das Recht, ten, suchte die Airline nach Freiwil24 Stunden vor Abflug jeden Flug ligen, die das Flugzeug verlassen. buchen zu dürfen. Ist der voll, muss Trotz einer 1000-Dollar-Prämie melein anderer Passagier dableiben. dete sich niemand. United wählte Eine kleine Gruppe von Reisendeshalb vier Passagiere aus, die geden legt es sogar darauf an, nicht hen mussten. mitgenommen zu werden. Denn Personal auf dem Weg zum Arschnell kann die Entschädigung den beitseinsatz hat Vorrang, dieser Flugpreis übersteigen. Die EU-VerGrundsatz gilt bei vielen Fluglinien. ordnung sieht 600 Euro für denjeni„Sonst fällt womöglich ein ganzer gen vor, der auf einem LangstreFlug aus und der wirtschaftliche ckenflug nicht mitgenommen wird. Schaden wäre viel größer“, sagt ein Hinzu kommt das Ticket für einen Airline-Manager. Normalerweise Ersatzflug. Um einen emotionalen werden die überzähligen Passagiere Kassensturz bei Passagieren zu veraber, anders als im United-Fall, gar meiden, zahlen Airlines manchmal nicht erst an Bord gelassen. noch großzügiger, wenn sich ein PasDass Passagiere zurückbleiben sagier freiwillig für einen anderen müssen, passiert regelmäßig. Selten Flug entscheidet. Mit Verhandlungssind reisende Mitarbeiter dafür vergeschick ist auch ein Business-Upantwortlich, vielmehr überbuchen grade drin. Airlines ihre Flüge. Das Kalkül da„Man darf sich niemals sofort melhinter: Erst ab einer bestimmten den, wenn Freiwillige gesucht werAuslastung ist ein Flug profitabel, den. Beim dritten Aufruf fängt es die genaue Zahl hängt vor allem mit an, lukrativ zu werden“, rät ein Airden erlösten Ticketeinnahmen zuline-Manager. sammen. Weil aber immer wieder Martin U. Müller Reisende trotz gültiger Buchung Mail: martin.mueller@spiegel.de, Twitter: @MartinUMueller nicht erscheinen, werden auf vielen Szene an Bord des United-Flugs 3441: Handfestes PR-Problem
Mach mal den Abflug
QUELLE YOUTUBE
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Sport Durch nationale Regelungen geschützte Sportübertragungen* im europäischen Free-TV GROSSBRITANNIEN • Grand National (Pferdehindernisrennen) • Derby (Pferderennen) • Tennis-Finale Wimbledon • Finale der RugbyWeltmeisterschaft
DEUTSCHLAND • Olympische Sommer- und Winterspiele • Länderspiele der Fußball-Nationalmannschaft • Fußball-EM und -WM (alle Spiele mit deutscher Beteiligung, Eröffnungsspiel, Halbfinale, Finale) • Halbfinale und Finale des DFB-Pokals • Finale Europa und Champions League mit deutscher Beteiligung
IRLAND • Finale der Gaelic-Football und Hurlingmeisterschaften • Irish Grand National und Irish Derby (Pferderennen) • Nations Cup (Springreiten)
ÖSTERREICH • Alpine Skiweltmeisterschaften • Nordische Skiweltmeisterschaften
KROATIEN
FRANKREICH
• Finalspiele Wasserball-EM und -WM und Spiele mit kroatischer Beteiligung
BELGIEN • Straßenrad-WM • Davis und Fed Cup (Tennis) Finalspiele mit belgischer Beteiligung
BULGARIEN
ITALIEN • Giro d’Italia (Radrennen) • Großer Preis von Italien (Formel 1)
• WM im Ringen • Länderspiele der Volleyball-Nationalmannschaft der Männer
Mit der Neuregelung der Übertragungsrechte könnten ab der übernächsten Saison die Spiele der FußballChampions-League komplett im Pay-TV verschwinden. Laut dem Rundfunkstaatsvertrag muss nur ein Endspiel mit deutscher Beteiligung im frei empfangbaren Fernsehen übertragen werden. Immer wieder wird diskutiert, welche Sportarten in Deutschland geschützt werden sollen. In einigen Ländern ist die Liste sehr lang. In Großbritannien etwa müssen manche Pferderennen jedem TV-Zuschauer ohne Geld zugänglich sein.
Magische Momente
„Keine weichen Typen“ Olaf Thon, 50, Schalke-Idol und Fußballweltmeister, über den Uefa-Cup-Gewinn 1997
SPIEGEL: Die Spiele in der
Europa League gegen Ajax Amsterdam wecken bei Schalke 04 Erinnerungen an den Triumph im Uefa-Cup vor 20 Jahren. Welchen Stellenwert hat er für Sie? Thon: Dieser Siegeszug der sogenannten Eurofighter hat Schalke 04 wieder salonfähig gemacht. Es waren ja die ersten internationalen Spiele nach 19 Jahren. In meiner Karriere war es die tollste Saisonleistung einer Mannschaft. Die Weltmeisterschaft 1990 war mein wichtigster Erfolg, das 6:6 als 18-Jähriger gegen Bayern München im Pokal mein größtes Spiel. Aber 1997 war etwas ganz Spezielles. SPIEGEL: Weil es ein Triumph der Leidenschaft war, mit dem Außenseitersieg im Elfmeterschießen bei Inter Mailand als Höhepunkt? Thon: So schlecht waren wir gar nicht. Jeder hatte eine
ganz spezielle Gabe. Ingo Anderbrügge hatte den besten Schuss, Marc Wilmots und Mike Büskens waren die besten Fighter, Yves Eigenrauch war der Schnellste, Jens Lehmann der beste Torwart von allen. Und alles keine weichen Typen. SPIEGEL: Sie waren der Kapitän und eine Art Libero vor der Abwehr. Heute sind Sie Leiter der Abteilung Traditionself bei Schalke 04 und TV-Experte bei Sport 1. Wie würden Sie Ihre damalige Rolle beschreiben? Thon: In einem Team mit starken Charakteren musste ich ausgleichend sein und dämpfend wirken. Wie ein Meniskus, habe ich früher gesagt, wenn es mal Spannungen gab. Zum Beispiel als unser Abwehrmann Johan de Kock im Halbfinale bei CD Teneriffa einfach zum Elfmeter antrat, obwohl
er als Schütze nicht vorgesehen war – und zwei Meter neben das Tor schoss. SPIEGEL: Wie wurde nach dem Triumph von Mailand gefeiert? Thon: Wir flogen nachts noch zurück nach Köln. Von dort fuhren meine Frau und
ich morgens um halb fünf zu meinen Schwiegereltern, die auf unsere Töchter aufgepasst hatten, wir brachten Brötchen mit. Dann haben wir die Kleine in den Kindergarten gebracht, die Größere in die Schule und uns kurz schlafen gelegt. Und schon ging es weiter mit dem Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Gelsenkirchen. SPIEGEL: Auf den Fotos von der Ehrung in Mailand sieht man Sie mit einem viel zu großen Siegershirt. Thon: Ich mochte immer schon lieber Sachen, die zu groß sind. Aber haben Sie gesehen, wie ich den riesigen, sperrigen Pokal stemme? Mit einer Hand. kra DANIEL DAL ZENNARO / ANSA / PICTURE ALLIANCE
PICTURE ALLIANCE DPA
• Halbfinale und Finale der Rugby-Weltmeisterschaft • Finale Damen- und Herreneinzel des Tennisturniers Roland-Garros in Paris • Tour de France und Paris― Roubaix (Radrennen) • Finale Basketball-EM und -WM der Frauen und Männer mit französischer Beteiligung
Ein Herz für Pferde
• Eishockeyweltmeisterschaft der Männer • Nordische Skiweltmeisterschaften
• Handball-EM und -WM der Frauen und Männer (alle Spiele mit dänischer Beteiligung, Halbfinale, Finale)
*Deutschland komplett, restliches Europa Auswahl
TV-Übertragungen
FINNLAND
DÄNEMARK
Thon 1997
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BULLS / BARCROFT MEDIA
Fußballprofi Ronaldo im Juni 2009 im Urlaub in Las Vegas
Sport
Gefangene einer Nacht Fußball Eine Amerikanerin geht in Las Vegas zur Polizei. Sie behauptet, von einem Sportler vergewaltigt worden zu sein: Cristiano Ronaldo. Ob das wirklich geschah, wird nie aufgeklärt. Rechtsanwälte regeln den Fall, der Real-Star zahlt.
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ott sei immer an seiner Seite. Er könne das fühlen, sagt Cristiano Ronaldo. „Da ist jemand, der mich
lenkt.“ Cristiano Ronaldo dos Santos Aveiro, 32, geboren in Funchal auf Madeira, getauft in der Kirche Santo António, gesegnet mit Talent. Der Weltfußballer von Real Madrid bekreuzigt sich oft nach einem wichtigen Tor oder schickt mit einer Geste Grüße in den Himmel. Eine Zeit lang trug er zum Zeichen seiner Gläubigkeit auch einen Rosenkranz um den Hals. Es gibt Fotos von Ronaldo, auf denen die Gebetskette zu sehen ist. Sie ist weiß. Die Farbe der Unschuld. Der weiße Rosenkranz blieb auch einer jungen Frau in Erinnerung, die Ronaldo am 12. Juni 2009 in Las Vegas getroffen hat. Er machte dort Urlaub mit seinem Schwager und einem Cousin. Die Amerikanerin war die Zufallsbekanntschaft einer langen Partynacht. Ein Flirt. Irgendwann landeten die hübsche Frau und der berühmte Kicker im Schlafzimmer einer Suite im Palms Place Hotel. Laut einem Polizeiprotokoll soll es da schon früh am Morgen gewesen sein. Was in jener Nacht und in diesem Schlafzimmer geschehen sein soll, beschreibt Susan K. in einem Brief an Ronaldo, den sie über ein Jahr nach der Begegnung verfasste. Er ist verstörend. Ein langer, gellender Aufschrei. K. behauptet darin, von Ronaldo vergewaltigt worden zu sein. Der weiße Rosenkranz, „the white rosary“, taucht ungefähr in der Mitte des Briefes auf. „Du sprangst von hinten auf mich“, schreibt Susan K., „mit einem weißen Rosenkranz um deinen Hals!!“ Es folgen zwei Fragesätze, die sie mit Ausrufezeichen beendet: „Was würde Gott darüber denken!!! Was würde Gott über Dich denken!!!“ Der Brief von Susan K. an Ronaldo liegt dem SPIEGEL vor. Er gehört zu einer Dokumentensammlung, die das Enthüllungsportal Football Leaks dem NachrichtenMagazin überlassen hat. Das Schreiben, fast sechs Seiten lang, ist eine wütende Anklage. Aber entsprechen die Schilderungen K.s auch der Wahrheit? Der Inhalt dieses Schreibens ist heikel, er kann den Ruf eines Mannes beschädigen, der zu den größten Stars des Weltsports gehört. Weil die Geschichte der Susan K.
aber wahr sein kann, muss sie erzählt werden. Denn sie wirft ein Schlaglicht auf eine Gesellschaft, in der sich manche Menschen offenbar fast alles leisten können. Sie berichtet von einem bislang unbekannten Teil der großen Cristiano-Ronaldo-Story. Einer Heldensaga, die düsterer zu sein scheint, als viele seiner Fans denken. Es gibt noch ein weiteres Dokument, das sich mit dem, was in den frühen Morgenstunden des 13. Juni 2009 in Appartement 57306 vorgefallen sein soll, beschäftigt. Es handelt sich um ein „Settlement Memorialization“, eine außergerichtliche Einigung zwischen Susan K. und Ronaldo. Sie wurde Monate nach der Nacht in Las Vegas ausgearbeitet. Es waren mindestens neun Anwälte daran beteiligt. Laut dieser Vereinbarung, die elf Klauseln enthält, verpflichtet sich Susan K., über das, was in dem Schlafzimmer passiert ist, für immer zu schweigen. Sie verpflichtet sich, alle Tatvorwürfe fallenzulassen. Ronaldo muss ihr 375 000 Dollar bezahlen.
Kann es gut ausgehen, wenn die Justiz übergangen wird, sich Beteiligte aus der Affäre ziehen? In dem Dokument hat Susan K. das Kürzel „Ms. P“, Ronaldo ist „Mr. D“. In Klausel Nummer acht heißt es: „Ms. P willigt ein, Mr. D die Vornamen aller Personen zur Verfügung zu stellen, denen sie vom Vorwurf der Vergewaltigung erzählt hat und denen sie die Identität von Mr. D preisgegeben hat … Außerdem erklärt sie, dass es keine weiteren Personen gibt, denen sie von den Vorgängen erzählt hat.“ In Klausel Nummer elf heißt es: „Ms. P wird versichern, dass sie sämtliche elektronischen und schriftlichen Aufzeichnungen, die infolge des angeblichen Vorgangs entstanden sind, unwiderruflich zerstört hat.“ Wenn sie gegen die Vereinbarungen verstößt, muss sie das Geld zurückzahlen. Sollte Ronaldo aus einer Indiskretion Schaden entstehen, müsste sie auch dafür aufkommen. Die Vereinbarung wurde am 12. Januar 2010 unterschrieben. Von Susan K., von
mehreren Juristen. Cristiano Ronaldo unterzeichnete nicht persönlich. Für ihn zeichnete sein portugiesischer Anwalt Carlos Osório de Castro, der seit Jahren das Rechtliche um den Fußballer herum regelt. Die Auseinandersetzung um die Vorgänge in Appartement 57306 im Palms Place Hotel sollten mit diesem Schriftstück ausgelöscht, aus der Welt geschafft werden. Was vom 12. auf den 13. Juni in Las Vegas geschah, sollte für Cristiano Ronaldo keine Rolle mehr spielen. Es sollte die Nacht im Leben des berühmten Fußballers sein, die es nie gegeben hat. Die es nicht geben darf. Es ist die Frage, ob es klug ist, dass Streitigkeiten und Anschuldigungen dieses Ausmaßes nicht vor Gericht geklärt werden. Kann es gut ausgehen, wenn die Justiz übergangen wird und sich Beteiligte durch eine Geldzahlung aus der Affäre ziehen? In Deutschland müssen mutmaßliche Verbrechen, wenn sie einmal bei der Polizei aktenkundig wurden, aufgeklärt werden. Zumindest haben die Behörden es zu versuchen. Je weiter man sich von diesem Grundsatz entfernt, desto stärker werden Vorbehalte, dass die Wohlhabenden sich nicht nur Topanwälte leisten, sondern auch Verfehlungen einfach wegverhandeln können. Der SPIEGEL hat versucht, mit Susan K., ihrer Familie, mit ihren Freunden und mit ihrer Anwältin zu sprechen. Kaum jemand wollte sich äußern, niemand will sich zitieren lassen. Es gibt gute Gründe dafür: die Angst vor Schlagzeilen. Dass alles wieder aufbricht. Und natürlich das Abkommen, das vor sieben Jahren getroffen wurde. Es wirkt wie eine Mauer. Susan K., deren Name geändert ist, wohnt in Las Vegas in einer Apartmentanlage mit gesicherter Ein- und Ausfahrt. Sie ist Mitte dreißig, arbeitet mit Kindern. K. stammt aus der gehobenen Mittelschicht. Das Haus der Eltern liegt in einer der besseren Gegenden von Las Vegas, gepflegter Vorgarten, große Garage, weiter Blick über die Stadt. Im Juni 2009 war K. verheiratet. Welche Rolle ihr Ehemann, von dem sie inzwischen geschieden ist, damals in ihrem Leben spielte, ist unklar. Er wird in den Dokumenten und den zahlreichen E-Mails, DER SPIEGEL 16 / 2017
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ROBERT GALLAGHER / DER SPIEGEL
Suite im Palms Place Hotel mit Blick über Las Vegas: Kingsize-Betten und Luxusbäder
die dem SPIEGEL vorliegen, an keiner Stelle erwähnt. Als der SPIEGEL Ende März K. zunächst telefonisch kontaktiert, mit ihr über den Brief und die Vereinbarung mit Ronaldo sprechen will, zittert ihre Stimme. „Kein Kommentar, kein Kommentar“, sagt sie und legt auf. Ein paar Tage später, bei einer Begegnung vor ihrem Wohnhaus, rennt K. fast panisch davon. In der Vereinbarung mit Ronaldo ist in Klausel Nummer vier festgelegt, was sie zu tun hat, wenn sie von Dritten auf die Vorgänge im Juni 2009 angesprochen wird. Sie habe darauf „nichts zu erwidern“. Sollte man sie auf der Straße ansprechen, habe sie „weiterzugehen“. Es ist eine unsichtbare Regie, die ihr Leben bestimmt. Das Palms Place Hotel liegt in Downtown Las Vegas, nur wenige Blocks vom Strip entfernt. Es hat 58 Stockwerke, ganz oben befinden sich vier Etagen mit edlen Penthäusern. Die Lobby dominieren Gold, Marmor und Loungemöbel im MetallicLook. Aus den Luxuswagen, die vorfahren, steigen Gäste mit teuren Sonnenbrillen und Designerschuhen. 2009 war der Hotel- und Kasinokomplex des Palms die In-Adresse schlechthin in Las Vegas. Michael Jackson hat hier gewohnt, die MTV Video Music Awards wurden hier verliehen, das hauseigene Ton74
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studio nutzten Stars wie Whitney Houston, Lady Gaga und Usher. Das Appartement 57306, jenes, in dem Ronaldo logierte, kostet heute rund 1000 Dollar die Nacht. Zur Ausstattung gehören eine Küche, ein großes Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer mit Kingsize-Betten und angrenzenden Luxusbädern. Der Clou ist ein Jacuzzi auf dem Balkon, von dem aus man über die Skyline der Stadt blicken kann. Ronaldo bewohnte die glamouröse Suite für mehrere Tage. Es war der Sommer, in dem er von Manchester United zu Real Madrid wechselte, für die damalige Rekordsumme von 94 Millionen Euro. Am Abend des 12. Juni, einem Freitag, geht Ronaldo in Las Vegas mit seinen Begleitern aus. Sie feiern in einem nahe gelegenen Nachtklub. In einem abgetrennten VIP-Bereich trifft Ronaldo Susan K. Den weiteren Verlauf der Partynacht schildert K. in dem Brief, den sie an Ronaldo geschrieben hat: Sie habe ihm ihre Nummer gegeben. Er habe sie später angerufen und zu einer Feier eingeladen. Danach gingen sie in sein Penthouse. Als K. mit einer Freundin dort ankam, sollen Ronaldo und seine Freunde in den Jacuzzi gestiegen sein. Er habe ihr Badesachen angeboten. Als sie sich umzog, sei er ihr gefolgt. Sie hätten sich geküsst. Ronaldo, so schreibt es K., sei das nicht genug gewesen. Sie habe aber zu den anderen zurückgewollt. Er habe sie gepackt und aufs Bett
gelegt. Sie habe versucht, sich mit beiden Händen zu schützen. „Ich habe immer wieder Nein, Nein, Nein, Nein geschrien und Dich angefleht, aufzuhören. Ich hatte noch nie so eine Angst in meinem Leben“, schreibt K. in dem Brief. Als es vorbei war, soll sich Ronaldo noch an sie gewandt haben. Er sei zu 99 Prozent kein schlechter Kerl, soll er gesagt haben, das eine Prozent könne er sich nicht erklären. So schreibt es K. in ihrem Brief. Ronaldos Anwalt weist den Vorwurf einer Vergewaltigung aufs Schärfste zurück. Es sei eine haltlose Unterstellung. Wer ist Cristiano Ronaldo? Es gibt keinen zweiten prominenten Fußballer, der ein so klares Selbstbild von sich zeichnet wie der Weltstar aus Portugal. Wenn er nach Toren breitbeinig, mit emporgerecktem Kinn und funkelnden Augen vor dem jubelnden Publikum posiert, die Arme in die Hüften gestemmt, alle Muskeln angespannt, dann ist das die Inszenierung eines Mannes, der sich als Übermensch fühlt. Perfekt, omnipotent, unerreicht. Gottähnlich. In ihrem Brief an Ronaldo schreibt Susan K.: „Ich wünschte, ich hätte der Welt erzählen können, wer Du wirklich bist.“ Die Welt kennt nur den Fußballer Ronaldo. Seine Tore, seine Dribblings, seine Selbstsucht. Man weiß, dass er bei Real Madrid fast 40 Millionen Euro im Jahr verdient. Dass er Kinder gern hat. Dass er
Sport
seine Mutter verehrt. Man hat ihn weinend erlebt, als er voriges Jahr im Finale bei der Europameisterschaft in Frankreich verletzt vom Platz musste. Man erlebte ihn erfüllt von Glückseligkeit, nachdem Portugal das Endspiel auch ohne ihn gewonnen hatte. Ronaldo ist mehr als nur ein guter Kicker. Er ist das Idol einer Jugendgeneration, die jede seiner Posen, jeden seiner Tricks und jeden seiner Haarschnitte kopiert. Er ist eine Werbeikone. In Ronaldos Heimat auf Madeira ist ein Flughafen nach ihm benannt, es gibt auch ein RonaldoMuseum auf der Insel. Davor steht eine überlebensgroße Statue des Idols. Sie zeigt ihn in Fußballerhose – und mit absurd betonter Männlichkeit. Ronaldo ist ein Sexsymbol. Bei der Weltfußballer-Gala im Januar in Zürich kreischten die weiblichen Fans auf, als er vorfuhr. Es gibt unzählige Fotoaufnahmen, die den Fußballer nur in Unterwäsche zeigen. Er liebt seinen Körper, den er im Fitnessstudio modelliert und für den er auch von vielen Männern bewundert wird. Welche Rolle Frauen in seinem Leben spielen, ist schwer zu sagen. Er hatte Beziehungen, Affären. Derzeit ist Ronaldo liiert. Er hat einen sechsjährigen Sohn, Cristiano junior. Die Mutter ist unbekannt. Der Kleine ist, so oft es geht, an seiner Seite. 2005 wurde Ronaldo schon einmal von einer Frau der Vergewaltigung beschuldigt. Der damals 20-jährige Stürmer von Manchester United wurde von der Polizei befragt. Er bestritt die Vorwürfe. Anklage wurde nie erhoben. Es kommt immer wieder vor, dass Prominente Opfer einer Erpressung werden. Letztlich wissen nur Susan K. und Ronaldo, was sich in den frühen Morgenstunden in seinem Penthouse in Las Vegas zugetragen hat.
Sie hat ihre Version in dem Brief nie- Settlement zwischen K. und Ronaldo wiedergeschrieben. Der SPIEGEL hat Ronaldo derfindet. Im CAD-Report ist in der Rubrik „Type“ um eine Stellungnahme gebeten. Er lässt seinen Münchner Anwalt Johannes Kreile der Anlass des Anrufs verzeichnet: 426. antworten. „Die Anschuldigungen, die Ihre Der Code für ein gemeldetes Sexualdelikt. Der Polizist, der mit K. spricht, notiert, Fragen nahelegen, sind aufs Schärfste als unzutreffend zurückzuweisen“, schreibt dass die Anruferin aufgelöst sei, weine und der Anwalt. Sein Mandant werde „gegen nicht den Namen des mutmaßlichen Täters jede unwahre Tatsachenbehauptung sowie angeben wolle. Es handle sich um eine „öfgegen jede Verletzung seiner Persönlich- fentliche Figur“, einen „Athleten“. Der Bekeitsrechte vorgehen“. Der Anwalt fordert amte vermerkt, dass sich K. nicht gewaden SPIEGEL auf, „eine Berichterstattung schen habe. Um kurz nach halb drei fährt eine Streizu dem Komplex zu unterlassen“. In den Dokumenten, die der SPIEGEL fe bei K. vor. Die Polizisten melden sich ausgewertet hat, findet sich auch ein Ver- mehrfach per Funk in der Zentrale. Dort merk, aus dem hervorgeht, wie sich der notiert ein Beamter, das mutmaßliche OpFußballer möglicherweise gegenüber sei- fer wolle ins Krankenhaus, um sich einem nem Anwalt Osório de Castro über die „rape-kit“ zu unterziehen. Damit ist eine spezielle Untersuchung von Opfern sexueller Gewalt gemeint, bei der Spuren gesichert und Verletzungen fotografiert werden. Um kurz vor 16 Uhr bringen die Polizisten K. ins University Medical Center. Die Fahrt dauert 26 Minuten. Um 17.15 Uhr wird im CAD-Report festgehalten, dass K. Nacht in Las Vegas geäußert haben soll. nun doch vage Angaben zum mutmaßDemnach habe Ronaldo Sex mit K. gehabt. lichen Tatort gemacht habe. Es handle sich Er sei anschließend zu Bett gegangen. Sie um ein Hotel „in der Nähe“ der Flamingo sei zurück zum Jacuzzi gegangen. Es habe Road. Das Palms Place Hotel liegt an der Flakeine Anzeichen dafür gegeben, dass es mingo Road. ihr nicht gut ginge. Die Behandlung im University Medical War es einvernehmlicher Sex? Spielte K. später ein falsches Spiel? Und zwar so Center kostete 2976,52 Dollar. Wofür gegut, dass Ronaldos Anwälte entschieden, nau, wird aus den Dokumenten, die der sie nicht vor Gericht zu bringen, sondern SPIEGEL eingesehen hat, nicht klar. In dem zu zahlen? Brief an Ronaldo schreibt K., er habe ihr Fest steht, dass sich K. noch am Tag des in der Nacht Verletzungen am Rektum zuangeblichen Übergriffs, um 14.16 Uhr, bei gefügt. der Polizei meldete. Es gibt ein Protokoll, Es ist nicht bekannt, ob K. nach der Undas den Anruf beim Las Vegas Metropo- tersuchung im Krankenhaus Anzeige erlitan Police Department festhält. Es liegt stattet hat. Aus den Dokumenten geht herdem SPIEGEL als Ausdruck vor. In dem vor, dass sie womöglich davon Abstand sogenannten CAD-Report hat der Fall ein nahm, aus Angst vor den Konsequenzen. Aktenzeichen, das sich später auch im Ein Prozess gegen einen Weltstar bedeutet
Noch am Tag des angeblichen Übergriffs, um 14.16 Uhr, meldet sich Susan K. bei der Polizei.
Ausriss aus der Vereinbarung zwischen Susan K. und Ronaldo: Für immer Schweigen DER SPIEGEL 16 / 2017
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GLOBALIMAGENS / IMAGO SPORT
Enthüllung der Ronaldo-Statue auf Madeira 2014: Absurd betonte Männlichkeit
Kamerateams vor der Tür. Es werden viele Es wird ein Katalog mit 274 Fragen an Behauptungen aufgestellt, der Ausgang ist Ronaldo erstellt. Er soll sie mündlich, ungewiss, die Schlagzeilen hallen ein Le- nicht schriftlich beantworten. Susan K. beben lang nach. kommt in dem Manuskript das Kürzel Vielleicht wollte K. sich und ihrer Fami- „Ms. C“. lie das nicht antun. Frage 60: „Wie waren die Umstände der Dennoch mochte K. die Sache offenbar ersten Begegnung mit Ms. C?“ nicht auf sich beruhen lassen. Sie nahm Frage 80: „Nahm Ms. C früher am sich eine Anwältin. Die Juristin Mary S., Abend Drogen?“ Name geändert, hatte damals eine kleine Frage 141: „Welcher Art war der erste Kanzlei in einem Bürokomplex im südli- körperliche Kontakt zwischen Ihnen und chen Teil von Las Vegas. Das Gebäude ist Ms. C, nachdem Sie den Jacuzzi-Bereich umgeben von Wohnhäusern und einem Al- verlassen hatten?“ tersheim. Der Vorgang, den ihr die ManFrage 152: „Kam es zu einer sexuellen dantin schilderte, wird sie in den nächsten Penetration?“ Monaten an ihre Grenzen bringen. Frage 158: „Gab es irgendeine Rohheit Mitte Juli meldet sich S. bei einem An- in Ihrem sexuellen Verhalten?“ walt von Ronaldo in England. Sie vertrete Frage 163: „Hat Ms. C gerufen oder geeinen Kläger in Las Vegas in einer Sache schrien?“ gegen den Fußballer. Der Jurist leitet die Frage 165: „Hat Ms. C Wörter wie ‚stopp‘ Mail weiter an den Ronaldo-Anwalt Carlos oder ‚nein‘ oder ‚nicht‘ oder Ähnliches Osório de Castro in Portugal. gesagt?“ „Um was könnte es hier gehen?“ Es folgt eine fett gedruckte Notiz der Osório antwortet: „No idea.“ Anwälte. „Ms. Cs Anwältin erzählte uns, Ende Juli ist klar, dass es sich um etwas dass ihre Klientin gesagt habe, Sie hätten Brisantes handelt. Inzwischen sind mehrere sich nach dem Sex vielmals bei ihr entAnwälte mit dem Fall befasst, darunter einer schuldigt.“ Frage 190: „Haben Sie sich bei ihr entaus Kalifornien, der schon viele Prominente vor Gericht vertreten hat. Die Anwälte Ro- schuldigt oder ihr gesagt, dass es Ihnen naldos tauschen sich aus, wie am besten vor- leidtue, nachdem Sie Geschlechtsverkehr zugehen sei. Einer schreibt in einer Mail, hatten?“ Frage 270: „In welcher körperlichen und man müsse die Suite im Palms Place Hotel in Augenschein nehmen, um sich ein Bild mentalen Verfassung verließ Ms. C das Hotelzimmer?“ vom vermeintlichen Tatort zu machen. 76
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Die Fragen der Anwälte an Ronaldo drehen sich sehr oft um eine blonde Frau, die K. in jener Nacht, auch ins Appartement 57306, begleitet hat. Sie ist eine wichtige Zeugin. Der SPIEGEL kontaktierte sie ebenfalls, doch wie Susan K. hat sie Angst zu reden. Im Herbst 2009 beginnen erste Verhandlungen über eine außergerichtliche Einigung. In den USA werden Fälle sexueller Gewalt oft durch sogenannte Settlements beigelegt, bei denen sich Opfer und Täter einigen, ohne dass es zu einem Prozess kommt. Nach Mord ist Vergewaltigung im USBundesstaat Nevada das schwerste Verbrechen. Wird man verurteilt, droht lebenslange Haft. Für eine Verurteilung muss die Schuld allerdings mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit feststehen – und das ist gerade bei Sexualdelikten schwierig. Oft steht Aussage gegen Aussage. Viele Opfer entscheiden sich dafür, statt eines Strafverfahrens ein Zivilverfahren anzustrengen. Dabei geht es nicht darum, den mutmaßlichen Täter zu verurteilen, sondern das Opfer finanziell so zu entschädigen. Die Beweislast ist in so einem Prozess deutlich geringer. Es muss nur zu mehr als 50 Prozent wahrscheinlich sein, dass der mutmaßliche Täter die Tat begangen hat. Ein Zivilverfahren hat aber auch Nachteile. Zwar kann das Opfer beantragen,
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dass der Fall unter Pseudonym verhandelt wird, dennoch ist er öffentlich, und natürlich gibt es dann keine Sicherheit, dass die Anonymität gewahrt bleibt. Gerade deshalb entscheiden sich viele Opfer dafür, den Fall außergerichtlich zu klären, zum Beispiel im Rahmen einer Mediation, bei der eine neutrale Person vermittelt. Am Ende steht eine Vergleichsvereinbarung, ein Settlement. Ein solches Prozedere kann vorteilhaft sein, für beide Seiten. So können die Identitäten mutmaßlicher Täter und Opfer geschützt werden. Das Ganze währt nicht so lang wie ein Prozess. Die belastenden Details der Vergewaltigung müssen nicht zwingend vorgetragen werden. Im Fall K. versus Ronaldo dauert es lange, bis es zu einem Mediationstermin kommt. Im Dezember 2009 wird Osório de Castro darüber informiert, dass Susan K. plane, sich mit einem Polizisten zu treffen – und dieser Ermittler wolle auch ihre Freundin, die Zeugin, sprechen. Osório de Castro drängt seine US-Kollegen: „Die Uhr tickt, wir müssen entscheiden, wie wir weiter vorgehen. Und wir müssen uns auf eine Schlacht vorbereiten, so oder so.“ Am 12. Januar 2010 kommt es zu einem Treffen der Parteien. Auch der Mediator ist anwesend. Ronaldo nicht. Susan K. soll darüber bestürzt gewesen sein. Nach „einem langen Verhandlungstag“, wie einer der Juristen später notiert, einigen sich die Parteien dann auf das Settlement. Die Summe, die Ronaldo an K. be-
Endlich einmal gute Nachrichten:
WARUM ES DER WELT IMMER BESSER
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Susan K. schreibt: „Ich mache mir nichts aus Deinem Geld. Ich wollte Gerechtigkeit.“ zahlen soll, wird in der Settlement Memorialization eingetragen: 375 000 Dollar. So viel verdiente Ronaldo damals bei Real Madrid in einer Woche. Bis in die Sommermonate hinein verfeinern die Anwälte die Einigung, sie feilschen um Absätze, Klauseln und Formulierungen. Es geht zum Beispiel darum, wie sich K. in ihrer Therapie zu verhalten habe. Die Ronaldo-Anwälte drängen darauf, dass sie nicht an Gruppensitzungen teilnehmen und ihrem Therapeuten nicht den Namen Ronaldos offenbaren dürfe. Nicht einmal schimpfen, so fordern es die US-Anwälte, dürfe K. über Ronaldo. Und sie solle auch nicht im Kreis ihrer Familie über ihn sprechen. „Dem Ärger Luft zu machen und zu lästern“, schreibt einer der Anwälte in einer Mail, würde eine schwer zu kontrollierende Stimmung erzeugen. Ronaldos Truppe ist darauf bedacht, jede Möglichkeit des Geheimnisverrats ausDER SPIEGEL 16 / 2017
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zuschließen. So geht es zum Beispiel auch um die Frage, wie K. die Einigungssumme versteuern könnte. Falls sie es nämlich nicht tun würde, fürchten die Juristen, könnte sich die US-Steuerbehörde für die Geldsumme auf ihrem Konto interessieren, und K. müsste erklären, wofür sie das Geld erhalten habe. Ronaldos Anwälte diskutieren, die 375 000 Dollar über eine Firma fließen zu lassen, die normalerweise die Werberechte für Ronaldo verkauft: Multisports & Image Management, registriert in der europäischen Steueroase Irland. Am 31. Juli gibt Osório de Castro schließlich grünes Licht zu der Einigung, die von den US-Anwälten ausgehandelt wurde. Der Fall Las Vegas war für Cristiano Ronaldo damit erledigt. Er startete mit Real in die nächste Fußballsaison. Der SPIEGEL hat Osório de Castro um Stellungnahme gebeten. Er antwortete, es sei Geschäftspolitik seiner Kanzlei, keine Angelegenheit seiner Klienten öffentlich zu kommentieren – und man solle keine Rückschlüsse daraus ziehen, dass man jeden Kommentar ablehne. Was kostet die Wahrheit? Welchen Preis hat eine Lüge? Der Brief, den Susan K. an Ronaldo verfasst hat, ist ebenfalls ein Bestandteil der außergerichtlichen Einigung. In Klausel 10 heißt es, das Schreiben müsse Ronaldo von seinem Anwalt Osório de Castro vorgelesen werden. Susan K. schreibt: „Ich mache mir nichts aus Deinem Geld. Ich wollte Gerechtigkeit. Aber da ist keine Gerechtigkeit in dieser Sache.“ Sie erwähnt „Medical Records“, ärztliche Unterlagen, in denen die Verletzungen aufgeführt seien, die ihr Ronaldo zugefügt haben soll. Die Geschichte der Susan K. ist die einer traumatisierten Frau. Sie schreibt: „Ich bin nicht mehr die Person, die ich mal war.“ Wäre es nicht besser gewesen, die Angelegenheit zwischen ihnen von einem Gericht klären zu lassen? Für den Rechtsstaat, weil solche Vereinbarungen Zweifel nähren? Für Ronaldo, weil der Verdacht einer Vergewaltigung für immer an ihm kleben bleiben könnte? Und für das Seelenleben der Susan K.? Ihr Brief an Ronaldo endet mit einem PS. Sie bedauere es, sich auf die Einigung eingelassen zu haben, schreibt sie in gefetteten Buchstaben: „Heute würde ich meine Entscheidung zurücknehmen!! Es ist ein Jahr vergangen, seit Du mich vergewaltigt hast.“ Die letzten beiden Sätze klingen wie ein hilfloser Appell: „Ich hoffe, dass Du aus diesem schrecklichen Fehler lernst!! Nimm nie wieder einer Frau ihr Leben, so wie Du meines genommen hast!!“ Rafael Buschmann, Christoph Henrichs, Gerhard Pfeil, Antje Windmann, Michael Wulzinger
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Affären Neue Vorwürfe gegen den Exdirektor des westfälischen Fußballverbands. Prüfer gehen Hinweisen auf Bereicherung und Vetternwirtschaft nach.
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ach zehn Minuten war alles vorbei. Mitarbeiterversammlung des Fußball- und Leichtathletik-Verbandes Westfalen (FLVW) am vergangenen Montag: Von 11.30 bis 11.40 Uhr leierte Vizepräsident Manfred Schnieders – sichtlich verkrampft – herunter, was der Verband schon tags zuvor auf der Website vermeldet hatte: dass FLVW-Präsident Gundolf Walaschewski sein Amt ruhen lasse und man von nun an „keine Verletzung der Würde unserer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dulden“ werde. Eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die im Verband über Jahre hinweg offenbar alles andere als selbstverständlich war. Am Freitag vergangener Woche hatte der SPIEGEL enthüllt, dass Carsten J., der ehemalige Direktor der Sportschule Kaiserau, Mitarbeiterinnen über Jahre sexuell belästigt, genötigt und gedemütigt haben soll – gestützt und geschützt durch eine Männerkameradschaft, die bis in die Spitze des Deutschen Fußball-Bundes reicht. Hermann Korfmacher, bis 2016 Präsident des FLVW, soll frühe Hilferufe von Opfern ignoriert haben, was er bestreitet. Sein Nachfolger Walaschewski reagierte erst, als eine der Frauen mit anwaltlicher Hilfe gegen den Verband vorging – und verabschiedete seinen Männerfreund mit einem goldenen Handschlag, anstatt ihn fristlos zu feuern. 120 000 Euro Abfindung soll der Verbandspräsident seinem Kumpel Carsten J., genannt CJN, per Auflösungsvertrag zugeschustert haben. Wofür, ist eine Frage, die im Westfalen-Verband unbeantwortet ist und bleibt. Schließlich hatte Walaschewski selbst bereits im Oktober 2016 im Präsidium von „schwerwiegenden Gründen“ gesprochen, wegen derer man sich von CJN trennen müsse. Wenig später informierte er am Rande eines Länderspiels in Hamburg DFB-Präsident Reinhard Grindel über die wahren Gründe des Ausscheidens von CJN. Warum also eine Abfindung? Dass der mutmaßliche Grapscher von Kaiserau kurz danach in einem wichtigen DFB-Projekt unterkam, der Sportschule Oberhaching, ist ein weiteres Rätsel in die-
BERND THISSEN / DER SPIEGEL
Eskapaden in Kaiserau
ser Affäre, deren Spur damit bis hoch ins soll, wie der Rest der Ladung, ans SportDFB-Präsidium reicht. hotel Kamen-Kaiserau gegangen sein. Jetzt kommt heraus: Die BelästigungsCJN ließ ausrichten, er „habe zu keinem vorwürfe waren nur der halbe Skandal. Zeitpunkt Weine aus Lieferungen des VerDer Mann, dem der DFB die Prüfung sei- bandes unentgeltlich zu privaten Zwecken ner Fördermittelvergabe an die Landesver- verwendet“. bände übertrug, soll den FLVW als SelbstWie CJN in seiner 13-jährigen Amtszeit bedienungsladen genutzt haben. zum König von Kaiserau wurde, zeigt auch Diesen Verdacht legt ein Bericht nahe, das Facility-Management der Immobilien den die Unternehmensberatung audalis des Verbandes. Dies liegt seit 2007 in den Ende November vorgelegt hat. Anschlie- Händen der DN Haus- und Grundstücksßend flöhten Verbandsfunktionäre die Ak- verwaltung. Und die gehört der Ehefrau ten und wurden offenbar fündig. Seit An- von CJN. Wer der Direktorengattin den fang April sind Wirtschaftsprüfer und Job, der zuvor von einem Mitarbeiter des Rechtsanwälte mit einer Unterschlagungs- Verbandes miterledigt worden war, zugeprüfung beauftragt, die sich „mit den Ak- schanzt hat, weiß heute im Verband antivitäten von Herrn J. auseinandersetzt“. geblich keiner mehr. „Die näheren UmDabei geht es auch um die Frage, ob „Er- stände des Vertragsabschlusses“ seien kenntnisse mit strafrechtlicher Relevanz“ „nicht bekannt“. CJN behauptet, er habe vorliegen, wie die FLVW-Führung dem an seine Frau keine Aufträge vergeben. Unstrittig ist, dass seine Gattin 2016 zur SPIEGEL bestätigte. Schon in der ersten „Strukturprüfung“ Geschäftsführerin der FLVW-Service hatten die Revisoren eine Reihe von Ver- GmbH avancierte – einer Tochterfirma des dachtsmomenten gegen CJN aufgelistet. Verbands, die Sponsorengelder einwerben Darunter: mögliche Zahlungen von privat und Events organisieren sollte. Was die geverursachten Rechnungen durch den Ver- lernte Bauzeichnerin für diesen Job qualifizierte, bleibt das Geheimnis des Exdirektors und seiner Verbandsvasallen. Für den FLVW war „die Beschäftigung von Frau N. lediglich eine Übergangslösung“. Laut Firmenprospekt machte die DN Haus- und Grundstücksverwaltung ihre Geschäfte nahezu ausschließlich mit dem FLVW. Nur zwei Projekte auf der Referenzliste des Unternehmens haben nichts mit dem Verband zu tun, sondern mit Behinderteneinrichtungen in Gütersloh. Deren langjähriger Geschäftsführer zählt zu den treuesten Förderern von CJN: Hermann Korfmacher. Von 2007 bis 2013 war er als Vizepräsident des DFB zuständig für Amateure. An der Spitze des FLVW stand er bis zum Sportschule Kaiserau in Kamen Sommer 2016 – und in Treue fest zu CJN. Als Selbstbedienungsladen genutzt? Noch im März machte er sich für seinen band, Auftragsvergaben an Firmen, die Schützling beim Bayerischen Fußball-Vervon Freunden oder Verwandten geführt band (BFV) stark. Dort hatte sich CJN auf wurden, und Umgehung von Genehmi- die Stelle des Geschäftsführers der Sportgungsverfahren durch Rechnungssplitting. schule Oberhaching beworben. Als BFVAllzu tief müssen die Prüfer allem An- Funktionäre bei Korfmacher und Walascheschein nach nicht graben. Die Eskapaden ski nach den „Gründen des Ausscheidens“ des Direktors waren in Kaiserau ein belieb- von CJN in Kaiserau fragten, sahen beide tes Thema – wie die Geschichte von der Irr- „keine Hindernisse, dass er für andere Arfahrt eines Lieferanten. Sie begann mit ei- beitgeber nicht unbelastet beginnen könne“. nem Anruf in der Küche des Sporthotels. Gemeinsam mit den Kollegen des BayeAm anderen Ende der Leitung: Der Fahrer rischen Landes-Sportverbandes votierten eines Lkw der Großhandelskette Metro frag- sie einstimmig für CJN als Chef in Oberte verwirrt, wie er denn an der Baustelle haching. Nach den SPIEGEL-Enthüllungen vorbeikommen solle, vor der er stehe. am vorigen Wochenende hat sich der Wind „Welche Baustelle?“, fragte der Mann in gedreht. Eine Beschäftigung von CJN „als der Küche. „Ich sehe hier weit und breit Geschäftsführer der Sportschule Oberhakeine.“ Antwort: „Na, die hier, im H…weg.“ ching“ komme „nicht in Betracht“. UnabFalsche Adresse? Mitnichten. Zwar liegt hängig davon, ob die Vorwürfe zuträfen die Sportschule einen Kilometer entfernt, oder nicht, „halten beide Verbände einen aber im H…weg steht das Privathaus von unbelasteten Start nicht für möglich“, wie CJN, wohin der Metro-Mann diverse Wein- ein BFV-Sprecher mitteilte. Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Jörg Schmitt kisten offenbar gekarrt hat. Die Rechnung DER SPIEGEL 16 / 2017
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alles ab. In akribischer Kleinstarbeit mussWHQVLHGHQ:HLQEHUJSpHJHQ'RFKZHU sich hier richtig ins Zeug legte, wurde am Schluss belohnt. Denn als Rettung erwies VLFKGHUZDUPHXQGVRQQLJH6S¹WVRPPHU der optimale Reifebedingungen brachte. Wer die verbliebenen Trauben lange am 6WRFNK¹QJHQOLHHUKLHOWVFKOLHOLFKEHVtes Lesegut, das noch dazu besonders extraktreich war – kurz gesagt: Es entstand 6SLW]HQTXDOLW¹W'HU-DKUJDQJEHJHLVWHUW mit saftiger, voller Fruchtaromatik, ausJHZRJHQHU6¹XUHXQGPRGHUDWHQ$ONRKROwerten. Die VICAMPO-Experten haben aus den ersten 150 Proben der trockenen 2016er Weiß- und Grauburgunder ihre Favoriten gekürt: Entdecken Sie drei Grauburgunder von ambitionierten Aufsteigern aus der Pfalz und Rheinhessen und drei edle Weißburgunder von Winzern des renommierten 9HUEDQGV'HXWVFKHU3U¹GLNDWVZHLQJãWHU (VDP) zum Premierenpreis und mit GeQXVV*DUDQWLH
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Neues Terrorziel
Syrien, China, Nordkorea – Donald Trump merkte plötzlich, dass das Leben als mächtigster Mann der Welt ziemlich anstrengend ist. Vor allem, wenn man sich um alles selbst kümmern muss. Denn 531 der 553 wichtigsten Regierungspositionen sind noch immer unbesetzt, für die meisten gibt es nicht mal einen Kandidaten. Da war es eine schöne Belohnung, dass am Montag wenigstens sein Kandidat für den Obersten Gerichtshof vereidigt wurde. Immer noch bester Laune griff Trump am Dienstag zum Telefon und gab mehrere Interviews. Die „New York Post“ beschrieb ihn als „freundlich, fokussiert und voller Energie“. Der Angriff mit den 59 Tomahawks sei ein „Akt der Humanität“ gewesen, sagte er. Mit Russland sei er nicht mehr so „auf einer Wellenlänge“, mit Chinas Staatschef Xi Jinping dafür umso mehr. „Die Chemie zwischen uns war nicht einfach nur gut, sondern großartig. Ich mochte ihn, und er mochte mich sehr.“ Nachdem er am Mittwoch den Nato-Generalsekretär getroffen hatte, fand er dann auch, die Nato sei „nicht länger obsolet“. Man könnte fast von einer Woche der Vernunft reden, hätte nicht Pressesprecher Sean Spicer gesagt, dass Assad schlimmer sei als Hitler, der ja keine Chemiewaffen eingesetzt habe. Das verursachte ziemlichen Wirbel. Der Skandal der Woche ging da unter: Nämlich dass Carter Page, Trumps Berater im Wahlkampf, vom FBI abgehört wurde, das ihn verdächtigte, ein russischer Agent zu sein. Wie gut für Trump, dass Wladimir Putin gerade nicht sein bester Freund ist. Das sähe irgendwie komisch aus. 82
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Iran
Konkurrenz für Präsident Rohani Bis vor Kurzem konnte Irans Präsident Hassan Rohani hoffen, am 19. Mai wiedergewählt zu werden. Schließlich hatte er nicht nur den Atomkonflikt mit dem Westen gelöst, sondern auch die Inflation eingedämmt. Der erhoffte Aufschwung blieb jedoch aus, ebenso wie die von Rohani versprochene gesellschaftliche Öffnung. Vor allem scheint Rohani aber das Vertrauen von Ajatollah Ali Khamenei verloren zu haben. Der Revolutionsführer setzt nun offenbar auf den hohen Geistlichen Ebrahim Raisi, der am Wochenende seine Kandidatur erklärte. Bereits als Khamenei ihn
2016 zum Verwalter des Heiligtums in der Pilgerstadt Maschhad ernannte, wurde über einen weiteren Aufstieg Raisis spekuliert. Sogar als möglicher Erbe Khameneis wird er gehandelt. Diese Kalkulation gefährdet nun aber ausgerechnet einer, der dem Revolutionsführer früher öffentlich die Hand küsste, bis er wegen seiner Eigenwilligkeit in Ungnade fiel: Expräsident Mahmoud Ahmadinedschad hat sich am Mittwoch ebenfalls als Kandidat für die Wahl registriert. Unklar ist, ob er nur provozieren oder tatsächlich das konservative Lager spalten will. Der Wächterrat könnte allerdings Ahmadinedschads Kandidatur noch verhindern. Damit würden sich Raisis Chancen als Rohanis Nachfolger erhöhen. dbe
6-mal Fußnote
POLARIS / LAIF
EDEL RODRIGUEZ FÜR DEN SPIEGEL
Trumps Woche
Das westafrikanische Land galt bisher eher als Stabilitätsanker in der unruhigen Sahelzone. Doch zuletzt häuften sich in Burkina Faso die Terroranschläge. Seit April 2015 kam es zu mehr als 20 islamistischen Angriffen mit rund 70 Toten, verantwortlich sind Ableger von al-Qaida im Maghreb. Die Terrororganisation hatte schon 2012 das benachbarte Mali ins Chaos gestürzt. Zeitweise
besetzten die Islamisten fast die Hälfte des Landes, nur eine französische Eingreiftruppe konnte sie aus den Städten Timbuktu, Kidal und Gao vertreiben. Doch aus dem Untergrund heraus stiften die Terroristen nun im Nachbarland Unfrieden. Iyad Ag Ghali, einer ihrer berüchtigten Anführer, ließ unlängst verlauten, seine Organisation konzentriere sich künftig auf Burkina Faso. Das Land soll destabilisiert werden – mit dem Ziel, daraus ein zweites Mali zu machen. jpu
Politiker Ahmadinedschad bei der Anmeldung als Kandidat
mehr Menschen sterben in Indien an den Folgen der Liebe als durch Terror. Zwischen 2001 und 2015 wurden 38 585 Menschen getötet, meist weil sie sich in einen Mann oder eine Frau einer anderen Kaste verliebt hatten. Hinzu kommen fast 80 000 Inder, die aus ähnlichen Gründen Suizid begangen haben. Im selben Zeitraum fielen 20 000 Zivilisten und Sicherheitskräfte Anschlägen zum Opfer.
Zum Geburtstag Hass
MARCO LONGARI / AFP
Mit blanker Waffe, wenn auch nur einer Attrappe, zieht dieser Demonstrant durch die Straßen von Pretoria, der Hauptstadt Südafrikas. Die Wut auf Präsident Jacob Zuma ist groß, sogar zu seinem 75. Geburtstag am Mittwoch forderten Zehntausende bei Protesten seinen Rücktritt. Zuma werden Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen; seine Partei, der von Nelson Mandela gegründete Afrikanische Nationalkongress, ist tief zerstritten.
Analyse
Strohfeuer des Widerstands Können die Demonstranten in Budapest Viktor Orbán gefährlich werden? Der Widerstand gegen Premier Viktor Orbán wird immer größer. Am Sonntag gingen bis zu 80 000 Demonstranten in der Hauptstadt auf die Straße, am Mittwoch kamen noch einmal Zehntausende. Sogar Mitglieder von Orbáns nationalkonservativer Partei Fidesz sind darunter. Sie protestierten gegen eine Gesetzesänderung, die mit hoher Wahrscheinlichkeit die Schließung der Central European University in Budapest zur Folge hat. Orbán hält die von dem US-Milliardär George Soros gegründete und finanzierte Hochschule für das Zentrum einer internationalen Verschwörung gegen seine Regierung. Schon 2014 hatten die Ungarn erfolgreich gegen Orbáns Versuch protestiert, eine Internetsteuer einzuführen. Auch schafften es Bürgerinitiativen unlängst, die eitlen Olympiapläne des Regierungschefs per Unterschriftensammlung auszubremsen. Dagegen hat seine rigide Ausländerpolitik noch keine Proteste dieser Größenordnung ausgelöst. Doch das neue Hochschul-
gesetz lässt nun viele junge Ungarn um ihre Freiheit fürchten. Ist Orbáns Macht also gefährdet? Wahrscheinlicher ist, dass die Proteste am Ende nur ein Strohfeuer sind. Es handelt sich um eine außerparlamentarische Bewegung ohne Strukturen. Mit der erprobten Wahlkampfmaschine von Fidesz können es die Demonstranten nicht aufnehmen. Auch die Opposition im Parlament wird nicht in der Lage sein, Orbán bei der Parlamentswahl im kommenden Jahr wirklich gefährlich zu werden. Die größte Oppositionspartei Jobbik ist rechtsradikal, die zweitgrößte Oppositionspartei, die Sozialisten, Nachfolger der Kommunisten, gelten als korrupt, elitär und kaum glaubwürdig. Die kleineren Parteien sind zerstritten. Bei den Protesten auf der Straße spielt keine von ihnen eine Rolle, auch schaffen sie es nicht, den Widerstand ins Parlament zu tragen. Viktor Orbán dürfte noch länger regieren. Jan Puhl DER SPIEGEL 16 / 2017
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rob ins Deutsche übersetzt, fühlt tum der Briten und vor der Wahl Donald cher das Land im Kleinen und im Großen spalten wollen. Nicht nur, dass notwendige sich Frankreichs politische Lage ge- Trumps in den USA. Während es wochenlang relativ stabile Reformen des Renten-, Sozial- und Steurade so an: Frauke Petry liegt mit der AfD eine Woche vor den Wahlen in Tendenzen für den Ausgang der ersten ersystems, anstehende Umbauten des ArUmfragen als stärkste Kraft bei ungefähr Runde am 23. April gab, bei der sich elf beitsmarkts teils seit Jahrzehnten liegen 25 Prozent, dicht gefolgt von, sagen wir, Kandidaten bewerben, sind die Zahlen mit geblieben sind und dass das BildungssysJens Spahn, der die CDU verlassen und dem Näherrücken des Wahltags ins Rut- tem noch immer die Ideale des 19. Jahreinen eigenen Wahlverein gegründet hat. schen geraten. Es gibt keine klare Progno- hunderts fortschreibt. Nicht nur, dass ein Elitensystem an sein Für die Linke erlebt Oskar Lafontaine ei- se mehr, auch nicht für den Ausgang der nen späten Höhenflug und schiebt sich in zweiten Runde am 7. Mai, bei der die zwei Ende kommt, das für heutige und künftige bestplatzierten Bewerber aus Runde eins Herausforderungen nicht mehr geeignet Umfragen glatt vor die CDU/CSU. scheint – es wirkt jetzt auch manchmal so, Die Union schickt, nachdem Angela Mer- zur Stichwahl antreten. Demoskopen rechnen vor, dass 40 Pro- als sei eine andere, grundlegende Sorge kel auf eine Kandidatur verzichtet hat, nach einem spektakulären Mitgliederentscheid zent der Stimmberechtigten noch immer noch vordringlicher: nämlich die, ob der nicht Wolfgang Schäuble, sondern völlig unentschieden sind, weshalb für den Mo- Politikbetrieb in Frankreich überhaupt überraschend Christian Wulff ins Rennen, ment alle möglichen Konstellationen wahr- noch in der Lage ist, die ihm übertragenen der allerdings bald in einen Strudel aus Af- scheinlich und selbst Albträume nicht aus- Aufgaben zu erledigen. Das ist eine bange Frage, wie sie sich in fären gerät, mit Frau und Kindern tagelang zuschließen sind: Wird es zu einem Duell von der Justiz verhört und angeklagt wird, zwischen dem Linksradikalen Jean-Luc hoch entwickelten Demokratien bis vor aber trotzdem Kandidat bleibt. Und die Mélenchon und der Rechtsextremen Marine Kurzem kaum je gestellt hat. Aber sie geht jetzt um, ausgerechnet in den SPD? Holt, wenn sie Glück hat, großen, alten Demokratien, in vielleicht neun Prozent. Großbritannien, in den USA, Was nach einer wilden Paround nun ist Frankreich an der die klingt, ist in Frankreich im Reihe. Dort wird in Leitartikeln April 2017 aufregende Gegenund Talkshows darüber diskuwart: Die handelnden Figuren tiert, ob sich die Institutionen heißen natürlich nicht Petry des Landes durch die fortgeund Spahn, sondern Marine Le setzte Unfähigkeit der AmtsPen und Emmanuel Macron. Frankreich Eine Woche vor Beginn träger in eine vorrevolutionäre Sie heißen nicht Lafontaine, der Präsidentschaftswahlen wird Lage manövriert haben. Ob sondern Jean-Luc Mélenchon, das, was heute noch Staat heißt, nicht Merkel, sondern François das Land von einer Systemkrise schon an die Welt der Könige Hollande, nicht Schäuble, sonbeherrscht. Es ist nicht erinnert, an das morsche Andern Alain Juppé, nicht Wulff, cien Régime kurz vor der Fransondern François Fillon. mehr auszuschließen, dass zösischen Revolution. Die Vergleiche mögen alle Das mag überzogen sein, ein wenig hinken, aber das Geein linksradikaler Europafeind oder aber klar ist, dass das französidankenspiel veranschaulicht eine Rechtspopulistin in sche Wahlvolk seiner politidie Dramatik der Lage, es unschen Klasse nichts mehr zuterstreicht, dass in Frankreich den Élysée einzieht. traut. Dass an die Stelle einer dieser Tage der Totalschaden Von Ullrich Fichtner und vorsichtigen Kompetenzvermuder etablierten Politik verhantung der Verdacht allgemeiner delt wird. Julia Amalia Heyer Inkompetenz getreten ist. Die sogenannten VolksparteiEs herrscht auch ein beunruen, die auch jenseits des Rheins higend grundsätzlicher Zweifel das jahrzehntelang gültige Linksrechts-Schema nach ihrem Geschmack möb- Le Pen kommen? Machen beide die Präsi- an der moralischen Integrität gewählter lieren durften, stehen ausgelaugt im 21. Jahr- dentschaft unter sich aus? Zwei Politiker, oder vom Staat bestellter Repräsentanten. hundert herum. Populisten von rechts au- die die europäische Einigung für eine Plage Es wirkt nun manchmal so, als läge die ßen wie von links außen erhalten Zulauf, halten? Die beide in Deutschland eine Ge- Politikverdrossenheit bereits hinter vielen weil sie der Gesellschaft die Illusionen kol- fahr sehen? Deren Programme wie weih- Franzosen, als wären sie angekommen in einer neuen Welt des Politikekels. Das Belektiven Aussteigertums anbieten: raus aus nachtliche Wunschlisten wirken? Und: Wie ist es überhaupt möglich, dass kenntnis zum Nichtwählertum und die beEuropa, raus aus der Nato, raus aus der Globalisierung, raus aus „dem System“, gern sich solche Fragen ernsthaft stellen? Wie wusste Enthaltung sind tägliches Thema. Dies alles gehört nicht zuletzt zur bittesind aus Extremisten Favoriten geworden, auch: raus mit den Ausländern. Zählte man die Umfragewerte der Kan- aus Außenseitern Kandidaten? Wo sind ren Bilanz von fünf Jahren François Holdidaten zusammen, die derlei in unter- die Kräfte des Ausgleichs, der politischen lande und von fünf Jahren Nicolas Sarkozy schiedlicher Kombination und Ausprägung Mitte? Wer Antworten sucht, tut gut daran, zuvor: Beide haben im Amt des Präsidenfordern, käme unter dem Strich wohl be- vom rasenden Karussell dieses Wahl- ten das Spiel mit den falschen Versprechungen und enttäuschten Hoffnungen so reits eine gesellschaftliche Mehrheit dabei kampfs abzusteigen. Das vorherrschende Gefühl in Frank- weit getrieben, und beide haben im Privaheraus, eine Große Koalition des vollenreich ist seit Längerem das einer tief grei- ten wie im Öffentlichen moralisch derart deten Überdrusses. So wird aus den Präsidentschaftswahlen fenden Krise. Nicht nur, dass sich die Ter- versagt, dass Frankreichs politisches Sysin Frankreich schon wieder ein neues End- rorgefahr wie ein feiner Nebel im Alltag tem als in seinen Grundfesten erschüttert spiel um die politische Zukunft Europas. Frankreichs so breitgemacht hat wie kaum zu gelten hat. Es gibt bei dieser Wahl nicht zufällig Die Umfragewerte flackern dieser Tage irgendwo sonst in Europa, nicht nur, dass auf ähnliche Weise wie vor dem Brexit-Vo- muslimische und rechtsextreme Scharfma- gleich mehrere Kandidaten, die die Ab-
Außer Atem
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Front-National-Kandidatin Le Pen: Es ist etwas faul im Staate Frankreich
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schaffung der Republik in ihrer jetzigen Form und eine neue Verfassung für Frankreich fordern. Der Ruf wurde wieder laut, als vergangene Woche alle elf Kandidaten in einer quälend langen und zerfahrenen Fernsehdebatte noch einmal vernommen wurden. Und wie stets war es der alte Trotzkist Jean-Luc Mélenchon, der die Forderung nach einer neuen Republik am eloquentesten vortrug und sagte, was er als guter Volkstribun immer sagt: dass er nur Präsident werden wolle, um das Amt des Präsidenten, diese ganze „Präsidialmonarchie“ Frankreichs abzuschaffen. Die Fernsehdebatte war auch ansonsten ein Jahrmarkt kruder, abseitiger und extremer Ideen. Vor allem die chancenlosen Kleinkandidaten suchten sich in ihrer Europa- und/oder Kapitalismusskepsis gegenseitig zu übertreffen. Es hagelte hanebüchene Behauptungen, es kursierten exotische Theorien, falsche Rechnungen, und wenn alle an diesem Abend gegebenen Wahlversprechen in Erfüllung gingen, dann arbeiteten die Franzosen bald gar nicht mehr, hätten aber viel Urlaub, viel Rente und überhaupt viel Geld vom Staat. Nun ist es aber so: Frankreich ist Europas zweitgrößte Volkswirtschaft, ein G-7-Staat, eine außenpolitische Weltmacht mit atomarer Bewaffnung, ein ständiges Mitglied im Uno-Sicherheitsrat, und wenn so ein Land nicht mehr oder nur noch mit Ach und Krach in der Lage ist, für die Wahl eines neuen Präsidenten ein seriöses Kandidatenfeld hervorzubringen, dann ist etwas faul im Staate. Und die Folgen könnten verheerend sein. Wenn sich bewahrheitet, was bislang alle Umfragen vorhergesagt haben, dann darf die Rechtspopulistin Marine Le Pen für die Stichwahl als gesetzt gelten. Käme mit ihr, was seit ein paar Tagen denkbar geworden ist, auch noch Jean-Luc Mélenchon in die zweite Runde, dann wäre es mit einem Donnerschlag ganz schnell vorbei mit der Europäischen Union. Le Pen will ohne Wenn und Aber raus aus der EU und auch aus dem Euro; Mélenchon möchte eine völlig neue Union, und für den Fall, dass Brüssel und die Partner seine unerfüllbaren Forderungen nicht erfüllen, verspricht er ebenfalls den „Frexit“. Mit seiner ganz auf ihn zugeschnittenen Bewegung „La France insoumise“ („Aufsässiges Frankreich“) wirbt Mélenchon für ein schuldenfinanziertes 100-Milliarden-Konjunkturprogramm, die Wiederverstaatlichung von Flughäfen und Autobahnen und dergleichen. Er verspricht absurd hohe Mindestlöhne, unglaublich hohe Rentenansprüche und ebensolche Steuern, genauer gesagt Enteignungen: Ab einer Obergrenze von 400 000 Euro im Jahr würde jeder zusätzlich verdiente Euro mit 90 Prozent besteuert, wenn es nach ihm ginge. 86
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Mélenchon ist ein roter Populist, ein geübtes Großmaul, politisch nicht minder gefährlich als Le Pen. Er eifert Vorbildern wie dem einstigen venezolanischen Revolutionsführer Hugo Chávez nach und bewundert Russland noch immer, auch für seine sowjetische Vergangenheit. Er kann Journalisten rüde beschimpfen und politische Gegner übel beleidigen, sein jetziger Erfolg erklärt sich damit, dass er seit einiger Zeit Kreide frisst, um seine Aggressivität zu verstecken. Man könnte über ihn den Kopf schütteln, wenn es nicht in Frankreich eine große Wählergruppe quer zu allen sozialen Schichtungen gäbe, die sich mit linksradikaler Rhetorik und kommunistischer Folklore immer wieder abholen lässt. Mélenchon hat ein „Momentum“, seine Sprünge in den Umfragen erinnern an Trumps späte Aufholjagd vor dem Wahltag in den USA. Der Linksradikale liegt in Sondierungen schon bei 18, 19 Prozent, jedenfalls vor dem Konservativen François Fillon, und es wirkt so, als glaubten immer mehr Wähler an die Möglichkeit seines Sieges und schlössen sich ihm an. Die erstaunliche Stärke von einem wie Mélenchon nährt sich aus der erbärmlichen Schwäche der alten Volksparteien. Sie haben in Frankreich den Kontakt zu Volk und Ge-
Diese Wahlkampagne ist ein Jahrmarkt kruder, abseitiger und extremer Ideen. sellschaft verloren und auch den Willen zur Gestaltung. Das ist die Lage, seit Langem schon. Man hat letztlich die freie Auswahl, den Beginn eines Niedergangs zu datieren. In einem Abriss über die politische Dekadenz in Frankreich dürfte weder François Mitterrand fehlen, der dank der präsidialen Machtfülle eine komplette Zweitfamilie vor der Welt versteckte, noch Valéry Giscard d’Estaing, der sich und seiner vielköpfigen Familie eigens exklusive Schlafkabinen in Air-France-Flugzeuge einbauen ließ. Die Anekdoten über derart höfisches und hochfahrendes Gebaren sind reich, und sie sind keineswegs nur historisch. Der aktuelle Tumult um François Fillons Lebensstil, zu dem ganz selbstverständlich gehört, dass sich Spitzenpolitiker wie er Maßanzüge und Schweizer Uhren für Zehntausende Euro schenken lassen, kommt letztlich aus der gleichen Wurzel wie die Verfehlungen der Altvorderen. Frankreich hat erst spät, im Grunde erst seit wenigen Jahren, eine rigorose Ethik von seiner politischen Klasse eingefordert, wie sie in Deutschland schon seit Langem selbstverständlich ist. Die Vorstellung, dass
Angela Merkel ihren eigenen Mann zum Schein als ihren Parlamentsassistenten beschäftigen könnte, um sich die dafür vorgesehene Vergütung in die eigene Tasche zu stecken, kommt einem völlig abwegig vor, und doch besteht ein solcher Verdacht gegen den ehemaligen Premierminister Fillon. Der langjährige Abgeordnete René Dosière, der sich einen Ruf als „Meister Proper“ erwarb, weil er den Kampf gegen die Korruption im Parlament anführte, erzählte jüngst in einem Interview von seiner Ankunft in der Nationalversammlung im Jahr 1988. Damals, sagte Dosière, sei der gesamte Bereich der Parteien- und Wahlkampffinanzierung völlig ungeregelt gewesen. Dass sich Abgeordnete bereicherten, indem sie zum Schein Leute bei sich beschäftigten, habe zu den selbstverständlichen Praktiken gehört. Die Ministerien hatten geheime Kassen, aus denen sie finanzierten, was dem Minister in den Sinn kam, und das gesamte Budget des ÉlyséePalasts sei noch zu Zeiten Jacques Chiracs „ein einziges schwarzes Loch“ gewesen. Damit, sagte Dosière allerdings auch, sei mittlerweile Schluss. Die heutige Politik sei auch in Frankreich einer rigiden Kontrolle unterworfen, und niemand habe mehr das Recht, von einem einzigen Sumpf zu reden – nur ist das eben noch nicht ausreichend durchgedrungen. Wenn heute ein neuer Skandal auftaucht – und es gibt immer wieder neue –, trifft die Wut weiterhin den gesamten Politikbetrieb, nicht den Einzelfall, und die Populisten jedweder Couleur haben leichtes Spiel, den Vorfall für sich auszuschlachten. Man muss aber kein Populist sein, um sich über das Gebaren des konservativen Kandidaten Fillon zu empören, der offenkundig keinerlei Gespür für heutige gesellschaftliche Empfindlichkeiten besitzt. Die Frage nach geschenkten Anzügen beantwortete er in einer Radiosendung mit der hochmütigen Gegenfrage: „Na und?“ Die Silhouette seines privaten Märchenschlosses an der Sarthe kennt mittlerweile jedes Kind in Frankreich. Dass er sich als Opfer staatlicher Verfolgung inszeniert und die Institutionen des Landes, auch die Justiz, deren oberster Hüter er als Präsident wäre, nach Kräften in den Dreck zu ziehen sucht, ist ungeheuerlich. Dass Fillon in Umfragen dennoch eine gewisse Außenseiterchance wahrt, liegt an einem Profil, das er im Kandidatenreigen letztlich allein bedient. Konservative, katholische, bürgerliche Wählermilieus, die in Frankreich noch immer größer sind, als man vermuten mag, haben bei Licht betrachtet keine gute Alternative zu Fillon. Der Kandidat der „Republikaner“, bekennender Christ, mag ein übler Pharisäer sein, aber seine Kernaussagen, sein beinhart neoliberales Wirtschaftsprogramm ziehen viele
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Unabhängiger Kandidat Macron: Es fehlt der eine, griffige Slogan
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Le Pen macht die Wahl zum nationalen Wähler an. Hunderttausende Stellen im öf- wählst von denen, es regiert am Ende imfentlichen Dienst zu streichen, die Wirt- mer dasselbe System. So wurde bei ihr aus Schicksalstag und warnt vor Untergang schaft zu „befreien“, den Staat zum Nacht- der UMP Sarkozys und dem PS Hollandes und Chaos für den Fall, dass sie nicht den wächter zu machen, den Sozialstaat zu stut- kurzerhand die „UMPS“, und dieses Spiel Sieg davonträgt. „Es geht um die Existenz zen – auch das holt Leute ab in einem Land, funktioniert heute fast noch besser. Seit Frankreichs“, ruft sie von Podien im gansich die Konservativen „Les Républicains“, zen Land. Oder sie steht, wie einmal im das politisch immer weiter zerfasert. Fillon, Mélenchon – wenn beide von also LR nennen, verhöhnt Le Pen die Februar, in der gleißenden Sonne am Frankreich reden, hat man nicht den Ein- „LRPS“, was nicht nur im Französischen Wahrzeichen des Mont-Saint-Michel und beschwört die französische „Zivilisation“, druck, es gehe in ihren Erzählungen um endgültig nach Herpes klingt. Unter Marine Le Pen hat sich die Mit- das immaterielle Erbe Frankreichs, die dasselbe Land. Und es gibt noch weitere gliederzahl des Front National vervier- „exception culturelle“. gute Geschichten. Jetzt, in der Endphase Marine Le Pen erzählt der Kampagne, greift sie die ihre, sie möchte in ihren Reden wieder Frankreichs erste Präsiöfter zurück auf das alte dentin werden, und sie ist Instrumentarium des dem Élysée-Palast wirkFront National. Vor welich sehr nahegekomnigen Tagen erst wärmte men. Ein weiter Weg sie die giftige Debatte daliegt hinter ihr, der eigene rüber auf, ob Frankreich Vater Jean-Marie musste unter deutscher Besatpolitisch ins Gras beißen, zung an der Verschlepweil er den Machtpung und Ermordung anspruch der Tochter von Juden beteiligt war, störte – und sie untereine von Historikern schätzte. Aber anders als längst geklärte und auch der Alte, der in seiner favom französischen Staat schistoiden Nische nie längst bejahte Tatsache. wirklich daran geglaubt Wie einst der Vater hanhatte, die Macht im Staat tiert sie wieder mit der erobern zu können, arAngst, mit apokalyptibeitet Marine Le Pen seit schen Visionen, ÜberLangem daran, den Front fremdungsfantasien. National zur großen poAnsonsten hat Le Pen litischen Kraft umzubauein programmatisches en, wie sie es in ihrer Wunderhorn gefüllt, das 2006 erschienenen Automanche ihrer Gegner an biografie bereits skizziert kommunistische Flughatte. blätter aus den AchtziHinter Le Pen liegt gerjahren erinnert, ereine beeindruckende Erweitert um fremdenfolgsgeschichte. Sie hat feindlichen Firlefanz wie den ranzigen Faschoklub eine Zusatzsteuer bei des Vaters zur modern Anstellung von Auslänagierenden Partei umgedern. Die Zahl der Einstaltet. Und sie hat gewanderer will sie auf schafft, was vor ihr nie10 000 pro Jahr begrenmandem gelungen ist, zen, den Familiennachauch nicht den vielen zug erschweren, die Zentristen, die immer Grenzen dichter machen wieder Anlauf nahmen: und so weiter. Le Pen hat das starre Vor allem aber will sie Zweilagersystem FrankEuropa ans Leder. Die reichs aufgebrochen und Konservativer Kandidat Fillon: Höfisches, hochfahrendes Gebaren „Unabhängigkeit Frankfaktisch in ein Dreiparteiensystem verwandelt, mit dem Front facht; die Partei stellt heute Bürgermeister reichs“ ist in ihrem Programm noch immer National als letztlich stabilster, stärkster in elf Städten, und seit 2014 sitzen im Eu- das erste und damit prominenteste von 144 ropaparlament, man stelle sich vor, mehr Wahlversprechen. Sie will den Frexit. Aber politischer Kraft. Le Pen ist somit die Treiberin und die FN-Abgeordnete als französische Sozialis- diese Festlegungen, auch die propagierte größte Nutznießerin der politischen Sys- ten. Wesentlich für diese Erfolge ist der Rückkehr zum Franc, sind mittlerweile die temkrise, und sie hat vom chronischen Abschied von der Partei und die Hinwen- größten Hindernisse auf ihrem Weg zu eiVersagen der etablierten Parteien zweifel- dung zur Führungsfigur Le Pen. Bei Licht nem möglichen Sieg. Die Feindschaft gegen Europa ist auch los am meisten profitiert. Sie hat auch die betrachtet, ist der Front National nur noch griffigen populistischen Formeln dafür ge- ein Organisationsschema, aber ansonsten in Frankreich einer freudlosen, aber stafunden: Schon vor Jahren hat sie die Akro- von der Bildfläche verschwunden. Der jet- bilen Zustimmung gewichen. Es lassen sich nyme der beiden Altparteien zu einem zige Wahlkampf ist voll auf die Kandidatin heute klare Mehrheiten für einen Verbleib einzigen Buchstabengebilde zusammen- ausgerichtet, nicht einmal mehr das Par- des Landes in der EU finden, erst im März sprachen sich 72 Prozent der Franzosen in gezogen, um zu zeigen: Egal, wen du teilogo ist auf den Plakaten zu sehen. 88
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den er stolz sei, betont er immer wieder. Wenn seine Gegner versuchen, ihm mit Hinweisen auf seine Vergangenheit zu schaden, vor allem auf seine Zeit als Hollande-Berater, weist Macron das zurück. Er sagt über seine Zeit als Minister: „Ich habe die Leere des politischen Betriebs gesehen“, und eben deshalb kann er glaubhaft erläutern, wie die Leere zu füllen sei. Macron klingt nicht selten wie ein Mann des „Dritten Wegs“, den einst der Brite Tony Blair einschlug, und den auf seine Weise auch Gerhard Schröder verfolgte. Nicht mehr links, nicht mehr rechts, sondern gut und richtig soll künftig alles sein. Im Gespräch mit dem SPIEGEL sagte er vor Kurzem, er habe früh gewusst, „dass das politische System, wie wir es kennen, am Ende ist“. Seiner Bewegung, ausgerufen erst vor einem Jahr in Macrons Heimatstadt Amiens, haben sich mittlerweile eine Viertelmillion Franzosen angeschlossen. Die Initiative wurde monatelang von der alten politischen Klasse als eine Art Bürgerbewegung für Übermotivierte und Naive belächelt. Mit Fragebögen von Tür zu Tür zu ziehen und aus den Antworten anschließend ein Programm zu basteln, das passte nicht zum Selbstbild der herrschenden Politikerkaste. Nun ist ihr das Lächeln vergangen. Bei seinen Wahlkampfauftritten versammelt Macron die Massen in den größten Hallen des Landes. Er wäre der jüngste Präsident in der Geschichte Frankreichs, und der erste parteiunabhängige. Er ist der Einzige, dessen Programm pragmatisch zu nennen wäre, er bemüht sich um Realismus, um Evolution, nicht um Revolution. Macron wirbt für Europa, damit steht er fast allein, er lädt ein zum Traum von einem „New Deal für Europa“. Angela Merkels Flüchtlingspolitik verteidigte er gegen die öffentliche Meinung in Frankreich mit den Worten, die Kanzlerin habe die Würde der Europäer gerettet. Der Präsident Macron will alle großen Baustellen angehen, den Reformstau beJEROME SESSINI / MAGNUM PHOTOS / AGENTUR FOCUS
einer Umfrage des Instituts Elabe gegen mit 39 ist er der große Favorit der bevorstehenden Wahlen. Eine sagenhafte Kardie Abkehr vom Euro aus. Als Le Pen vor Kurzem in einer Wahl- riere. Zieht Macron mit Le Pen ins Finale ein, sendung gefragt wurde, was sie tun würde, wenn sich die Franzosen – bei einem von was Demoskopen bislang für das wahrihr angekündigten Referendum – für einen scheinlichste Szenario gehalten haben, gliVerbleib in der EU aussprächen, schaute che der Zweikampf einem Duell der Welsie, sonst um keine Antwort verlegen, ei- ten. Es träten zwei Politiker gegeneinander nen langen Augenblick ratlos drein. Dann an, die beide eine Systemkrise konstatieantwortete sie: „Ich würde wieder abtre- ren und jeweils etwas völlig anderes damit ten.“ Als sie daraufhin von den Modera- meinen. Aber Le Pen, Macron, Mélenchon toren gefragt wurde, was für einen Sinn dann ein Referendum habe, wenn sie den Ausgang von vornherein festlegen wolle, wurde sie wütend und wechselte rasch zu ihrem Lieblingsthema: die bösen Attacken der Medien auf sie und ihre Partei. Aber die Rolle des Opfers steht ihr nicht. Le Pen hat, im Gegenteil, tatkräftig die französische Politik aufgemischt und darf sich über Feindschaften nicht beschweren. Um aber zu gewinnen, auch eine mögliche Stichwahl, muss sie auf einen Brexitoder Trump-Effekt hoffen, auf die ganz große Überraschung am Schluss. Und weil dieser Tage in der französischen Politik selbst das nicht mehr ausgeschlossen scheint, herrscht wirklich Unruhe über die Wahlaussichten von Marine Le Pen. Die Hoffnung der gemäßigten, auf Ausgleich und Vernunft setzenden Wähler in Frankreich ruht auf Emmanuel Macron, dem 39-jährigen Shootingstar, dessen Talent unstrittig ist, dessen Fähigkeiten aber noch nicht zweifelsfrei bestäLinksextremist Mélenchon: 90 Prozent Steuern tigt sind: EM. Diese Initialen stehen auch für: „En – alle sind sie Profiteure des Niedergangs Marche!“, Macrons Bewegung, was so viel der etablierten Politik. Macron stammt selbst aus dem angebwie „Vorwärts!“ oder „Auf geht’s!“ oder eben: „In Bewegung!“ heißt. Neue Unter- lich überlebten System, er hat den in stützer folgen Emmanuel Macron in Scha- Frankreich klassischen Königsweg beschritren, von der Rechten, von der Linken, Mi- ten, war auf den besten Schulen, ein Arztnister sind darunter, auch Kollegen, die sohn aus dem nordfranzösischen Amiens, ihn nie ausstehen konnten, weil er ihnen ein Énarque natürlich, wie die Absolvenviel zu ehrgeizig war. Mit 34 wurde Ma- ten der Straßburger Elitehochschule Ena cron ökonomischer Berater von Präsident gerufen werden. Bevor Hollande ihn als Hollande, mit 36 Wirtschaftsminister, mit Berater in den Élysée-Palast holte, hatte 38 verließ er die Regierung, um die eigene er als Bankier bei Rothschild gearbeitet. Präsidentschaftskandidatur vorzubereiten, Er habe dort „einen Beruf gelernt“, auf
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enden, die Sozialsysteme, den Arbeits- Jahr lang bei der Arbeit zu begleiten. Stänmarkt modernisieren, er will moderat spa- dig redete er mit Journalisten, schrieb sich ren, und wer ihm zu wenig Ehrgeiz vor- mit ihnen Mails und SMS, er wirkte stets wirft, bekommt zur Antwort, dass es ge- wie eine falsche, müde Besetzung. Frankreichs Präsident hat bemerkensnug leere Versprechungen in den verganwerte Möglichkeiten der Gestaltung, eine genen Jahrzehnten gegeben habe. Ist er der Heilsbringer, als der er sich gewaltige Machtfülle, aber Hollande machinszeniert? Oder nur ein schlauer Ziehsohn te nichts daraus, oder viel zu wenig. Die des gescheiterten Präsidenten Hollande? Arbeitslosigkeit, deren Bekämpfung er anSeine Bewerbung um das höchste Amt fangs zu seiner Hauptaufgabe erklärte, ist geht in diesen Tagen offenkundig durch ebenso hoch wie bei seinem Amtsantritt, eine heikle Phase. Neue prominente Un- er hat sich viel Ärger mit Reformgesetzen terstützer mögen sich ihm anschließen, eingehandelt, die den erwünschten Erfolg aber seine Umfragewerte stecken bei etwa anschließend gar nicht brachten. Die Wirt25 Prozent fest, oder sie sinken sogar. Ihm schaft, die Hollande mit einem „Werkzeugfehlt der eine, griffige Slogan. Ihm fehlt, vielleicht doch, ein wenig Substanz. Kopf-an-Kopf-Rennen Solch kleine Sorgen würJean-Luc Mélenchons Aufholjagd zur ersten Runde den sich die Sozialisten wünder Präsidentschaftswahlen schen. Die Partei ist ein sinDurchschnittswerte von Umfragen, Auswertung der Huffington Post kender Tanker, und am Ruder steht mit Benoît Hamon 26,3 Marine Le Pen ein Spitzenkandidat, der vieFront National 24,9 24,2 le gute linke Taten verspricht, aber mit keiner Rede mehr öffentlich durchdringt. Das ist nicht allein seine Schuld, seiEmmanuel Macron ne Schwäche spiegelt letztlich En Marche! 20,9 nur den Zustand der Sozialis19,8 tischen Partei, die zu klaren François Fillon 19,3 Politikentwürfen nicht in der Republikaner Lage und von der allgemeinen Systemkrise besonders Benoît Hamon 16,5 stark angefressen ist, einer Sozialisten Krise, die beide großen poli14,2 tischen Familien im Griff hat und den schwachen Regierungsbilanzen beider geschulJean-Luc det ist. Mélenchon 12,0 Die zweite Amtszeit von La France 11,6 Jacques Chirac, die übrigens insoumise mit einem überwältigenden Sieg gegen Jean-Marie Le Pen in der zweiten Runde der 1. Februar 1. März Wahlen von 2002 begann, ist zum Inbegriff einer bleiernen Zeit geworden, einer Phase politischer Stille. Was danach kam, ab kasten“ in Schwung bringen wollte, düm2007, war die nicht minder leere Hyper- pelte weiter, und wenn sie hier und da floaktivität des Präsidenten Sarkozy, der ge- rierte, dann trotz und nicht wegen Hollanmeinsam mit Fillon nicht das Land refor- des Politik. Gesellschaftlich hat er wider Willen eine mierte, aber den Ton der politischen Dekatholisch-konservative Bewegung wachbatte in Frankreich vergiftete. Ihn löste endlich der „Président normal“ geküsst und der Sache homosexueller Paaab, François Hollande, der ebenfalls die re womöglich mehr geschadet als gedient. Statur nicht hatte, das Präsidentenamt zum Sein schlimmster Fehltritt, der die GlaubWohle des Landes zu gestalten oder als würdigkeit der Sozialisten schwer beschäMensch auszufüllen, und der ganz neben- digt hat, war die kernige Forderung nach dem Entzug der Staatsbürgerschaft für verbei die Sozialistische Partei ruiniert hat. Kein französischer Politiker ist in den urteilte Terroristen, eine Maßnahme, wie vergangenen Jahren bösartiger abgefertigt sie vielleicht Diktaturen gut zu Gesicht worden als Hollande, und er selbst wirkte steht, aber nicht dem Land, das als die Genach Kräften an der eigenen Demontage burtsstätte der Menschenrechte gilt. Hollande machte, wenn es darum ging, mit. Er ließ sich ein auf für ihn peinliche Dokumentarfilme, er stimmte zu, wenn Terroropfer zu beklagen, eine ordentliche Comiczeichner anklopften, um ihn ein Figur, immerhin. Aber das änderte nichts 90
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daran, dass er als erster Präsident in die französische Geschichte eingeht, dessen Umfrageergebnisse so miserabel waren, dass er sich gar nicht erst um eine zweite Amtszeit bewarb. Auch der entschlossene Außenpolitiker, der Hollande durchaus war, mit militärischen Einsätzen weltweit, darunter Luftangriffe in Syrien, konnte ihn nicht aus dem Umfragetief erlösen. Vor seiner Wahl hatte er als Kandidat versprochen: „Moi, président, ich als Präsident werde Sorge tragen, dass mein Verhalten in jedem Moment mustergültig ist.“ Das war, nach der an Affären und Liebesdramen nicht armen Amtszeit seines Vorgängers und Gegners Sarkozy, eine wichtige Botschaft, und vor allem eine, die man ihm, dem Mauerblümchen aus der Provinz von Tulle, durchaus abnehmen wollte. Dann aber erschienen Fotos, die sich in Frankreich eingebrannt haben: Schnappschüsse des Präsidenten mit Motorradhelm auf dem Kopf 23,6 bei amourösen nächtlichen 23,0 Ausfahrten zu seiner heimlichen Geliebten, ein politischer Hanswurst. Diese Bilder haben viel, sehr viel ka19,3 putt gemacht. 18,7 Hollande, der angetreten war, um als Präsident „zu einen und zu besänftigen“, schürte die Wut und die Spaltung im Land wie zuvor nur Nicolas Sarkozy. Er verschärfte die ohnehin längst gewucherte Politikverdrossenheit im Land, er verscherzte es sich mit Polizisten, mit Lehrern, mit der Stammwählerschaft der So8,4 zialisten, er brachte Ärzte ge12. April gen sich auf, Bauern, Katholiken. Und wo Sarkozy mit Gefuchtel nervte, erzürnte Hollande mit seinem Phlegma, seiner Entscheidungsschwäche, die er sich als Nettigkeit auslegte. Mit den meisten der Kandidaten, die in diesem Jahr meinen, für die Präsidentschaft antreten zu müssen, ist kein Staat zu machen, geschweige denn eine Atommacht oder Europas zweitgrößte Volkswirtschaft. Wenn es stimmt, dass ein Volk immer nur die politischen Anführer hat, die es verdient, dann steht es nicht gut um Frankreich. Dann gibt es Grund zur Sorge nicht nur im Land selbst, sondern auch bei den Nachbarn ringsum. Video: Wie ein Le-Pen-Jünger zum Islam fand spiegel.de/sp162017frankreich oder in der App DER SPIEGEL
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Zurück zum Mainstream Analyse Was hat Donald Trumps Wende in der Außenpolitik zu bedeuten?
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US / REX / SHUTTERSTOCK
Donald Trump war in seinem wilden Wahlkampf gegen ie Volten, die Präsident Donald Trump in seiner das außenpolitische Establishment Washingtons angetreAußenpolitik vollführt, können schwindlig machen. ten. Amerika sollte nicht mehr Weltpolizist sein und sich Allein am Mittwoch geschah Folgendes: Die Nato, mit Russland verbünden. Dafür feierte man ihn auch in die Trump im Wahlkampf für „obsolet“ erklärt hatte, ist Europa an den linken und rechten Rändern. Wie lässt sich nun offiziell „nicht mehr obsolet“. China will der Präsinun die abrupte Wende erklären? Es gibt wohl mehrere dent nicht mehr als „Währungsmanipulator“ brandmarken, Gründe: Erstens hat Trump sich von radikalen Mitarbeiobwohl er genau das versprochen hatte. Und der Besuch tern wie Mike Flynn getrennt. Das Sagen haben jetzt ofvon US-Außenminister Rex Tillerson in Moskau zeigte, fenbar alte Profis wie der neue Nationale Sicherheitsbedass das Verhältnis zu Russland auf einem Tiefpunkt ist. rater Herbert Raymond McMaster. Auch Trumps SchwieDabei hatte Trump „eine großartige Beziehung“ zu Wlagersohn Jared Kushner (siehe Seite 98), der sich angeblich dimir Putin versprochen. von Henry Kissinger beraten lässt, wirkt auf ihn ein. Der US-Präsident hat in den vergangenen zehn Tagen Zweitens spielt wohl auch Trumps Narzissmus eine Rolzentrale außenpolitische Positionen widerrufen, quasi im le: seine tiefe Sehnsucht nach Anerkennung. Der RichVorübergehen. Es begann mit dem schnellen Vergeltungstungswechsel in der Syrienpolitik brachte ihm den Zuschlag nach dem Chemiewaffenangriff des Assad-Regimes spruch jener Experten, Staatsmänner und TV-Komauf Zivilisten – eine Instinkthandlung des Präsidenten, mit mentatoren, den er so sehr der sich auch seine bisherige will. Drittens scheint Trump Syrienpolitik auflöste. Danach manchmal hinzuzulernen. In konnte die Welt live beobacheinem Fernsehinterview erten, wie Trump und seine Rezählte er in rührender Offengierung in chaotischer Weise heit, wie ihm der chinesische und tastend zu einer neuen Präsident Xi Jinping zehn MiHaltung fanden. nuten lang die Beziehung zwiAber was bedeutete der schen Peking und Pjöngjang Luftangriff wirklich? Hat Auerklärt habe. Erst da sei ihm ßenminister Tillerson recht, klar geworden, dass China das der sagte, die Bekämpfung Problem der nordkoreanides „Islamischen Staats“ habe schen Atomwaffen nicht so weiterhin Priorität? Sprach einfach lösen könne, wie er Uno-Botschafterin Nikki Hageglaubt habe. Auch mit Anley für den Präsidenten, als sie gela Merkel sucht Trump das sagte, es könne mit Assad nieGespräch. Er hat seit ihrem mals Frieden geben? Werden Washington-Besuch bereits die USA Fassbombenangriffe US-Kriegsschiffe im Pazifik zweimal mit ihr zu Russland, bald ähnlich bestrafen wie den Syrien und Nordkorea telefoniert. Nordkorea ist sein Einsatz von Chemiewaffen, wie Regierungssprecher Sean nächster großer Test. Je nachdem wie er auf die ProvokaSpicer behauptete? Außenminister Tillerson schien gar tionen der Nuklearmacht reagiert, kann er eine globale massiven Interventionismus anzukündigen: „Wir widmen Krise auslösen. Doch bisher scheint Trump das Problem uns wieder der Aufgabe, jeden und alle zur Rechenschaft mit China zusammen angehen zu wollen. zu ziehen, die irgendwo auf der Welt Verbrechen gegen Wie nachhaltig Trumps Wende zum Mainstream ist, ist Unschuldige begehen.“ Wirklich? ohnehin zweifelhaft. Er hatte nie feste GlaubensgrundAm Ende der Woche lässt sich sagen: Die jüngste Halsätze, seine Ansichten ändert er nach Stimmungslage. Seitung der USA gleicht der alten unter Barack Obama. Der ne Außenpolitik wird unberechenbar bleiben, ein Militärschlag gegen das Regime war vor allem symboliSchwenk in jede Richtung ist vorstellbar. Am Donnerstag scher Art. Die USA verurteilen Assad mit harten Worten, ließ er über IS-Tunneln in Afghanistan erstmals die größte wollen ihn aber nicht gewaltsam absetzen. Sie wünschen nicht nukleare Bombe im US-Arsenal abwerfen – man sich die Hilfe Russlands, um eine Verhandlungslösung zu kann sich vorstellen, dass Trump sie allein deswegen einerreichen. Daran hat Moskau aber immer noch kein Intesetzte, weil „die größte Bombe“ so gut klingt. resse. Es steht mit Assad im Schützengraben, verbreitet Seine Ahnungslosigkeit ist noch immer alarmierend. In Verschwörungstheorien über den Chemiewaffenangriff einem Fernsehinterview erinnerte er sich diese Woche und ist international isoliert – wie nach dem Abschuss sehr genau an das wunderbare Schokoladendessert, das des Passagierflugzeugs MH17 über der Ukraine. Auch die aufgetischt wurde, als er dem chinesischen Präsidenten Beziehungen der USA zu Moskau sind wieder wie unter Xi erzählte, dass er gerade Marschflugkörper abfeuern Obama: angespannt, von gegenseitigem Misstrauen geließ. Nur in welches Land er sie geschickt hatte, fiel ihm prägt und im Falle Russlands auch von Enttäuschung. Ausim Interview nicht mehr ein. Er sagte „Irak“ statt Syrien. gerechnet Trump, den man einst gefeiert hatte, schickte jene Marschflugkörper los, die Obama nie abfeuern ließ. Mathieu von Rohr DER SPIEGEL 16 / 2017
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„Der Kreml blockiert jede Alternative zu Putin“ SPIEGEL-Gespräch Russlands Oppositionsführer Alexej Nawalny über die Proteste gegen Korruption, die Politisierung einer neuen Generation und Putins Außenpolitik Ende März rief Russlands bekanntester Oppositioneller Nawalny, 40, zu landesweiten Protesten gegen Korruption auf. Zehntausende gingen auf die Straße. Danach wurde er für 15 Tage inhaftiert, es war für ihn nicht das erste Mal. Seit Montag ist er wieder frei, einen Tag später empfängt er den SPIEGEL zum Gespräch im Büro seiner „Stiftung zur Bekämpfung der Korruption“ in einem Moskauer Businesscenter. Nawalny ist gut gelaunt und gibt sich kämpferisch. Kurz darauf wird er wieder durch die Provinz reisen, um für seine Kandidatur bei der Präsidentschaftswahl 2018 zu werben. Für den 12. Juni hat er erneut zu landesweiten Kundgebungen aufgerufen. SPIEGEL: Herr Nawalny, Sie sind gerade aus der Haft entlassen worden. Wie haben Sie die Zeit dort erlebt? Nawalny: Man muss sich das Gefängnis vorstellen wie ein schmutziges Wohnheim, wo man nichts anderes tut als schlafen und lesen. Wir waren zu viert in der Zelle. Die anderen waren gewöhnliche Leute – einer hatte sich mit dem Nachbarn geprügelt, ein anderer einen Polizisten beleidigt. Keine politischen Häftlinge wie ich, die werden sorgfältig voneinander getrennt, selbst beim Hofgang. SPIEGEL: Haben Sie mit den anderen Häftlingen trotzdem über Politik diskutiert? Nawalny: Tagelang. Alle hatten von mir gehört, alle wollten reden. Schon die Polizisten, mit denen ich nach meiner Festnahme im Bus saß, hatten meinen Film über Premier Dmitrij Medwedew gesehen. Sie fragten, was alle immer fragen: Warum man mich nicht umgebracht habe, und warum ich nicht längst in Haft säße. SPIEGEL: Sehr viele junge Leute haben sich Ende März den Kundgebungen angeschlossen, zu denen Sie aufgerufen hatten. Viele hat das überrascht – man hielt diese Generation für unpolitisch. Nawalny: Mich hat das überhaupt nicht überrascht! Erstens habe ich schon vorab auf Vkontakte gesehen … SPIEGEL: … einer Art russisches Facebook … Nawalny: … wie jung die Leute sind, die zu den Demos kommen wollten. Und zweitens war mir klar, dass der politische Druck auf Schüler und Studenten das Gegenteil bewirkt. In Brjansk wurden Schüler gewarnt, an den Demos teilzunehmen, es
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gab eine Diskussion mit einer Schuldirektorin darüber, die mitgeschnitten und millionenfach angeschaut wurde. Russland hat seit den Neunzigerjahren eine Studentenbewegung gefehlt, so wie es sie in Ost- und Westeuropa gab. Bei uns gab es eine solche Bewegung zuletzt zur Zarenzeit. SPIEGEL: Aus welchen Gründen sind diese jungen Menschen auf die Straße gegangen? Nawalny: Die Armut! Das ist jedenfalls ein wichtiger Faktor. Seit fünf Jahren schon sinkt der Lebensstandard. SPIEGEL: Davon merkt man in Moskau wenig. Nawalny: In Tomsk habe ich die jungen Leute gefragt, wer weniger als 20 000 Rubel verdient, das sind 330 Euro. Wir alle, haben sie geantwortet. Und das in einer Universitätsstadt, die früher vom Öl lebte! Es heißt oft, ich würde die Besserverdiener vertreten. Sicher, wer gut ausgebildet und wohlhabend ist, der unterstützt eher mich als Wladimir Putin. Aber das heißt nicht automatisch, dass die anderen gegen mich sind. SPIEGEL: Was unterscheidet die Demonstranten von heute von jenen, die 2011 gegen die Fälschung der Parlamentswahlen auf die Straße gingen? Nawalny: Der Hauptunterschied ist die Geografie: Jetzt wird an Orten demonstriert, wo das zuvor nie der Fall war, in Dagestan, in Tatarstan und Baschkirien. Ansonsten gibt es nicht viele Unterschiede. Die sozialen Medien, die uns als Einziges geblieben sind, um miteinander zu kommunizieren und unsere Kritik zu artikulieren, haben ein jüngeres Publikum, das ist alles. SPIEGEL: Ihr Film über die angeblichen Reichtümer von Medwedew wurde auf YouTube 18 Millionen Mal angeschaut. Medwedew hat den Film „Blödsinn“ genannt und mit einem „Kompott“ aus allerlei Vorwürfen verglichen. Nawalny: Was für ein kläglicher Auftritt. Einen Monat hat er gewartet, und alles, was ihm einfiel, war das Wort „Kompott“! SPIEGEL: Werden die Vorwürfe für Medwedew Konsequenzen haben? Nawalny: Seine politischen Perspektiven sind nun beschädigt. Angeblich soll er erst mal eine Woche lang gesoffen haben, und so sah er auch aus. SPIEGEL: Medwedew hat Sie nicht verklagt – aber dafür will das jetzt der Milliardär
Kreml-Kritiker Nawalny
Alischer Usmanow tun, dem Sie vorwerfen, er habe Dmitrij Medwedew eine Residenz im Wert von fünf Milliarden Rubel geschenkt. Nawalny: Das tut Usmanow sicherlich nicht aus freien Stücken. Offenbar hat man ihn gebeten, mich zu verklagen. SPIEGEL: Offiziell tut der Kreml so, als bekämpfe er die Korruption. Gerade wurde der fünfte Gouverneur in Folge verhaftet. Nawalny: Die Gouverneure werden verhaftet, um mir etwas entgegnen zu können. Außerdem muss Putin die eigene Elite terrorisieren. Er fürchtet seine Umgebung mehr als irgendwelche Proteste; es gibt da Leute, die sind mindestens so kritisch wie ich, weil sie aus der Nähe sehen, dass das System nicht funktioniert. Die will er zum Schweigen bringen.
DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL
SPIEGEL: Wird Präsident Putin bei der Wahl 2018 erneut kandidieren? Nawalny: Natürlich! Putin will der Zar sein in diesem neuen Russischen Reich, das er wieder errichtet. Ich glaube, er ist wirklich besessen von dieser Idee. SPIEGEL: Wird man Sie zur Wahl zulassen? Nawalny: Wir wollen sie zwingen, mich zu registrieren, so wie 2013 bei der Moskauer Bürgermeisterwahl. Damals haben wir mit einem Boykott gedroht. Und dann war der Kreml der Meinung, besser lässt man Nawalny teilnehmen – der bekommt ja höchstens acht oder neun Prozent. SPIEGEL: Stattdessen haben Sie beachtliche 27 Prozent erreicht, und fast wäre es zu einer Stichwahl gekommen. Nawalny: Soviel ich weiß, haben im Kreml deshalb mittlerweile jene die Oberhand, die
gegen meine Kandidatur sind. Die sagen: Weiß der Teufel, wie das Wahlergebnis wird, wir haben uns ja schon einmal getäuscht. Außerdem haben sie Angst vor dem, was ich alles sagen könnte, wenn man mich antreten lässt. Seit 17 Jahren verlaufen Wahlen in Russland nach demselben Muster: Niemand kritisiert Putin, niemand führt eine echte Wahlkampagne, alles geht still in zwei Monaten über die Bühne. Der Kreml blockiert jede Alternative zu Putin. Er will keinen Kandidaten, der durchs Land reist und Russlands Probleme laut anspricht. SPIEGEL: Warum hat denn die Opposition bei diesem Spiel so lange mitgemacht? Nawalny: Waren Sie mal im neuen JelzinZentrum in Jekaterinburg? Da hängt in der Ausstellung ein Stimmzettel der Präsidentenwahl von 1996 – und da stehen genau
dieselben Namen drauf wie heute. KP-Führer Sjuganow, der Liberale Jawlinski, der Rechtspopulist Schirinowski. Nur Boris Jelzin wurde durch Putin ersetzt. Kein Oppositioneller hat je die Verantwortung für seine Wahlniederlagen übernommen. SPIEGEL: In Ihrem Wahlprogramm fordern Sie eine Sonderabgabe für Oligarchen, die Verdoppelung der Gesundheitsausgaben, einen Mindestlohn von 25 000 Rubeln. Das klingt so, als wären Sie nach links gerückt. Nawalny: Sagen wir: Es klingt nicht so, wie man es von unseren liberalen Oppositionellen gewohnt ist. Da erwartet man leider einen manischen Libertären, der Oligarchen toll findet, sich nicht für die Probleme der Rentner interessiert und meint, die unsichtbare Hand des Marktes werde alles regeln. SPIEGEL: Sehr konkret ist Ihr Programm nicht. Wie wollen Sie all das finanzieren? Nawalny: Russland hat gigantische, sinnlose Ausgaben für Armee und Polizei. Wir belegen einen der ersten Plätze in der Welt, was die Zahl der Polizisten angeht – aber bei der Zahl der Morde gehören wir auch zu den Ersten. Außerdem sind fast 30 Prozent des Haushalts geheim! Niemand weiß, was mit diesen Geldern passiert. Bei staatlichen Ausschreibungen werden jedes Jahr 1500 Milliarden Rubel geklaut. Der Kampf gegen die Korruption würde also gewaltige Summen freisetzen. SPIEGEL: Noch vor sechs Jahren waren Sie in nationalistischen Kreisen aktiv. Sogar viele Ihrer Anhänger finden es unappetitlich, mit wem Sie sich damals verbündet haben. War das Taktik oder Überzeugung? Nawalny: Ich habe zwischen 2005 und 2011 viel getan, um den liberalen und den nationalistischen Flügel der Protestbewegung zusammenzubringen. Das stimmt. Und ja, ich bin weiterhin gegen die visafreie Einreise aus Zentralasien nach Russland. SPIEGEL: Warum sind die Proteste von 2011/2012 eigentlich gescheitert? Was hat die Opposition damals falsch gemacht? Nawalny: Es gibt kein Rezept, mit dem man das Regime in ein paar Monaten stürzen könnte. Das ist ein historischer Prozess, den wir nicht steuern können. Meine beste Kundgebung im Jahr 2010 hatte 1500 Teilnehmer. Heute gilt eine Kundgebung von weniger als 30 000 Menschen als Fehlschlag. Da hat sich etwas entwickelt, trotz aller Rückschläge. Aber der wichtigste Grund für das Scheitern war die gewaltsame Zerschlagung der Proteste. Wenn wir das Regime von 2012 vergleichen mit dem von 2017, dann kommt es einem so vor, als würde man über zwei unterschiedliche Länder reden. Wir leben jetzt in einem Land mit tausend politischen Häftlingen. Einem Land, in dem es jede Woche neue Prozesse gibt, in dem Leute in Haft kommen, weil sie irgendwas im Internet gelikt haben. SPIEGEL: Einige der Menschen, die mit Ihnen zusammen an der Großkundgebung DER SPIEGEL 16 / 2017
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im Mai 2012 auf dem Bolotnaja-Platz teilnahmen, sitzen noch immer im Lager. Trotzdem haben Sie im März zu einer nicht genehmigten Demonstration aufgerufen. Können Sie das verantworten? Nawalny: Mir ist bewusst, dass ich Verantwortung trage – für meinen Bruder, der im Gefängnis ist, und für die Inhaftierten von Mai 2012. Das ist kein schöner Gedanke. Aber über meinen Bruder haben immerhin die Zeitungen auf ihren Titelseiten berichtet. Wenn heute irgendein Blogger in der Provinz in Haft kommt, dann besuchen ihn keine Journalisten, Anwälte oder Menschenrechtler, weil es inzwischen zu viele solcher Fälle gibt. Wenn wir das verhindern wollen, müssen wir weiter für politische Veränderungen kämpfen. SPIEGEL: Viele fragen sich, warum Sie selbst in einem so repressiven System noch frei herumlaufen und sogar teure Wahlkampagnen führen können. Wer finanziert Sie? Nawalny: Wir legen alles offen. Meine „Stiftung zur Bekämpfung der Korruption“ ist nach russischen Maßstäben gut ausgestattet, mit umgerechnet 750 000 Euro Jahresetat. Aber die Einzelspenden liegen im Schnitt bei nur bei 11,50 Euro. SPIEGEL: Persönlich verdienen Sie gut, wie man an Ihrer Einkommenserklärung sieht. Der russische Staat musste Ihnen 2016 rund 50 000 Euro Entschädigung zahlen, dazu hatte ihn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt. Wo kamen die restlichen 90 000 Euro her? Nawalny: Das sind Einnahmen aus meiner juristischen Praxis. Man hat mir zwar mei
„Die Leute sagen: Nawalny, immer nur Nawalny, wir wollen jemand Neues sehen.“ ob ich ihn schwäche oder stärke! Vielleicht wollte Putin vor einem Monat Medwedew entlassen, aber wie soll er das nach meinem Film noch tun? In einem undurchsichtigen System kann alles irgendwie benutzt werden. Das kann ich nicht ändern. SPIEGEL: Während Sie im Gefängnis saßen, sind Russland und die USA wegen Syrien auf Konfrontationskurs gegangen. Was halten Sie von Putins Syrienpolitik? Nawalny: Russland sollte sich der Internationalen Koalition gegen den „Islamischen Staat“ anschließen. Es ist absurd, dass wir in einem Krieg zwischen Sunniten und Schiiten aufseiten der Schiiten eingreifen,
DENIS SINYAKOV / DER SPIEGEL
* Christian Esch und Christian Neef im Moskauer Büro von Nawalnys Stiftung.
ne Anwaltszulassung entzogen, aber ein paar Mandaten sind mir geblieben. SPIEGEL: Wer lässt sich denn von einem prominenten Kreml-Feind beraten? Nawalny: Als Jurist bringe ich meinen Mandanten eher Nachteile. Aber die, die mich weiter engagieren, tun das auch, weil sie mich unterstützen. SPIEGEL: Befürchten Sie nicht, dass Sie benutzt werden könnten? Nawalny: Mich benutzt keiner. Aber natürlich wird das benutzt, was ich tue. Wenn ich Igor Setschin angreife … SPIEGEL: … den Chef des staatlichen Ölkonzerns Rosneft und Gegner Medwedews … Nawalny: … dann hilft das jemand anderem. Und wenn ich Medwedew angreife, gibt es gleich einen Haufen Leute, die das toll finden. Wobei ich leider nicht mal weiß,
Nawalny, SPIEGEL-Redakteure*: „Wir legen alles offen“
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obwohl fast alle russischen Muslime Sunniten sind. Um Baschar al-Assad zu helfen, handelt Putin uns große Probleme ein. SPIEGEL: Dabei sah es zunächst so aus, als hätte Putin in Donald Trump einen Unterstützer seiner Syrienpolitik gefunden. Nawalny: Ich habe nach Trumps Wahlsieg in einem Video erklärt, warum es mit Trump keine Freundschaft geben wird. Die Widersprüche der Systeme sind zu groß. Und Putin braucht einen Feind. Er will der Führer der antiamerikanischen, antieuropäischen Welt sein. Da kann er nicht mit ihren Staats- und Regierungschefs befreundet sein, er muss stattdessen Skandale und Widerstand erzeugen. SPIEGEL: Mit Angela Merkel bleibt ihm mindestens eine Gegnerin. Ohne sie gäbe es die EU-Sanktionen gegen Russland nicht. Wie sollte sich Russland dazu verhalten? Nawalny: Wir sollten die Minsker Vereinbarungen erfüllen. Der Hauptgrund für die Sanktionen ist, dass Russland ein Tabu verletzt hat: Es hat einen Krieg in Europa losgetreten. Die Krim ist ein Problem, aber der schmerzlichste Teil der Sanktionen ist mit dem Krieg im Donbass verbunden. Sobald Russland reale Schritte unternimmt, damit dort nicht mehr geschossen wird, wird dieser Teil der Sanktionen entfallen. SPIEGEL: Bei Ihren Auftritten sagen Sie: Meine Außenpolitik besteht darin, dass endlich bessere Straßen gebaut und höhere Löhne gezahlt werden. Das klingt so, als wollten Sie dem Thema ausweichen. Nawalny: Ich weiche nicht aus. Aber ich finde, und darin unterscheide ich mich von Putin, dass Russland sich nicht isolieren sollte. Alles, was in unserem Land geschieht, wird mit Syrien oder der Ukraine begründet. Aber wenn die eigenen Bürger nur 300 Dollar verdienen, dann wird das nichts mit der außenpolitischen Macht. Fangen wir doch mal an, unser eigenes Land zu kolonisieren. Wenn ich meinen Bruder im Gefängnis besuche, fahre ich durch den am dichtesten besiedelten Teil des europäischen Russlands – und sehe Kilometer um Kilometer keinen Menschen. Das wäre doch mal eine tolle Möglichkeit, seine Kräfte einzusetzen. SPIEGEL: Sie sind das bei Weitem bekannteste Gesicht der Opposition, Ihre jungen Mitstreiter schauen zu Ihnen auf. Steigt Ihnen diese Rolle manchmal zu Kopf? Nawalny: Ich ermuntere alle meine Mitarbeiter, selbst zu kandidieren. Aber es ist in diesem System extrem schwierig geworden, ein prominenter Oppositionspolitiker zu werden. Ich habe gar keine Rivalen mehr, mit denen ich debattieren könnte. Dabei brauche ich Konkurrenz. Und die Leute werden auch bald genug von mir haben. Die sagen: Nawalny, immer nur Nawalny, wir wollen jemand Neues sehen. SPIEGEL: Herr Nawalny, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
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„Wir wären verhungert“ Venezuela In dem einst reichen Land ist die Nahrung knapp. Wer kann, flieht über die Grenze nach Brasilien. Präsident Maduro errichtet eine Diktatur.
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fernt. Ihre Plastiksandalen sind durchgelaufen, die Habseligkeiten haben sie in Rucksäcken verstaut. Jetzt betteln sie um Essen und Geld für die Fahrt in die 200 Kilometer entfernte Provinzhauptstadt Boa Vista. „In Venezuela wären wir verhungert“, sagt José Márquez. Dabei war keiner von ihnen arbeitslos. Er und sein Cousin waren Lastwagenfahrer, seine Schwägerin hat als Putzfrau gearbeitet. Aber das Geld reichte nicht zum Überleben; der monatliche Mindestlohn beträgt umgerechnet etwa 13 Euro.
GUTIERREZ / EPA / REX / SHUTTERSTOCK
osé Márquez hat seine Jeans mit einer Kordel zusammengebunden, damit sie nicht rutscht. Über 30 Kilogramm habe er in drei Monaten abgenommen, sagt der Lastwagenfahrer aus Maracay, einer Großstadt südwestlich von Caracas. Der 53-Jährige war einst ein stattlicher Mann, jetzt ist sein Gesicht eingefallen, sein Körper ausgemergelt. Zusammen mit seinen Angehörigen hockt Márquez am Straßenrand in dem brasilianischen Grenzort Pacaraima, über 1400 Kilometer von seiner Heimatstadt ent-
AGENCIA EFE / IMAGO
Straßenkämpfer in Caracas*: Weg für demokratischen Machtwechsel blockiert
Flüchtlinge aus Venezuela in Pacaraima: Brasilien ist auf den Ansturm nicht vorbereitet
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„Ein Kilo Reis kostet auf dem Schwarzmarkt zwei Euro“, sagt Márquez. „Mein Monatslohn war nach fünf oder sechs Tagen aufgebraucht.“ Fleisch und Fisch hat er seit Monaten nicht gegessen, zuletzt wurde auch Brot knapp. Ausgerechnet der Ölstaat Venezuela, einst eines der reichsten Länder Lateinamerikas, kann seine Bürger nicht mehr ernähren. Die Versorgungskrise hat eine humanitäre Katastrophe ausgelöst, in den vergangenen Monaten sind Zehntausende Venezolaner nach Kolumbien und Brasilien geflüchtet. Und es werden immer mehr, die ihre Heimat verlassen. Bislang waren es vorwiegend Angehörige der Ober- und Mittelschicht, die wegen Misswirtschaft, Gewalt und politischer Verfolgung ins Ausland gingen. Sie setzten sich per Flugzeug in die USA, nach Spanien und Panama ab, die meisten hatten ihr Geld vorher in Sicherheit gebracht. Nun folgen die Habenichtse auf dem Landweg: Arbeiter, Fischer, Bauern und Indigene, die ihren Job verloren haben oder so wenig verdienen, dass es nicht mehr zum Überleben reicht. Für das Regime von Präsident Nicolás Maduro kommt der Exodus der Armen einer politischen Bankrotterklärung gleich: Leute wie die Familie Márquez waren es, die vor über 18 Jahren seinen Vorgänger Hugo Chávez an die Macht gewählt hatten. José Márquez trägt eine Baseballkappe des von Chávez begründeten Fernsehsenders Telesur, er verehrt den 2013 verstorbenen Volkstribun wie einen Heiligen. „Chávez hätte diese Krise nicht zugelassen“, sagt er. „Maduro hat uns verraten.“ Der Nachfolger kämpft um sein politisches Überleben, mit immer verzweifelteren Mitteln. Vor zwei Wochen entmachtete der regierungstreue Oberste Gerichtshof das von der Opposition beherrschte Parlament. Zwar nahmen die Richter ihre Entscheidung nach massiver Kritik aus dem Ausland zurück. Doch das Regime hat alle Wege für einen demokratischen Machtwechsel blockiert. Denn Maduro und seine Handlanger fürchten, dass sie wegen Drogenhandels und Korruption zur Rechenschaft gezogen werden könnten. Sie verwandeln die einstige Demokratie daher zügig in eine Diktatur. Über hundert Regierungsgegner sitzen im Gefängnis; vor einer Woche verbot ein Gericht dem Oppositionsführer Henrique Capriles für 15 Jahre die Ausübung politischer Ämter. „Maduro hat eine Diktatur von Gangstern errichtet“, sagt der Flüchtling Márquez. In Wirklichkeit begann das Drama bereits unter Chávez: Der als linker Heilsbringer gefeierte Präsident ließ Privatbetriebe enteignen und zerstörte so die * Am vergangenen Montag.
SPIEGEL GESCHICHTE
SAMSTAG, 15. 4., 20.15 – 21.00 UHR | SKY
Produktionsbasis des Landes. Maduro hielt an diesem Kurs fest – und steuerte das Land damit immer tiefer ins Verderben. Solange der Ölpreis stabil war, blieb die Verstaatlichung für die Armen folgenlos: Die Regierung importierte 80 Prozent aller Lebensmittel und verkaufte sie zu subventionierten Preisen, ihre Devisenkasse war dank der Ölexporte gut gefüllt. Doch dann fiel der Ölpreis von über 100 Dollar pro Barrel auf weniger als die Hälfte, dem Land gingen die Devisen aus. Die Regierung druckte neues Geld, doch damit heizte sie die Inflation an, die Rate liegt heute wohl bei über 1000 Prozent. Unter den Folgen leiden vor allem die Armen. Sie strömen nun in den Grenzort Pacaraima, die erste Station für die Migranten. Über 2000 Venezolaner schlafen in Hauseingängen, unter Markisen oder auf den Straßen; sie kampieren neben dem Busbahnhof und kochen auf Holzfeuern. Ihre Wäsche waschen sie in den Abwasserkanälen, die Kinder spielen im Dreck. Drogenhandel und Prostitution blühen. Viele Flüchtlinge leiden unter Krankheiten, die in Venezuela nicht behandelt werden konnten. Die Kliniken im Krisenland sind kaum funktionstüchtig, Ärzte fehlen, Medikamente und Desinfektionsmittel sind knapp. Die Säuglingssterblichkeit ist in vier Jahren um 50 Prozent gestiegen; und Seuchen, die eigentlich als ausgerottet galten, verbreiten sich wieder. Die Flüchtlinge suchen jetzt Hilfe in der Gesundheitsstation von Pacaraima. Dort wartet der Krankenpfleger Augusto Alfredo Pereira da Silva auf sie. „Vor allem die Kinder sind oft unterernährt“, sagt er. Etwa zwanzig Patienten sitzen auf dem Gang der Krankenstation. Eine alte Frau ist da, deren Bein von Leishmaniose entstellt ist, einer Tropenkrankheit. „In Venezuela gibt es keine Medikamente“, sagt sie. Und auch die Ärzte seien rar, denn die kubanischen Mediziner, die unter Chávez in die Armenviertel geschickt wurden, seien abgezogen worden oder geflüchtet. Ana López, eine junge Frau aus Barinas, der Heimatprovinz von Chávez, schickt jeden Monat Medikamente in die Heimat, für ihren Vater, der ein Magengeschwür hat. Mit ihrer zwölfjährigen Tochter hockt sie in Pacaraima am Straßenrand. Sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durch, gerade hat sie für umgerechnet 60 Cent den Gehsteig vor einem Laden gefegt. Andere Jobs gibt es in Pacaraima kaum. Früher lebte der Grenzort vor allem vom Benzinschmuggel: Ein Liter kostet in Venezuela nicht einmal zehn Cent. In umgebauten Autos mit Extratanks brachten Schmuggler den Treibstoff über die Grenze und verkauften ihn in der Provinzhauptstadt Boa Vista für ein Vielfaches. Ausgebrannte Autowracks am Straßenrand zeu-
gen von Unfällen mit den „rollenden Bomben“, wie die Autos genannt wurden. Auch der Schmuggel von Lebensmitteln war ein einträgliches Geschäft: Brasilianische Firmen verkauften Reis und Fleisch nach Venezuela. Oft landete jedoch die Ware, die dort zu subventionierten Preisen an die Armen verkauft werden sollte, bei Banden, die sie zurück ins Ausland schleusten. Seit die Regierung in Caracas weniger Lebensmittel importiert, ist der Schwarzhandel zurückgegangen. Nur das Geschäft mit Seife, Putzmitteln, Deodorant und Klopapier blüht. Flüchtlinge bringen Pakete mit subventioniertem Waschmittel über die Grenze und verkaufen es in Pacaraima. Treibstoff wird in diesen Tagen kaum noch geschmuggelt, denn der geht Venezuela aus. Die Förderanlagen und Raffinerien der staatlichen Ölgesellschaft PDVSA sind mangels Wartung weitgehend verfallen, die Regierung importiert Benzin aus den USA. Die wenigen funktionierenden Tankstellen werden vom Militär bewacht; Autofahrer müssen in langen Schlangen anstehen. Das Wirtschaftsleben ist praktisch zum Erliegen gekommen. Sogar Ureinwohner des fruchtbaren Tropenlandes, die früher vom Fischen und Jagen lebten, hungern. „Zuerst wurde die Milch knapp, dann Mehl und Reis“, erzählt Aníbal Pérez, ein Familienoberhaupt der Warao, der zweitgrößten indigenen Bevölkerungsgruppe Venezuelas. Seine Kinder schickte er hungrig ins Bett. Als dann sein Außenbordmotor kaputtging, konnte er nicht mehr fischen; Ersatzteile gab es keine. Da nahm er Frau und Kinder und machte sich auf ins 500 Kilometer entfernte Brasilien. Mit dem Bus fuhren sie zur Grenze, das letzte Stück gingen sie zu Fuß. Seit Ende vergangenen Jahres haust Pérez gemeinsam mit 140 weiteren Venezolanern in einer Sporthalle am Stadtrand von Boa Vista, die zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert wurde. Er schläft auf einer Decke, Anwohner haben Pappkartons, Matratzen und Kleidung gespendet. Die Flüchtlinge teilen sich sechs Duschen und zwei Toiletten. Nonnen kümmern sich um die Migranten; Neuankömmlinge müssen sie allerdings abweisen: kein Platz. Brasiliens Behörden sind auf den Ansturm nicht vorbereitet, das Land steckt selbst in einer tiefen Wirtschaftskrise. „Unsere Regierung ignoriert das Flüchtlingsproblem“, klagt Sozialarbeiterin Telma Lage. Die Stadtverwaltung von Boa Vista kommt nur für das Frühstück auf. Supermärkte und örtliche Händler bringen gelegentlich übrig gebliebenes Gemüse und Obst vorbei. Aber auch das reicht nicht. Gerade wurden die ersten Flüchtlinge auf der städtischen Müllkippe gesichtet. Sie suchten nach Essensresten. Jens Glüsing Mail: jens.gluesing@spiegel.de DER SPIEGEL 16 / 2017
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Sex, Sünde & Schafott – Die Frauen von Heinrich VIII. In seiner 38 Jahre währenden Regentschaft heiratete König Heinrich VIII. von England sechsmal. Jede seiner Ehefrauen beeinflusste den Mann, der sich vom edlen Prinzen zu einem wahren Monster wandelte.
SPIEGEL TV MAGAZIN Die Sendung entfällt.
SPIEGEL TV WISSEN
MONTAG, 17. 4., 20.15 – 21.00 UHR | PAY-TV BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
Airbnb – Traum oder Albtraum? Alle zwei Sekunden wird über den Community-Marktplatz im Internet eine private Wohnung vermietet. Doch nicht immer läuft alles glatt. Touristen und Wohnungsbesitzer beklagen Betrug und Vandalismus.
37 GRAD
DIENSTAG, 18. 4., 22.15 – 22.45 UHR | ZDF
Drogenmissbrauch, Gewalt und sexuelle Übergriffe – die Mitarbeiter des Hamburger Kinder- und Jugend-
KJND-Mitarbeiterin
notdienstes (KJND) leisten Hilfe in akuten Krisensituationen. SPIEGEL TV hat die Helfer bei ihren nächtlichen Einsätzen begleitet.
SPIEGEL TV REPORTAGE
DIENSTAG, 18. 4., 23.45 – 0.40 UHR | SAT.1
Kindeskinder – Wenn Teenager Mütter werden Liza ist 14, als sie ihren ersten Sohn zur Welt bringt, Vanessa hat mit 19 Jahren bereits zwei Kinder, und Alicia ist 16 und schwanger. Mütter, die selbst noch halbe Kinder sind. In Flensburg finden sie Zuflucht im Haus Regenbogen.
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Die Prinzlinge USA Ivanka Trump steht mit ihrem Mann Jared Kushner im Zenit der Macht. Das Paar wirkt angeblich mäßigend auf Donald Trump und ist für ihn unentbehrlich. Wie konnte es dazu kommen?
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Kurz nach dem US-Angriff auf eine syu den Geschichten, die Ivanka Trump gern erzählt, um die Bezie- rische Luftwaffenbasis schrieb Ivanka auf hung zu ihrem Vater zu illustrieren, Twitter: „Stolz auf meinen Vater, dass er gehört die von der Kreditkarte, die sie für diese grauenvollen Verbrechen gegen die Menschheit nicht akzeptiert.“ Es klang fast ihre Halbschwester Tiffany organisierte. Es war, wie sie sich erinnert, kurz vor wie: Seht her, was ich bewirken kann. Das Irritierende ist, dass bei Ivanka ReWeihnachten 2008, als sich Tiffany mit einem „Dilemma“ an sie wandte: Sie brauch- gierungsaufgaben und Privatleben überte mehr Taschengeld, wusste aber nicht, gangslos ineinanderfließen. Auf ihrem wie sie das ihrem Vater beibringen sollte. Instagram-Account folgen Fotos von KinDonald Trump mag es nicht, wenn ihn je- dergeburtstagen auf Bilder, die sie neben mand einfach mal so zwischendurch um dem chinesischen Präsidentenpaar zeigen. Bei ihr gibt es keine Grenze zwischen Famehr Geld bittet, egal wer. Es gab aber durchaus gute Gründe, ihn milie und Weltpolitik, alles ist eins, sie beum Geld zu bitten, fand Ivanka. Anders dient den Voyeurismus der amerikanials sie und ihre Geschwister lebte Tiffany schen Öffentlichkeit so geschickt wie die nicht in New York, sondern mit ihrer Mut- Tochter eines europäischen Königshauses. ter in Kalifornien, profitierte deshalb auch Zusammen mit ihrem Mann Jared, einem nicht von den „schönen Geschenken ohne 36-jährigen Immobilienmagnaten mit Milcherkennbaren Grund“, die Donald Trump gesicht und Waschbrettbauch, hat sie sich in seinen Kindern gewährte. Ein Nachteil, der den vergangenen Monaten schrittweise bis ausgeglichen werden musste. in den inneren Zirkel der Macht vorgearbeiIvanka beschloss, es sei am besten, wenn tet, in das Herz der immer noch chaotischen sie sich der Sache annehme. „Ich bin zu Regierung Trump. Ivanka hat seit gut zwei unserem Vater gegangen“, schreibt Ivanka Wochen einen offiziellen, unbezahlten Job Trump in ihren Erinnerungen, „und habe als Beraterin ihres Vaters im Weißen Haus. ihm vorgeschlagen, dass er Tiffany zu Gleichzeitig erscheint ihr Mann zunehmend Weihnachten mit einer Kreditkarte mit als der wichtigste Berater des Präsidenten. einem kleinen Ausgabenrahmen überraJared Kushner verfügt über ein Portfolio, schen könnte. Und tatsächlich, das hat er das eigentlich nur ein Übermensch bewäldann auch gemacht.“ tigen kann. „SuperJared“ nannte ihn die Im Grunde hat sich seitdem nicht sehr „New York Times“. Er reist als eine Art viel geändert. Zwar hat Ivanka als Mana- Schattenaußenminister durch die Welt, gerin und Modedesignerin Karriere ge- trifft sich im Irak mit dem Premier und macht, lebt mit ihren drei Kindern und lässt sich mit einer kugelsicheren Weste ihrem Mann Jared inzwischen in Washing- über dem eng geschnittenen Jackett mit ton und hat vor Kurzem ein Büro im Wei- US-Soldaten im Kampf gegen den IS abßen Haus bezogen. Aber sie ist trotzdem lichten. Er hat den Besuch des chinesischen Daddy’s Girl geblieben. Mit dem winzigen Präsidenten Xi Jinping in den USA vorbeUnterschied, dass Daddy jetzt Präsident reitet und den Auftrag erhalten, für Frieder Vereinigten Staaten ist. Die 35-jährige den zwischen Israelis und Palästinensern Ivanka ist die derzeit mächtigste Tochter zu sorgen. Außerdem soll er die Strafjustiz der Welt, womöglich die einflussreichste reformieren, die Verwaltung umbauen, First Daughter der US-Geschichte. sich um die Betreuung der Veteranen kümUnd sie hat offenbar sogar die Macht, mern und nebenbei die Opioid-Epidemie ihren Vater zum Krieg zu bewegen. Ihr in diversen Bundesstaaten bekämpfen. Bruder Eric Trump sagte dem britischen Es ist eine Ämterhäufung im Familien„Independent“, sein Vater habe nach dem kreis, wie man sie eher aus autokratischen Chemiewaffenangriff in Syrien auch des- Regimen in Zentralasien kennt. Ein Ehehalb einen Vergeltungsschlag gegen das paar, das sich bisher vor allem mit ImmoAssad-Regime angeordnet, weil Ivanka bilien und New Yorker Societypartys aus„voller Wut und mit gebrochenem Herzen“ kannte, hat jetzt eine zentrale Position in auf diese Ungeheuerlichkeit reagiert habe. der Regierung. Ivanka Trump und Jared „Ivanka ist die Mutter dreier Kinder, und Kushner wurden in kein Amt gewählt, gesie hat Einfluss“, sagte Eric. „Ich bin mir hören keiner Partei an und sind im politisicher, sie sagte: ,Hör zu, das ist eine grau- schen Alltagsgeschäft unerfahren, wenn enhafte Sache.‘“ man höflich sein möchte. Und beide kön-
nen von ihrer Machtposition mittelfristig auch geschäftlich profitieren. Es ist nicht nur anstößig, sondern auch verfassungsmäßig fragwürdig, dass die beiden im Weißen Haus plötzlich so viel Einfluss besitzen. Der Aufstieg des Ehepaars Trump/Kushner muss Zweifel daran wecken, ob die demokratischen Kontrollen richtig funktionieren. Zugleich bringt das Paar die Kritiker des Präsidenten in eine komplizierte Lage: Sollen sie den beiden etwa gar dankbar sein, dass sie von Vetternwirtschaft profitieren, weil sie mäßigend auf Trump einwirken? Und wo war
Ehepaar Kushner/Trump beim Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi*: „Daddy, Daddy, wir müssen das unbedingt machen“
dann dieser angebliche „positive Einfluss“ beim Einreiseverbot des Präsidenten für Bürger muslimischer Staaten oder bei dessen Versuch, Millionen Amerikanern ihre Krankenversicherung zu entziehen? Das Ehepaar Ivanka und Jared stammt aus einem Milieu, das den Demokraten nahesteht und das in den beiden deshalb Verräter sieht – und dem sie umgekehrt signalisieren wollen, dass sie doch eigentlich zu den Guten gehören. In einem brutalen Sketch der ComedySendung „Saturday Night Live“ trat Scarlett Johansson vor einigen Wochen als
Ivanka Trump auf und stellte ein Parfum namens „Complicit“ vor, auf Deutsch: mitschuldig. Beleidigt sagte Ivanka Trump daraufhin in einem Interview, sie wolle doch nur „eine Kraft für das Gute sein und einen positiven Einfluss ausüben“. Sie schalte sich bei Fragen ein, die ihr wichtig seien. Die Botschaft war: Vertraut mir. Einer von Ivankas Freunden erzählte der Zeitschrift „Vogue“, dass jene Hälfte Amerikas, die Donald Trump hasse, Ivanka * Mit US-Präsident Donald Trump in dessen Feriendomizil Mar-a-Lago in Florida am 7. April.
liebe. Sie soll die gute Trump sein, die Frau, die Daddy zur Räson bringt. Der verrückte absolute Herrscher, der nur von seiner gütigen Tochter im Zaum gehalten werden kann. Klingt fast wie in einem Märchen. Doch ein Teil der Amerikaner schaut auf das Ehepaar in der Hoffnung, dass doch alles nicht so schlimm kommt wie befürchtet. Dieser Anschein von Zivilisiertheit und Ordnung ist genau das, was Trump im Augenblick braucht. Abgesehen von einigen freundlichen Kommentaren nach dem Syrien-Einsatz reiht sich eine Katastrophenwoche an die DER SPIEGEL 16 / 2017
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chinesischen Präsidenten beim Essen am nächsten saß, war übrigens Jared Kushner. Xi hingegen muss dessen Funktion sehr bekannt vorgekommen sein: In China heißen Leute wie er „Prinzlinge“, sie sind die Kinder der Mächtigen und genießen Privilegien, die Normalsterbliche nicht haben. Trump hat seine Tochter gern in seiner Nähe, vor allem in triumphalen Momenten. Sie darf neben ihm stehen, dort, wo bei anderen Politikern die Ehefrauen zu finden sind. Bei großen Reden, am Abend seiner Wahl, in der Ballnacht seiner Amtseinführung. Wenn die Nähe Ivankas zu ihrem Vater bei Auftritten ein Maß für Bedeutung ist, dann ist sie die wahre First Lady, nicht Melania. Ivanka gelingt das Kunststück, ihren Vater als Idol darzustellen, sich gleichzeitig aber als unabhängige Person zu definieren,
Marke, und damit macht sie sich vermeintlich so unentbehrlich. Es ist nicht das erste Mal in der Geschichte der Vereinigten Staaten, dass der Tochter eines Präsidenten mehr als nur eine repräsentative Rolle zukommt. Alice Lee Roosevelt Longworth, die älteste Tochter Theodore Roosevelts, heiratete einen Parlamentarier und späteren Sprecher des Repräsentantenhauses. Schon deshalb hatte sie eine herausgehobenere Position als andere Präsidententöchter. Alice stand nicht nur neben ihrem Vater, wenn er etwa an Thanksgiving einen Truthahn begnadigte, wie es Tradition ist. Sie ging für ihn auch auf Auslandsreisen und führte diplomatische Missionen an, nach China, Korea, Japan sowie auf die Philippinen. Sie repräsentierte nicht nur, sie machte Politik.
DOMINIQUE A. PINEIRO / ZUMA / DDP IMAGES
nächste. Die gescheiterte Gesundheitsreform, die Untersuchungen zu den Russland-Verbindungen seines Wahlkampfteams, all die Rücktritte, Rausschmisse und Eklats – es vergeht kaum ein Tag ohne neue Horrormeldungen aus Washington. Mit dem Aufstieg von Ivanka und Jared in den letzten Wochen ist auch der Abstieg der rechten Eiferer verbunden. Zu den Demontierten oder Ruhiggestellten zählen Trumps rechter Chefstratege Stephen Bannon, der frühere Sicherheitsberater Michael Flynn und die Sprecherin Kellyanne Conway, die zuletzt behauptet hatte, Obama habe Trump mithilfe von Mikrowellenöfen überwachen lassen können. Zwischen Jared Kushner und Stephen Bannon herrscht seit Wochen offener Streit. Es ist mehr als nur ein Krieg unter Alphatieren, es geht um die großen Fragen, es geht um die Ausrichtung von Trumps Präsidentschaft. Bannon gilt als der Architekt jener „America First“-Strategie, die Trump den Sieg brachte und die sich vor allem an die frustrierten Weißen richtete: gegen Einwanderung, für wirtschaftlichen Protektionismus, gegen die Globalisierung, gegen militärische Einmischung im Rest der Welt. Der Zirkel um Ivanka und Jared dagegen glaubt nicht an Isolation, er ist nicht dagegen, sich in der Welt zu engagieren, und steht dem Freihandel offener gegenüber. Sie gelten dem Bannon-Lager als „Globalisierer“, die Trumps Wähler verraten wollen. Die Anzeichen dafür, dass der KushnerFlügel bald den Bannon-Flügel erledigt haben könnte, mehren sich. Zunächst wurde der Chefstratege aus dem Leitungsgremium des Nationalen Sicherheitsrates wieder entfernt. Auch der Militärschlag gegen Assad war eine Niederlage für ihn. Am Dienstag sagte der Präsident in einem Interview mit der „New York Post“, er möge „Steve“ ja, aber der sei in Wahrheit auch erst sehr spät im Wahlkampf zum Team hinzugestoßen. Es klang nicht nach enthusiastischer Unterstützung. In Trumps Rangliste seiner persönlichen Werte steht Familie auf Platz eins, auf Platz zwei: Loyalität. Trump hat eine Neigung, jene Leute zu belohnen, die immer zu ihm gehalten haben. Aber die Familie steht immer über allem. Die Familie war es auch, die am vergangenen Wochenende einen großen Auftritt hatte, als Trump seinen chinesischen Amtskollegen Xi in seinem Golfklub in Florida zu Gast hatte. Trumps Enkel Arabella und Joseph, die Kinder von Ivanka und Jared, durften wie auf einem Familienjubiläum auftreten. Beide Kinder hatten die Ehre, dem chinesischen Präsidenten ein chinesisches Gedicht vorzutragen und ein Volkslied vorzusingen. Xi wiederum wurde genötigt zu klatschen. Es war ein Moment zum Fremdschämen. Der Berater, der dem
Trump-Schwiegersohn Kushner im Irak: „Ich denke, er kann hilfreich sein“
in Abgrenzung zu ihm, und ihn dennoch zu loben. Ihr Vater sei, sagte sie voriges Jahr zur Überraschung aller, ein Feminist. Sie sprach von dem Mann, der sich regelmäßig abfällig über sein weibliches Umfeld äußert, der mehrfach wegen sexueller Belästigung angezeigt wurde und damit prahlt, Frauen in den Schritt zu fassen, einfach so. Der „Grab them by the pussy“-Trump. Ivanka verurteilte diese Entgleisungen ihres Vaters zwar als „eindeutig unangemessen und beleidigend“. Gleichzeitig stellt sie sich aber vor ihn, indem sie erklärt: „Den größten Trost finde ich darin, dass ich weiß, wie mein Vater wirklich ist.“ Sie betreibt ein geschicktes Doppelspiel. Einerseits beteuert sie volle Loyalität dem Patriarchen gegenüber. Andererseits gesteht sie seine Schwächen ein, die in seiner Persönlichkeit, aber auch die in seiner Politik. Das macht sie zu einer eigenen
Auch Julie, eine Tochter Richard Nixons, war mehr als nur die Statistin einer perfekten Familie. Am Ende von Nixons Amtszeit, während des Watergate-Skandals, verteidigte sie ihren Vater gegen Vorwürfe, er sei ein Lügner. Sie war die Frau an seiner Seite, die ihn bis zuletzt vor dem Rücktritt zu bewahren versuchte. Aber vermutlich nahm keine Tochter so unverhohlen und fröhlich Einfluss auf den Präsidenten wie Ivanka Trump. Während des Wahlkampfs bat sie ihren Vater, sich für mehr Kinderbetreuung und Elternzeit einzusetzen. „Daddy, Daddy, wir müssen das unbedingt machen“, flehte sie. Trump gab seiner Tochter nach, auch wenn das nicht mit Trumps Plan in Einklang zu bringen war, den Staat zurückzudrängen und Steuern zu kürzen. Ivanka und Jared geben sich Mühe, trotz ihres Reichtums wie eine relativ normale
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Grey Hutton/VICE
Gudrun Senger
DER SPIEGEL im Gespräch mit Wickert, Augstein, Himmelreich: live P. Schimweg
Familie auszusehen, mit relativ normalen Problemen. Ivanka zählt gern auf, in welchen Ländern sie in ihrem jungen Leben schon war und wo sie nicht nur Geschäfte gemacht hat, sondern auch gern in Restaurants geht, die keine amerikanischen Gerichte servieren. Sie sei da anders als ihr Vater, schreibt sie, eher wie Trumps zweite Ehefrau Ivana, ihre Mutter, mit der sie die halbe Welt bereist haben will. So begriff sie, dass die Welt „voller interessanter, passionierter und unglaublich dynamischer Menschen war“. Menschen vor allem, die noch nie in einem der Gebäude ihres Vaters gewesen waren. „Mein Vater ist eher ein Stubenhocker“, schreibt Ivanka Trump. Ginge es nach ihm, würde er New York nur selten verlassen. „Seine Vorstellung eines perfekten Abends ist, in seinem Penthouse Football zu schauen.“ Selbst auf Reisen bevorzugt er ein kontrolliertes Umfeld, weshalb er am liebsten in seinen eigenen Hotels wohnt, im Mar-a-Lago in Palm Beach oder den GolfRessorts in New York und New Jersey. Wenn Trump isst, dann Steak mit Pommes frites, dazu eine Cola light mit Eiswürfeln. Es ist nicht ganz klar, was Donald Trump über seinen Schwiegersohn Jared Kushner denkt, der so ganz anders ist als er. Aber er hat ihn offensichtlich akzeptiert. Trump sieht in Jared weniger einen Konkurrenten als einen ambitionierten Jüngling, der versucht, dem Großmeister, also ihm, im Immobiliengeschäft nachzueifern. Zwar hat Kushner mehr für sein Hochhaus auf der Fifth Avenue bezahlt als sein Schwiegervater für den Trump Tower. Dafür ist Jareds Wolkenkratzer niedriger, um 55,20 Meter. „Jared ist ein smarter Junge, ein guter Junge“, sagt Trump. „Die Leute, die ihn kennen, wissen, dass er viele Qualitäten hat. Ich denke, er kann sehr hilfreich sein.“ Kushner wacht mit darüber, wer zum Präsidenten vorgelassen wird, wer angehört wird und wer nicht. Halb Washington versucht gerade, seine Aufmerksamkeit zu gewinnen, das verleiht ihm beispiellose Macht. Seine Geschichte ist die Erzählung eines jungen Mannes, der sich dauernd gegen Widerstände behaupten muss, um oben zu bleiben. Drei traumatische Erfahrungen prägten ihn: der Gefängnisaufenthalt seines Vaters, die Finanzkrise und die Begegnung mit Donald Trump. Kushner wurde als Sohn eines Immobilienunternehmers in New Jersey geboren. Die Familie war insofern politisch, als dass sie hohe Summen an Kandidaten der Demokraten gab. Kushners Vater Charlie spendete mindestens anderthalb Millionen Dollar an die Partei, auch an Hillary Clinton, und war kurz davor, selbst in die Politik zu wechseln. Dann stolperte er aber über eine Finanzaffäre. Charlies älterer Bruder warf Charlie Missmanagement vor, das war Anfang der
Journalismus – drei Generationen, eine Bestandsaufnahme: 70 Jahre nach Gründung des SPIEGEL ist die Pressefreiheit in den Demokratien des Westens nicht mehr selbstverständlich. Wie funktioniert Journalismus in Zeiten von Fake News und Propaganda? Welche Chancen bieten Digitalisierung und soziale Medien? Und was wollen die Leser? Über diese Fragen diskutieren der ehemalige Tagesthemen-Moderator Ulrich Wickert, SPIEGELKolumnist Jakob Augstein und die Chefredakteurin von VICE.com Laura Himmelreich. Moderation: Christiane Hoffmann, stellvertretende Leiterin des SPIEGEL-Hauptstadtbüros
Dienstag, 2. Mai 2017, 20.00 Uhr, Spiegelsaal, Clärchens Ballhaus, Auguststraße 24, 10117 Berlin Karten im Vorverkauf, an der Abendkasse und unter spiegel-live.de. Eintritt: 15,30 Euro, ermäßigt 12 Euro. Einlass ab 19 Uhr. Änderungen vorbehalten.
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lary Clintons Tochter Chelsea und deren Mann. In Trumps Wahlkampf, der zu Beginn vollkommen plan- und kopflos war, entwickelte Kushner Ideen für eine Steuerreform und bessere Handelsabkommen. Nach und nach arbeitete er sich nach oben, bis er schließlich ein großes Datencenter mit 100 Mitarbeitern leitete, wo Facebook-Kampagnen geplant, Videos produziert und Helfer rekrutiert wurden. Kushner wurde zum Hirn der Kampagne. „Ich habe mich gefragt: Wie kann ich Trumps Botschaft für einen möglichst niedrigen Preis an die Verbraucher bringen?“, erzählte Kushner. Seit dem Wahlsieg lebt er mit Ivanka und den Kindern in Washington, im Reichenviertel Kalorama, unweit von Barack und Michelle Obama. Doch in der Hauptstadt wird plötzlich Kushners Vergangenheit be-
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Nullerjahre. Gleichzeitig zeigte ihn ein früherer Buchhalter an, weil die Spenden nicht vom Privatvermögen der Kushners stammten, sondern vom Firmenkonto. Charlie vermutete, dass seine Schwester mit den Ermittlern kooperierte. Aus Rache setzte er eine Prostituierte auf ihren Mann an und schickte die kompromittierenden Bilder seiner Schwester. Die „Sopranos“ waren weniger intrigant. Am Ende wurde Charlie zu zwei Jahren Haft verurteilt. Jared hielt die ganze Zeit zu seinem Vater. Die Episode hatte die Familie zusammengeschweißt, die Kushners sahen sich als Opfer. Das war die erste Lektion für Jared: Die Familie kommt zuerst. Die zweite Lektion, nach der Finanzkrise, lautete: Arbeite hart, dann steigst du wieder auf. Er hatte nie Geldsorgen, schon während der Zeit in Harvard machte er Millionen
Glamour-Paar Trump/Kushner: Die Familie kommt immer zuerst
mit Immobiliendeals. Kommilitonen beschreiben ihn als netten, aber etwas hüftsteifen Kerl, der lieber Anzughemden als T-Shirts trug und Partys mied. Nach dem Studium zog er nach New York. Kushner wollte nach oben, nicht zu den Reichen, sondern zu den Schönen und Schlauen, es war der Wunsch des Bauunternehmers nach sozialer Anerkennung. Schon damals war es herrlich altmodisch, dass sich Jared, um sein Ziel zu erreichen, für zehn Millionen Dollar eine Zeitung kaufte: den angesehenen, verschrobenen, leicht dandyhaften „New York Observer“. Ivanka lernte er über einen Bekannten kennen. Nach einem holprigen Start und einer kurzen Trennung überzeugte er sie, zum Judentum zu konvertieren und ihn zu heiraten. Zu ihren Freunden zählen der Medienmogul Rupert Murdoch und dessen Exfrau Wendi Deng, aber auch Hil102
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leuchtet. Es stellt sich heraus, dass chinesische Investoren an seinem Wolkenkratzer interessiert waren. Wenn Kushner gleichzeitig mit chinesischen Diplomaten über den Besuch des chinesischen Präsidenten verhandelt, überlappen sich wirtschaftliche Interessen gefährlich stark mit der Politik. Die Verflechtungen von Geschäft und Politik könnten zu einem Problem für ihn werden. Außerdem werden Kushners Kontakte nach Russland untersucht. Im Dezember traf er sich mit dem russischen Botschafter und dem Chef der staatlichen russischen Bank für Außenwirtschaft, die Sanktionen unterliegt. Der Geheimdienstausschuss des Senats, der die Beeinflussung der US-Wahl durch Russland untersucht, will Kushner deshalb anhören. All das konnte seinen Machtzuwachs bislang nicht stoppen. Wer heute in der Regierung etwas bewegen will, muss mit Kushner
reden. Er baute im Verborgenen, über Monate hinweg Brücken zu den vermeintlichen Gegnern. Zu den Chinesen, zum Außenminister von Mexiko. Lobbyisten, ausländische Botschafter, Premierminister und Unternehmer wissen, dass er der Kanal ins Weiße Haus ist. Er ist der Stoßdämpfer der Regierung, der Diplomat, der stille Strippenzieher. Kushners Aufgabe, mit einem neuen „Amt für amerikanische Innovation“ die Verwaltung aufzubrechen, gibt ihm in Ministerien enorm viel Macht. Trump hat angekündigt, die Budgets wichtiger Ressorts zu kappen, Kushner soll den Staat umbauen, indem er ihn verkleinert und effizienter macht. Staatssekretäre und Abteilungsleiter klopfen jetzt bei dem Schwiegersohn des Präsidenten an und versuchen, die brutalsten Kürzungen abzuwenden. Außerdem hat er Kontakte zu den Managern großer Unternehmen geknüpft, darunter Tim Cook von Apple, Ginni Rometty von IBM und dem Tesla-Chef Elon Musk. Sie sollen helfen, den großen Umbau mit eigenen Ideen voranzutreiben. Noch hat Kushner wenige Fehler gemacht, die Reaktionen aus der Wirtschaft sind bislang überwiegend positiv. Als Bundeskanzlerin Angela Merkel auf Donald Trump traf, saß sie am Kabinettstisch neben Ivanka Trump. Auf den Fotos, die dabei entstanden, sah Merkel nicht besonders glücklich aus über diese Sitzordnung. Doch in Hintergrundgesprächen verbreiteten Mitarbeiter Merkels anschließend, Ivanka habe konzentrierter und besser vorbereitet gewirkt als der Präsident. Man kann sich vorstellen, dass sie und Jared diese Präsidentschaft mitprägen, als Prinzenpaar. Es ist möglich, dass sie helfen können, die Marke Trump zu entgiften. Aber der Präsident, das sind nicht sie, das ist der Alte. Das ist der Mann, der als Muslimfeind, Mauerbauer und krankhafter Lügner durchs Land zog und der die Ressentiments und den Rassismus der Wählerschaft bediente. Darüber kann das Glamourpaar nicht hinwegtäuschen. Und zumindest im Moment sind auch die Ideologen noch da, Stephen Bannon hat noch ein Büro im Weißen Haus. Die Männer mit den dunklen Ideen kämpfen um ihren Platz am Hof. Bannon sagte kürzlich, er liebe eine ordentliche Schießerei. Der Streit zwischen den beiden Lagern ist in den vergangenen Wochen derart ausgeartet, dass Trump Bannon und Kushner öffentlich ermahnte, miteinander auszukommen. Doch wenn sie das nicht schaffen, kann in Wahrheit nur einer der beiden Streithähne entlassen werden. Denn der andere gehört zur Familie. Marc Hujer, Christoph Scheuermann
Lesen Sie auch auf Seite 118 Amerikas Intellektuelle und ihr Verhältnis zu Donald Trump
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„Nicht gleich zum Arzt rennen“
EVA HÄBERLE
Die Medizinerin Ragnhild Schweitzer, 44, über aktionistische Mediziner, schädliche Spritzen und Patienten, die unbedingt behandelt werden wollen – egal wie SPIEGEL: Sie sind Ärztin, raten
in Ihrem Buch „Fragen Sie weder Arzt noch Apotheker“ aber davon ab, bei Beschwerden sofort einen Doktor zu konsultieren. Warum? Schweitzer: Weil der Schaden medizinischer Maßnahmen häufig größer ist als ihr Nutzen. Und weil der Körper vieles gut in den Griff bekommt, ohne dass es dazu der Hilfe eines Arztes bedarf. Akute Schmerzen im Kreuz etwa verschwinden meist nach ein
Astronomie
Passage eines Trumms
Schweitzer: Mit Sicherheit. Die Menschen sitzen ja nicht stundenlang im Wartezimmer, damit der Arzt ihnen sagt: Wir warten erst mal ab. Viele fühlen sich erst dann gut versorgt, wenn der Doktor sie mit moderner Technik untersucht und eine Therapie angeordnet hat. Mein Mann und ich machen da keine Ausnahme: Wir haben auch oft direkt losgelegt, wenn es um die Gesundheit unserer Kinder ging – obwohl wir es eigentlich besser wussten. Unser Sohn ist wegen dieses Aktionismus sogar einmal operiert worden! SPIEGEL: Und was soll man tun, wenn man an einen aktionistischen Arzt gerät? Schweitzer: Ein guter Trick ist es, ihn Folgendes zu fragen: Was passiert eigentlich, wenn wir gar nichts tun und erst mal abwarten? Das wird ihn sicher zum Nachdenken bringen. Und vielleicht hilft es, sich vor Schaden zu bewahren. gk
punkt der Annäherung um 14.24 Uhr deutscher Sommerzeit in 1,8 Millionen Kilometer Entfernung am Planeten vorbeiziehen. Wer ein Amateurteleskop hat, wird „2014 JO25“ womöglich sehen können, denn der Asteroid leuchtet besonders hell. Wer ihn verpasst, muss indes lange warten: So nahe kommt er in den nächsten 500 Jahren nicht vorbei. Hätte der Koloss einen leicht anderen Kurs einge-
schlagen, wären Sorgen durchaus berechtigt. „2014 JO25“ ist im Durchmesser immerhin gut 30-mal so groß wie der Meteor von Tscheljabinsk, der am 15. Februar 2013 über dem russischen Ural niederging und fast 1500 Menschen verletzte. Die nächste Passage eines Himmelskörpers ähnlicher Größe wird für August 2027 erwartet. „1999 AN10“ wird in 380 000 Kilometer Nähe an der Erde vorbeisausen, so nah wie der Mond. me
Fußnote
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Am Mittwoch wird ein ungewöhnlich großer Asteroid ungewöhnlich nahe an die Erde herankommen. Das Objekt „2014 JO25“, eingestuft als „potenziell gefährlich“, hat einen Durchmesser von rund 650 Metern und ist wohl Millionen Tonnen schwer. Nach Berechnung von Nasa-Astronomen wird es zum Höhe-
paar Wochen von ganz allein, Atemwegsinfektionen gern noch viel früher. Da braucht es keine Spritzen oder Antibiotika, die haben nur potenzielle Nebenwirkungen. Es ist oft viel gesünder, nicht gleich zum Arzt zu rennen. SPIEGEL: Die Mediziner sind doch nicht verpflichtet, Apparate anzuwerfen und Therapien anzuordnen. Schweitzer: Natürlich nicht. Aber Ärzte haben einfach mehr Gründe, etwas zu tun, als etwas nicht zu tun. Sie verdienen kaum Geld, wenn sie nur mit dem Patienten reden und auf eine Behandlung verzichten – und viele haben Angst davor, etwas zu übersehen und dann verklagt zu werden. Also lassen sie etwa bei Rückenschmerzen ein Röntgenbild anfertigen, obwohl das fast immer mehr schadet als nutzt, wie Studien zeigen. SPIEGEL: Lassen sich die Ärzte auch von der Erwartungshaltung der Patienten treiben?
Meteor kurz vor dem Einschlag bei Tscheljabinsk 2013
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Prozent
der US-Raucher rauchen gern, hat eine neue Studie der Georgia State University ermittelt. 21 Prozent sind unsicher, ob ihnen der Tabak wirklich zusagt. 71 Prozent der Konsumenten empfinden jedoch Reue, überhaupt je mit dem Rauchen begonnen zu haben. Offenbar ist kein anderes Produkt der Industriegeschichte selbst bei seinen regelmäßigen Nutzern dermaßen unbeliebt – ein trauriger Rekord.
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Endlich Regen ROBYN BECK / AFP
Kaliforniens ewige Dürre ist vorbei. Milliarden Samen von Wildblumen haben über Jahre auf Wasser gewartet, jetzt legen sie los: Ein spektakulärer „Super Bloom“ hat ein ödes, trockenes Tal nordöstlich von Los Angeles für eine kurze Weile in ein Blütenparadies verwandelt.
Kommentar
Peitschen verboten „No Sex Please, We’re British“ – das gilt jetzt auch im Internet. Und es ist eine Schande. Muss man Pornografie mögen? Sicher nicht. Aber jeder sollte sie verteidigen. „Pornografie ist der Kanarienvogel in der Kohlenmine der Meinungsfreiheit“, sagt der aufs Obszöne spezialisierte britische Anwalt Myles Jackman. „Wird dieser Angriff auf Bürgerrechte hingenommen, dann fallen in der Folge weitere Freiheiten.“ Der Mann hat recht. Erst Brexit, dann dies: Ein neues britisches Gesetz fordert demnächst von jedem, der im Netz Pornografie sehen will, einen eindeutigen Altersnachweis. Was zunächst nicht unvernünftig klingt, kann allzu leicht zu staatlichen Registern aller Schmutzfinken samt ihrer Vorlieben führen. Es dürfte nicht lange dauern, bis solch ein System gehackt wird und als digitaler Schandpfahl missbraucht wird. Noch bedenklicher: Was britische Pornografiefreunde zu Gesicht bekommen, das bestimmt nicht länger ihr eigener Geschmack, so seltsam er auch sein mag, sondern eine Zensur-
behörde. Eine ganze Reihe eher willkürlich ausgesuchter Sexualpraktiken darf in Großbritannien nicht mehr gezeigt werden. Verboten ist es, wenn Darsteller aufeinander urinieren, sich große Gegenstände oder mehr als vier Finger in Körperöffnungen einführen, hart schlagen oder peitschen (lassen). Pornodarstellerinnen dürfen sich auch nicht mehr ganz auf das Gesicht eines Mannes setzen („face-sitting“) oder sich bei der weiblichen Ejakulation („squirting“) filmen lassen, soweit diese auf einen anderen Körper erfolgt. Besonders bizarr: Jede dieser Praktiken ist legal unter einvernehmlich handelnden Partnern – nur Abbildungen davon, die sind plötzlich illegal. Für die Mehrheitsgesellschaft mag all das verzichtbar sein, für viele sexuelle Minderheiten aber nicht: Sie sehen sich diskriminiert. Wegen „widernatürlicher Unzucht“ wurde einst auch in Deutschland Analverkehr unter Männern unter Strafe gestellt. Kehren solche Zeiten nun zurück? Marco Evers DER SPIEGEL 16 / 2017
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Technik
H für Hohn Verkehr Immer mehr Altautos gelten als Oldtimer. Doch verdienen die Massenprodukte der Achtzigerjahre wirklich die Aufwertung zum Klassiker? Kritiker fürchten eine Inflation des mobilen Kulturguts.
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FLICKR / WIKIMEDIA , RUDOLF STRICKER / WIKIMEDIA
Als die Modelle gebaut wurden, die heuer „Bergdoktor“ Martin Gruber die Zahl der amtlichen Oldtimer um weit te zur Oldtimersegnung anstehen, hatte das zählt zu den nachhaltigsten Bild- mehr als 100 Prozent. schirmpräsenzen der Republik. Seit 380 000 Personenwagen haben inzwi- Kraftfahrzeug seinen Wandel vom Faszineun Jahren strahlt das ZDF unverdrossen schen das H-Kennzeichen, also eins von nosum zum selbstverständlichen Transportneue Folgen aus. Hauptdarsteller Hans Sigl 120 Autos; doch wenn es so weitergeht, mittel längst vollzogen. Chromblitzende, hält sich in der alpinen Arztschnulze als kommt bald auf 30 Kfz-Zulassungen ein individuelle Autogesichter waren einem ebenso robuster Sympathieträger wie sein artgeschützter Klassiker. Nach VDA-Schät- aerodynamisch optimierten Einheitsdesign tanngrüner Dienstwagen: ein Mercedes zung werden im Jahr 2030 etwa 1,7 Millio- gewichen. Und vom benzinseligen PS-Kult der Baureihe W 123. nen H-Kennzeichen vergeben sein, wenn war nach zwei Ölkrisen und dem ersten Das Modell ist ein Urahn der heutigen nicht eine Revision der Zulassungsordnung ökologischen Großalarm des Waldsterbens E-Klasse; es wurde von 1975 bis 1986 her- dem Treiben zuvorkommt. Der Verband, nicht viel übrig. gestellt, und das in einer Solidität, die den der die Geister einst rief, ist nahe dran, zu Doch Autos überleben inzwischen auch Daimler-Konzern womöglich ruiniert hätte, einer solchen zu raten. „Die ursprüngliche ohne Liebe. Sie sind zwar nicht mehr schön, wäre sie beibehalten worden. Mehr als Zielsetzung, technisches Kulturgut zu dafür aber verzinkt und versiegelt. „Karos17 000 Exemplare fahren noch heute allein schützen“, sagt Röhrig, „ist irgendwann serien rosten nicht mehr weg, sie halten nain Deutschland mit dem Oldtimerprädikat nicht mehr vermittelbar.“ hezu ewig“, sagt Marius Brune, Geschäftsdes H-Kennzeichens, das 30-jährigen AuHinzu kommt ein Problem, das sich leiter der Classic Data Marktbeobachtung tos nach einer kurzen Zustandsprüfung nicht nur bei Autos stellt: Wie soll in Wür- GmbH, Deutschlands traditionellem Komverliehen wird. Der Alt-Mercedes ist der de alt werden, was nie in Würde jung war? petenzzentrum für Bewertungen historizweitbeliebteste Klassiker der Repuscher Fahrzeuge. „Da kommen Autos blik, gleich nach dem VW Käfer. ins Oldtimeralter, die im Auge ihrer Zähes Leben Solche Fakten führen zur gleichen Besitzer nicht mehr sind als schäbige Frage, die das Gefährt des Tiroler TV- Pkw mit historischem Kennzeichen Gebrauchtwagen.“ Eine seiner BeMedikus aufwirft: Sind diese Fahr- in Deutschland kannten fahre einen fast 30 Jahre alerhält H-Kennzeichen zeuge tatsächlich in Liebhaberhand, in Millionen ten VW Polo – als Winterauto. „Die 2030 oder stehen sie im Dienst von Eig- ab 2017 Prognose Oldtimergeschichte“, sagt Brune, Ford Mondeo 1 ,6 „lässt sich so nicht fortschreiben.“ nern, die sich einfach nur freuen, dass 3. Generation ihre Kaleschen nicht krepieren? Der Altautomarkt ist eine janusköpfige Erlebniswelt geworden, in Einer Zulassungsbehörde könnte der sich schwer ausmachen lässt, weldas gleichgültig sein, wäre da nicht eine ches Antlitz nun das befremdlichere ernste politische Mission, unter der die ist: am einen Ende ein Massenmarkt amtliche Beglaubigung von Oldtimerebenso billiger wie zählebiger Nutzfahrzeugen vollzogen wird: Das Num1 ,2 fahrzeuge, die unversehens zum Kulmernschild mit dem H für „historisch“ turgut werden, und am anderen die am Ende der Zahlenfolge kennzeich2026 Spekulationsblase der echten Sammnet erhaltenswertes Kulturgut, beNissan Primera lerstücke. Gefragte Klassiker wie der schert dem Fahrzeughalter einen pau2. Generation Porsche 911 der Siebzigerjahre oder schalen Ministeuersatz von knapp 192 die Pagoden-SL von Mercedes haben Euro jährlich und die Generalerlaubnis, inzwischen Höchstpreise erreicht, zu in jede Umweltzone zu karriolen, auch 0,8 denen man drei neue Ferraris bewenn der Schadstoffausstoß seines mokommt. bilen Museumsstücks dem eines FischAuf der jüngsten Techno-Classica, kutters nahekommt. der Leitmesse der Szene, stand in dieDie Inflation von Kfz-Klassikern zu sem Jahr in Essen ein Alt-911er für übersehen gelingt auch dem Verband 2020 über 800 000 Euro. Mercedes-Tuner der Automobilindustrie (VDA) nicht BMW, Brabus, bekannt für Restaurierungen mehr, der einst intensive Lobbyarbeit 3er E36 0,4 auf einen Zustand oberhalb des für die Einführung der Oldtimerprivieinstigen Neuwagenniveaus, bietet legien betrieb. Stefan Röhrig, Fachbeeinen SL-Flügeltürer für knapp zwei reichsleiter für historische Fahrzeuge Millionen. im VDA, sieht sich mit Statistiken konDoch Altautoexperte Brune gibt frontiert, die „einer sorgfältigen Begerade diesem Sektor keine gute obachtung“ bedürfen: Während der Prognose. Denn nur die Autos könPkw-Bestand in Deutschland seit 2008 Quellen: VDA, KBA nen unsterblich sein, die Liebhaber um 11 Prozent auf knapp 46 Millionen nicht. Brune sieht zunehmend ganze zugelassene Fahrzeuge wuchs, stieg 2000 2020 2030 2010 106
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SWNS / ACTION PRESS RETO KLAR
Oldtimersammlung auf Auktion*: Wie soll in Würde alt werden …
… was nie in Würde jung war?: Neuere Auto-Klassiker*
Sammlungen auf den Markt kommen, weil die Nachkommen des verblichenen Enthusiasten nichts am Hut haben mit dem ehrbaren Alteisen: „Bei Vorkriegsautos beginnt ein enormer Preisverfall. Die wiegen zwei Tonnen und haben 80 PS. Wer will denn damit fahren?“ Und auch die Preziosen der Fünfzigerund Sechzigerjahre könnten bald zu ähnlich ungeliebtem Nachlass werden. Junge Hipster, deren Technikaffinität selten über Flachbildschirme hinausgeht, müssten im Erbschaftsfall sicher erst mal zusammengoogeln, was es mit dem Zauber eines Volvo Amazon auf sich hat. Viele haben gar keinen Führerschein mehr. Brune sieht die mobile Gesellschaft an der Schwelle eines Bewusstseinswandels, der auch den Klassikermarkt hart treffen wird. Es gebe bereits zarte Anzeichen, sagt er. Die Zahl der Umschreibungen, also der Besitzerwechsel von Oldtimerautos, sei im vergangenen Jahr erstmals leicht rückläufig gewesen. Die letzte Generation junger Menschen, die sich noch annähernd für Autos interessierte, ist heute über 40 und hat um die Jahrtausendwende einen schrägen Kult namens „Motorave“ zelebriert. Zwanghaft progressive Werbemanager tauchten plötzlich mit zerschrammten Ford Granadas auf, um zu zeigen, dass ihre Coolness sich durch keine Geschmacklosigkeit erschüttern lässt. Das waren keine Autoliebhaber, eher apokalyptische Reiter einer sterbenden Weltreligion ums heilige Blech. Die Autohersteller spüren längst, wie ihrem Produkt die Magie entweicht, und halten nach Kräften gegen. Auf der TechnoClassica errichten sie inzwischen Stände, als wären sie auf der IAA. Ganz vorn im Rampenlicht stehen oft die Produkte der Neunzigerjahre – und dokumentieren das Elend auch noch. Stefan Behr, Museumssprecher der BMW Group, führt mit smarter Eloquenz an den Exponaten entlang. Er nennt die Autos beim Werkskürzel. Die zweite Generation der Dreier-Baureihe (1982 bis 94) heißt E30 und ist laut Behr „als Klassiker vollständig akzeptiert“. Tatsächlich hatte das Modell mit seinem kantigen Aufbau schon eine museale Aura, als es noch als Neuwagen erhältlich war. Der Münchner Hersteller ist Sponsor der Rallye „Creme 21“, einer jährlich stattfindenden Spätsommerausfahrt und Hauptattraktion der jungen Klassikerszene. Sie war anfangs als Kultforum für Autos der Siebziger- und frühen Achtzigerjahre gedacht, aus denen auch das zitierte Kosmetikprodukt stammt, und sollte einen lässigen Kontrapunkt zur Ernsthaftigkeit der PS-Veteranenszene setzen. Cheforganisa* Oben: Jaguar E-Type, Baujahr 1972; unten: Opel Commodore B, Baujahr 1975. DER SPIEGEL 16 / 2017
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tor Alexander Mrozek hatte sie als Twen ins Leben gerufen. Nun ist er 42 und damit einer der Jüngsten im Veranstalterteam. „Es kommt kaum noch Nachwuchs“, sagt er. Inzwischen fahren schon Autos der Neunzigerjahre im Feld mit. Mrozek attestiert ihnen „klassische Gene“, was auch dem Sponsor entgegenkommt. BMW-Kurator Behr möchte Modell E36, den Nachfolger von E30, gern auf die Oldtimerweihe vorbereiten, eine leidlich geglättete Polyurethanverwachsung, die bei etwas Fantasie auch als Mitsubishi durchgehen könnte. Etwa 900 000 Exemplare, schätzt Behr, seien weltweit noch unterwegs. Muss sie also eingedämmt werden, die Flut von Altautos, bei denen das H im Kennzeichen allenfalls noch für Hohn stehen kann? In anderen Ländern sind vergleichbare Privilegien teils unüblich, teils wurden sie aufgeweicht. So hat die Regierung der Niederlande das Zulassungsalter für das Oldtimerprädikat inzwischen von 25 auf 40 Jahre hochgesetzt. Im Deutschen Bundestag gibt es einen Parlamentskreis zum Thema „Automobiles Kulturgut“; den Vorsitz führt der CDUAbgeordnete Carsten Müller. Er sieht derzeit keinen Handlungsbedarf, die Zulassungskriterien zu verschärfen: „Wir haben keine Oldtimerschwemme“, sagt er; und er erwarte auch keine, denn die Fahrzeuge stürben heute „einen anderen Tod“ – den Totalschaden durch Versagen der komplexen Elektronik. Die Hoffnung auf den Kollaps der Platinen erscheint als einziges politisches Programm gegen die Schwemme historischer Autozombies nicht wirklich zuverlässig. Doch der Christdemokrat, selbst Eigner anerkannter Prachtmobile wie Facel-Vega und Monteverdi, steht fest im Glauben an den schnellen Tod der Hässlichkeit. Als Beispiel nennt er die italienische Marke Alfa Romeo, deren unfassbar schöne Oldtimer aus den Sechzigern in großer Menge erhalten sind, während die in jüngeren Jahrzehnten produzierten Verirrungen rasch wieder aus dem Straßenbild verschwanden. Den Tiefpunkt aller Alfa-Abgründe markiert das Modell „Arna“, eine Kooperation mit Nissan. Es vereinigte die Pannenträchtigkeit des italienischen Herstellers mit dem öden Design des japanischen Partners und nahm einen der kürzesten Wege vom Montageband zum Schrottplatz der Autogeschichte. Die Produktion endete 1987 nach knapp vier Jahren. „Wenn Sie noch einen finden, dann kaufen Sie ihn am besten gleich“, sagt Müller. „Es könnte der Letzte sein.“ Christian Wüst Video-Testfahrt: Das soll ein Oldtimer sein? spiegel.de/sp162017omega oder in der App DER SPIEGEL
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Haltet den Lügner! Essay Zum Marsch für die Wissenschaft: Wahrheit ist wichtig, aber nicht alles.
Von Peter Strohschneider
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BRIAN WILLIAM WADDELL / PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS.COM
Diese für Freiheit, Frieden und Wohlstand entscheidens versteht sich von selbst: Man muss gegen die Lüge de Entkoppelung von Wahrheit und demokratischer Macht sein. Und das ist ja nicht schwierig. Wer wäre denn negieren jene Populisten und Autokraten, die in (zu) vieschon für sie? Nicht einmal Donald Trump. Wenn er len Ländern die Institutionen von Politik, Medien oder mit zustechendem Finger Journalisten aus dem Pressekorps Justiz zu kapern im Begriff sind. Dagegen muss gestritten des Weißen Hauses herauspickt und ihnen den Mund verwerden; und deswegen marschieren am 22. April, beim bietet, weil ihre Zeitung Fake News verbreite, dann stellt „March for Science“, auch in Deutschland viele Bürger er einerseits bloß seine Machttechnik aus. Sie folgt dem für die Wissenschaft und ihre Freiheit. schlichten Muster, dass der Dieb von seinem Diebstahl ablenkt, indem er, auf andere zeigend, am lautesten „Haltet Dieser Streit wäre allerdings verloren, bevor er auch nur den Dieb!“ ruft. Andererseits: Vier der fünf Finger seiner begonnen hat, hinge legitime Machtausübung umgekehrt Hand weisen auf den Rufer zurück. So wenig seine Ablenvon Wahrheit ab. Und dies gilt hinsichtlich religiös oder kungsstrategie den Diebstahl selbst rechtfertigen kann, so wissenschaftlich begründeter Wahrheiten gleichermaßen. wenig beseitigt Trumps „war against the media“ die UnModerne Forschung ist pluralistisch. Sie erzeugt keine Geterscheidung von Wahrheit und Lüge. Er setzt sie im Gewissheiten, sondern methodisch verlässliches Wissen. Sie genteil gerade voraus. Die Rede vom Postfaktizismus versagt, was der Fall ist, woraus allerdings keineswegs zwingend fehlt also die Sachlage. Und sie folgt, was alternativlos der Fall sein verstellt den Blick darauf, dass die sollte. Sosehr demokratische PoliDenunziation von seriösem Jourtik wissenschaftlich begründeter nalismus als „Lügenpresse“ eine Information bedarf, so wenig ist Verschiebung versucht. sie bloß die administrative ExekuAn die Stelle eines Sachvertion von Forschungsergebnissen. haltsbezuges tritt der MachtbeDer Einspruch gegen autokratizug: Wer sich Trumps Macht unsche Wissenschaftsfeindlichkeit ist terwirft, sage die Wahrheit. Hinnotwendig. Zugleich profiliert sich gegen lüge, wer ihr widerstreitet. derzeit in mancher StellungnahFür den amerikanischen Präsidenme, aus der Wissenschaft und in ten wie die anderen Autokraten den Medien, allerdings eine Aufoder Möchtegern-Autokraten eifassung, die ihrerseits die Prinzines neuen, illiberalen Cäsarismus pien moderner Wissenschaft unin der Türkei, in Polen, Ungarn, terläuft – und damit diejenigen Russland, in Frankreich, den Nievon pluralistischer Gesellschaft derlanden oder hierzulande ist und demokratischem VerfassungsAnti-Trump-Demonstranten in New York City Wahrheit abhängig von Macht. staat. Sie liefe auf Szientokratie Neben allem anderen kassiert diese Verknüpfung von hinaus, auf ein Zusammenleben nach ausschließlich wisMacht und Wahrheit eine, ja die entscheidende zivilisasenschaftlichen Kriterien. So verwechselt sie unzweideutige torische Errungenschaft unserer Geschichte seit der Frühen wissenschaftliche Fakten mit den aus ihnen zu ziehenden Neuzeit. Im Horror der religiösen Bürgerkriege des 16. und alternativen, ja oft ambivalenten gesellschaftlichen und 17. Jahrhunderts haben die europäischen Gesellschaften politischen Folgerungen. Sie verkennt, dass keineswegs gelernt, dass es – mit einer Formel des Staatsrechtlers Ernstfür alle dasselbe evident ist. Sie sieht politische Macht Wolfgang Böckenförde gesagt – nicht allein auf das „Leben durch Wahrheit anstatt durch Mehrheit und Verfassung lein der Wahrheit“ ankommt, sondern auch auf das Leben gitimiert. Und gleich den Autokraten und Populisten, gegen in Frieden miteinander. Und man hat auf so windungsdie sie sich wenden will, ist sie antipluralistisch. wie rückschlagsreichen und blutigen Wegen verstanden, Für die pluralistische Gesellschaft also muss die Wisdiese Einsicht zur Grundlage pluralistischer Gesellschaften senschaft streiten, auch beim „March for Science“, und und demokratisch-konstitutioneller Staatlichkeit zu magegen vulgäre Forschungsfeinde wie autokratische Kritikchen. Hier ist den Bürgern gerade nicht abverlangt, sie verachtung. Sie ist nicht Inhaberin der Wahrheit, sondern müssten sich zu Wahrheiten „bekennen“, denn derer gibt Instanz der rational aufgeklärten, methodisch verlässlichen es stets zu viele. Vielmehr genügt der Gesetzesgehorsam. Suche danach. Als solche Instanz weiß sie, dass ihr Wissen Unser Zusammenleben beruht hierauf: Wahrheitssuche, nie endgültig ist und dass sie informieren, aber kollektiv auch die der Wissenschaften, muss von Machtzwängen bindende Entscheidungen nicht selbst treffen kann. Und freigesetzt sein. Umgekehrt ist staatliche Machtausübung allein wenn sie sich in dieser Weise ernst nimmt, kann sie gerade nicht an Wahrheitsbesitz gebunden, sondern an dazu beitragen, dass die Unterscheidung von Wahrheit Mehrheit und Verfassung. Im demokratischen Entscheiund Lüge auch in Zukunft auf Sachfragen bezogen wird dungsprozess sind die jeweils Unterlegenen nicht als Anund nicht auf Machtfragen. dersdenkende aus-, sondern vielmehr als jene Minderheit eingeschlossen, welche bei einer nächsten Entscheidung Strohschneider, 61, ist Mediävist und Präsident der Deutschen ihrerseits die Mehrheit stellen mag. Forschungsgemeinschaft. DER SPIEGEL 16 / 2017
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KEN RICHARDSON
LUKE THOMPSON / CHISHOLM LAB AND NIKKI WATSON / WHITEHEAD / MIT
Prochlorococcus-Zellen*, Mikrobiologin Chisholm: Es war, als hätte sich die Wüste als Grasland erwiesen
Die Weltverbesserer
Meeresbiologie Eine US-Forscherin untersucht eines der kleinsten Geschöpfe der Erde. Und stellt dabei fest: Kein Lebewesen hatte einen größeren Einfluss auf das irdische Ökosystem.
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amit sich die Mikroben im Labor von Penny Chisholm wohlfühlen, ordert die Forscherin eigens Wasser aus der Sargassosee. „Das mögen sie am liebsten“, sagt sie. Niemand kennt den kleinen Meeresorganismus namens Prochlorococcus so gut wie Chisholm. Alles in den Kulturkammern ihres Labors am Massachusetts Institute of Technology (MIT) ist darauf ausgerichtet, es dieser Mikrobe bequem zu machen. Die Temperatur halten die Forscher auf subtropischen 23 Grad konstant; mit feinen Drahtnetzen kontrollieren sie, wie viel Licht in die Teströhrchen fällt. Der Aufwand hat seinen Grund. Denn Prochlorococcus, ein sogenanntes Cyanobakterium, zählt nicht zu den gewöhnlichen seiner Art. Zu klein, als dass es unter dem Lichtmikroskop zu sehen wäre, ist es * Elektronenmikroskopische Aufnahme.
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ein Minimalwesen, das nur das Nötigste zum Leben besitzt, und zugleich ein Hungerkünstler, der von fast nichts als Licht zu existieren vermag. Vor allem aber: Wohl kein anderes Lebewesen hat einen so großen Einfluss auf das Ökosystem Erde. Gerade hat Chisholms Mitarbeiter Rogier Braakman Forschungsergebnisse veröffentlicht, denen zufolge der biologische Reichtum der Meere maßgeblich auf dieser Mikrobe beruht. „Prochlorococcus hat seine Umwelt, den Ozean, maßgeblich mitgestaltet“, sagt er. So winzig und so unscheinbar ist dieses Bakterium, dass es lange Zeit unbemerkt blieb. Erst im Jahr 1988 analysierte Chisholm Ozeanwasser mithilfe eines sogenannten Durchflusszytometers und stellte fest, dass darin Fotosynthese betreibende Einzeller wimmelten. Ob vor Hawaii, Galápagos oder Bermuda – wo immer zwischen dem
40. Grad nördlicher und südlicher Breite sie fortan nach ihnen suchte, fand sie die Winzlinge im Wasser – in jedem Milliliter schwammen durchschnittlich 100 000 von ihnen. Prochlorococcus beherrscht selbst jene ausgedehnten Meeresregionen, die bis dahin als weitgehend unbelebte Ödnis galten. Fernab der Küsten, so hatten die Forscher gedacht, sei der Ozean zu nährstoffarm, als dass Leben gut darin gedeihen könnte. Chisholms Entdeckung änderte das radikal: Es war, als hätte sich die Wüste als Grasland erwiesen. Inzwischen weiß man, dass Prochlorococcus so weit verbreitet ist wie kein anderer fotosynthetisierender Organismus. Die Gesamtzahl dieser Einzeller wird auf 3 000 000 000 000 000 000 000 000 000 geschätzt – drei Quadrilliarden. Rund fünf Prozent allen Sauerstoffs, den wir atmen, wurde von ihnen erzeugt.
Wissenschaft
Es dauerte, bis es Chisholm und ihren noch weiter geht: Die Meeresmikrobe Mitarbeitern am MIT gelang, die heim- habe möglicherweise die wohl spektakulichen Regenten der Meere auch im Labor lärste Entwicklung in der Geschichte tierizu züchten. Inzwischen gedeihen ihre grün- schen Lebens in Gang gesetzt. Vor rund 540 Millionen Jahren explolich schimmernden Prochlorococcus-Kulturen. Chisholm hat studiert, wie sie sich er- dierte binnen eines erdgeschichtlichen Aunähren, vermehren und woran sie sterben. genblicks die Formenvielfalt der MeeresUnd sie hat das Erbgut Dutzender Stämme bewohner. Während zuvor wenig mobile entziffern lassen. Fast immer erlebte sie Weichkörpertiere dominierten, tauchten nun unvermittelt Kreaturen mit Beinen, dabei Überraschungen. Jeder Typ von Prochlorococcus, so Augen, Zähnen, Stacheln und Kiemen auf. scheint es, ist gewappnet, mit einer ande- All das geschah ungefähr zu der Zeit, als ren Art von Notlage fertig zu werden. Ei- Prochlorococcus und seine Verwandtschaft nige sind darauf spezialisiert, das trübe in den Meeren zu blühen begannen. BraakDämmerlicht in 150 Meter Tiefe auszunut- man mag das nicht für einen Zufall halten. Seiner Theorie zufolge wurde das evozen, andere sind Meister in der Minimierung ihres Phosphorbedarfs, oder sie gedei- lutionäre Feuerwerk von dem Sauerstoff hen auch bei akutem Eisenmangel. Gemein entfacht, der von den Winzlingen der Meeist ihnen allen die Fähigkeit zu darben: re gebildet wurde. Zwar seien diese nicht Prochlorococcus ist ein Meister im Haus- die Ersten gewesen, die Sauerstoff durch Fotosynthese herstellen konnten. Doch halten mit knappen Ressourcen. Insofern zählt diese Mikrobe zu den Ex- habe sich dieses Gas nie in größeren Mentremformen des Lebens, nur dass sie sich gen in der Atmosphäre anreichern können, nicht, wie andere Extremisten, in entlege- weil die fotosynthetisierenden Bakterien sich selbst eines Stoffes bene Winkel, etwa Schwefelraubten, den sie zum Leben quellen, Salz- oder AsphaltProchlorococcus brauchten: Eisen. seen, zurückgezogen hat. Die Nische von ProchloroBis zur Ankunft von Pro3 Quadrilliarden chlorococcus, coccus ist die unermessliche sagt Braakdieser Einzeller leben in Weite des Ozeans. man, sei die Flora der Meere warmen Meeresregionen. Chisholms Mitarbeiter in einer Art Teufelskreis geBraakman hat sich nun den fangen gewesen. Denn die Das sind Stammbaum dieser MikroFotosynthese funktioniert ben genauer angesehen und nur, wenn Eisen im Wasser über ihm eine faszinierende Gevorhanden ist. Sobald aber Exemplare pro Liter. schichte entlockt – eine Geder Sauerstoffgehalt einen schichte, die nicht nur vom gewissen Schwellenwert Sie sind Erzeuger von Werdegang dieser Bakterien überschritten hatte, reagierte erzählt, sondern auch davon, dieser mit dem im Ozean ge5% wie sie den Planeten veränlösten Eisen und ließ es als des atmosphärischen derten. eine Art Rost auf den MeeSauerstoffs. Vor gut 500 Millionen Jahresboden rieseln. Die Fotoren entstanden die Urahnen, synthese kam zum Stillstand. die das Geschlecht von Prochlorococcus Prochlorococcus änderte das: Sein Turbobegründeten. Durch Vergleich der heute stoffwechsel brachte genug organische lebenden Stämme konnte Braakman nach- Moleküle hervor, um das Eisen zu binden vollziehen, wie diese Bakterien die Ozea- und so fürs Leben weiterhin verfügbar zu ne erobert und dabei ihre asketische Le- halten. Das Gas, das für die Explosion tiebensweise über Jahrmillionen hin perfek- rischer Vielfalt notwendig war, konnte sich tioniert haben. Ihr Erbgut schrumpfte auf so in Luft und Wasser anreichern. ein Mindestmaß zusammen. Alles in der Als Nächstes will MIT-Biologin Chisholm molekularen Maschinerie war nun nur das Zusammenspiel von Prochlorococcus noch einem Ziel gewidmet: möglichst viel mit den anderen Mikroben der Meere Licht zu ernten, unter Verwendung von genauer untersuchen. Das, sagt sie, sei möglichst geringen Nährstoffmengen. entscheidend, um die ökologischen Rollen In der Folge steigerten die Heerscharen ganz zu verstehen. Vor allem zu einem von Prochlorococcus ihren Energieumsatz Bakterium namens SAR11 scheint Proimmer weiter und wandelten dabei immer chlorococcus ein inniges Verhältnis zu größere Mengen von Kohlendioxid in or- pflegen. ganische Materie um, die dann in tiefere Das zeigt sich auch bei den züchteriWasserschichten hinabregnete. Die Winz- schen Bemühungen im Labor. Lange Zeit linge im Oberflächenwasser kurbelten so hielt Chisholm nur Monokulturen in ihren die Produktivität der Ozeane an, so konnte Brutschränken. Jetzt zeigt sich zunehdie Biomasse wachsen und das immer kom- mend, dass Prochlorococcus in Gegenwart plexere Ökosystem der Weltmeere nähren. von SAR11 viel besser gedeiht: „Wirklich Braakman glaubt, dass die evolutionäre wohl fühlen sie sich nur miteinander“, sagt Bedeutung von Prochlorococcus sogar Chisholm. Johann Grolle
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Technik
teams für den Koblenzer Fahrradhersteller er sich einen tiefen Schnitt am Schienbein Canyon und plädiert für die rasche Ein- zu. Als Verursacher verdächtigte er die hinführung von Scheibenbremsen. Auch er- tere Bremsscheibe des Unfallgegners. Wie fahrene Fahrradkonstrukteure stimmen zu: eine Wurstschneidemaschine sei der Edel„Die Vorteile der Scheibenbremse sind stahldiskus bei der Kollision ins Fleisch des erwiesen“, sagt Bernhard Johanni, Chef- Athleten gedrungen. entwickler am Schweinfurter Standort des Es gab medizinische Untersuchungen, Komponentenanbieters Sram. Einziger aber keine eindeutigen Ergebnisse. AllSportgeräte Das Rennrad, Nachteil sei ein höheres Gewicht von etwa gemein kursiert die Überzeugung, dass Ikone einer Boomindustrie, fährt 400 Gramm; dieses lasse sich jedoch mit Kettenblätter mit ihren Zähnen weit anderen Leichtbaumaßnahmen kompen- gefährlichere Objekte sind und ein solches mit gestriger Technik. Jetzt soll da Profiräder mindestens 6,8 Kilo- Blatt auch Ventosos Verletzung hervores moderne Bremsen bekommen sieren, gramm wiegen müssen. gerufen haben könnte. Für weitere Tests – Athleten sind dagegen. Doch was hilft die Einigkeit der Experten, schrieb die UCI Scheiben mit abgestumpfwenn viele Fahrer und Sportfunktionäre ten Rändern vor, hob aber den generellen it dem Rennrad einen Alpenpass das anders sehen? Noch bis vor Kurzem Bann auf. Zum ersten Mal in der Geschichte des zu erklimmen mag schweißtrei- untersagte der internationale Radsportverbend sein. Die nachfolgende Tal- band UCI den Einsatz von Scheibenbrem- Radsports dürfen daher in diesem Jahr fahrt aber ist mitunter lebensgefährlich. sen bei Straßenrennen – aus Sicherheits- Rennräder mit Scheibenbremsen an den Großereignissen Giro d’Italia Profis erreichen bergab Geund Tour de France teilnehmen – schwindigkeiten von mehr als wenngleich Hunderte Fahrer, 80 Kilometern pro Stunde – mit vertreten durch die SportlerReifen, so dünn wie Wiener gewerkschaft CPA, noch immer Würstchen, und mit Bremsen, gegen den Einsatz protestieren. deren schlichtes FunktionsprinHauptkritikpunkt ist nun die Unzip sich seit Jahrzehnten kaum gleichheit im gemischten Feld: verändert hat: Zangenartig drüEs müsse erst Testläufe geben, cken sie ihre Backen gegen die zu denen alle Athleten mit der Flanken der Felge. gleichen Bremstechnik antreten. Gewöhnlichen FahrradnutCanyon-Entwickler Michael zern könnte die Effizienz solch Adomeit plädiert dennoch für musealer Mechanik genügen. die Einführung der ScheibenDoch ironischerweise sind gerabremse im gemischten Feld. de diese längst mit modernerer „Bei Autos im Straßenverkehr“, Technik unterwegs als die Profis sagt er, „hätte man ja sonst nieauf der Tour de France: Die hymals eine Innovation der Bremsdraulische Scheibenbremse, enttechnik einführen dürfen.“ Bald liehen aus dem Automobil- und erledige sich das Problem ohneMotorradbau, ist in der Fahrradhin, allein dadurch, dass das besproduktion zum Massenartikel sere System sich rasch durchgeworden und allen herkömmsetze – „im Rennsport und auf lichen Systemen weit überlegen. dem Amateurmarkt“. Sie arbeitet zuverlässig bei allen Hier wie dort lässt der techWitterungen, lässt sich besser nologische Durchbruch allerdosieren und überträgt weit hödings seit zwei Jahrzehnten auf here Kräfte. sich warten. Bereits 1996 hatte Bei der antiquierten Ausrüsder oberbayerische Technikpiotung der Profis kommt noch als nier Corratec ein erstes Rennrad Problem hinzu, dass die Felgen mit Scheibenbremsen präsenaus Kohlefaserwerkstoff bestetiert. „Es ist die überlegene hen, und der ist bei Nässe glatt Technik, das ist schon ewig wie Eis. Im Regen tut sich zuklar“, sagt Firmenchef Konrad nächst also fast nichts, dafür Irlbacher. Doch auch in seinem steigt die Bremswirkung nach Scheibenbremse am Rennrad: Schnitt ins Beinfleisch? Programm bleibt das bessere zehn Sekunden Trockenwischen abrupt und gewaltig. Mit solchen Tücken bedenken. Im Vordergrund standen nicht Modell ein Exot: Corratec hat zwölf Strarückständiger Technik muss dann ausge- etwa Zweifel an der Funktionstüchtigkeit ßenrenner im Angebot; nur einer verfügt rechnet ein Athlet zurechtkommen, der der Bremsen selbst. Es ging um mögliche über Scheibenbremsen. Irlbacher selbst fährt ein Modell mit kurz zuvor mit rasendem Puls den Pass er- Kollateralschäden. klommen hat. Fachleute sehen hier eine Im vergangenen Frühjahr, die UCI hatte maßgefertigtem Carbonrahmen und klasernste Gefahr. gerade erst den testweisen Renneinsatz der sischer Felgenbremse. „Es schaut einfach „Die schlechte Beherrschbarkeit der Scheibenbremsen genehmigt, zog sie kurz besser aus“, sagt er. Christian Wüst Bremse ist immer wieder Ursache von nach Saisonstart die Freigabe wieder zuVideo: Stürzen“, sagt Andreas Walzer, ehemaliger rück. Anlass war eine merkwürdige VerEine Frage der Bremse Rennfahrer und Olympiasieger. Es gelte letzung des spanischen Fahrers Francisco im Fahrerkreis jedoch als ehrenrührig, das Ventoso bei der Wettfahrt Paris–Roubaix. spiegel.de/sp162017rennrad zuzugeben. Walzer betreut heute Renn- Als er auf einen Vordermann prallte, zog oder in der App DER SPIEGEL
Die Tücken der Backen
THOMAS FREY / DER SPIEGEL
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Die exklusive Kino-Preview!
Die Preview-Aktion wird am Dienstag, dem 18.04.2017, stattfinden. Sie können zwei kostenlose Kinokarten – solange der Vorrat reicht – von Samstag, den 15.04.2017, 12 Uhr, bis Dienstag, den 18.04.2017, 18 Uhr, unter den angegebenen Telefonnummern reservieren. Achtung: Die Tickets sind nicht übertragbar. Missbrauch wird zur Anzeige gebracht. Wählen Sie die Hotline eines der aufgeführten Kinos. Sie erhalten eine vierstellige Eintrittsnummer und können Ihre Karten bis kurz vor Beginn der Vorführung abholen. Bei einer ausgebuchten Veranstaltung in Ihrer Stadt erhalten Sie eine entsprechende kurze Ansage.
Berlin Filmtheater am Friedrichshain Bötzowstraße 1 – 5 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 00*
Düsseldorf atelier-Kino im Savoy-Theater Graf-Adolf-Straße 47 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 01*
April Preview am 18. . April Kinostart am 20
Frankfurt am Main Harmonie Kinos Dreieichstraße 54 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 02*
Präsentiert von
Hamburg Passage Kino Mönckebergstraße 17 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 03*
Jetzt zwei kostenlose Karten reservieren. UNI SPIEGEL – das Magazin für Studierende.
Hannover
Kino am Raschplatz Raschplatz 5 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 04*
Köln Residenz Kaiser-Wilhelm-Ring 30 – 32 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 05*
THE FOUNDER Der Vertreter für Milchshake-Mixer Ray Kroc (Michael Keaton) hat Anfang der 1950er-Jahre nur äußerst mäßige Erfolge vorzuweisen. Trotzdem gibt der charismatische Vollblutverkäufer nicht auf und träumt den amerikanischen Traum. Als er zufällig von einem revolutionären Schnellrestaurant im kalifornischen San Bernardino hört, wittert er die Chance seines Lebens. Trotz anfänglichem Widerstand der Betreiber, der Brüder Mac (John Carroll Lynch) und Dick McDonald (Nick Offerman), gelingt es Ray durch Hartnäckigkeit und Raffinesse, die FranchiseRechte zu erwerben. Doch bis daraus ein erfolgreiches Fast-Food-Imperium werden kann, muss Ray noch unzählige Hindernisse aus dem Weg räumen und unliebsame Entscheidungen treffen … THE FOUNDER schildert die kontroverse Erfolgsgeschichte von Ray Kroc, der die McDonald’s Corporation gründete und als „Hamburger King“ in die Geschichte einging. Das „Time Magazine“ kürte ihn zu einer der 100 einflussreichsten Personen des 20. Jahrhunderts. www.TheFounder-Film.de
/TheFounder-Film
Leipzig
Passage Kinos Hainstraße 19a Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 06*
München
Rio Filmpalast Rosenheimer Straße 46 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 07*
Nürnberg
Cinecittà Gewerbemuseumsplatz 3 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 08*
Stuttgart Delphi Arthouse Kino Tübinger Straße 6 Beginn: 20.00 Uhr Hotline 0900 324 20 40 – 09* QR-Code scannen und Trailer ansehen.
* Mondia Media, 0,69 €/Min. aus dem dt. Festnetz; Mobilfunk ggf. abweichend.
Kino
Klamauk mit Flüchtlingen Mit grundsätzlich verdienstvollem Willen zur Komik erzählen zwei neue französische Spielfilme vom Umgang mit Fremden und Flüchtlingen. Der Regisseur Julien Rambaldi schildert nach einer wahren Geschichte in dem ruhigen Lehrstück Ein Dorf sieht schwarz, wie im Jahr 1975 ein Arzt aus dem Kongo (Marc Zinga) in einem französischen Kaff auf lustige Ängste und gehässige Ablehnung stößt. Sehr viel schriller zeigt der Komödienspezialist Philippe de Chauveron in dem Klamaukfilm Alles unter Kontrolle! zwei Abschiebepolizisten bei der Arbeit. Regelmäßig begleiten der von spanischen Einwanderern abstammende José (Ary Abittan) und sein Kollege
NS-Vergleiche
MATTHIAS BALK / DPA
„Hitler hätte Giftgas eingesetzt“ Andreas Wirsching,
57, Direktor des Instituts für Zeitgeschichte in München, über den verunglückten Auftritt des Trump-Sprechers Sean Spicer in Washington SPIEGEL: Spicer hat Assad mit
Hitler verglichen und behauptet, nicht einmal Hitler sei so tief gesunken, chemische Waffen einzusetzen. 116
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Was würden Sie ihm entgegnen? Wirsching: Dass Hitler nicht die geringsten Skrupel gehabt hätte, Giftgas einzusetzen – wie der Holocaust gezeigt hat. An der Front hat er nur aus taktischen Gründen darauf verzichtet. SPIEGEL: Was heißt das genau? Wirsching: Anders als der Erste Weltkrieg war der Zweite ein Bewegungskrieg. Da war das Risiko, dass auch die eigenen Truppen beim Einsatz von Giftgas gefährdet worden wären, viel zu groß.
Guy (Cyril Lecomte) abgewiesene Flüchtlinge nach Brazzaville oder Kabul, nun sollen sie einen besonders schlitzohrigen Kerl (Medi Sadoun), der sich als Algerier ausgibt, nach Afghanistan bringen – und landen nach einigen Turbulenzen überraschend auf Malta. Regisseur de Chauveron, dem mit „Monsieur Claude und seine Töchter“ ein Millionenhit gelang, setzt hier auf den Trottelhumor amerikanischer Klassiker wie „Police Academy“ und zelebriert eine märchenhafte Völkerverständigung. Drei herzlich doofe Männer jagen einander durch Hotelanlagen und Stripteasekneipen und finden sich gegenseitig dufte. So derb und dreist dieser Film Unfug treibt mit der Gier von Schleppern, männlichem Sexualnotstand und der Not unfreiwilliger Rückkehrer, so entschieden ist seine Botschaft: Europas Flüchtlingspolitik ist ein böser Witz. höb
SPIEGEL: In welchem Ausmaß besaß die Wehrmacht chemische Waffen? Wirsching: Es gab große Mengen von einsatzfähigem Giftgas, die IG Farben hatte zudem neue Gase für den Krieg entwickelt. SPIEGEL: Es heißt immer wieder, Hitler habe aus eigenen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg gelernt und deshalb auf den Giftgaseinsatz verzichtet. Wirsching: Das halte ich für eine Legende, die aus seiner Selbstdarstellung in „Mein Kampf“ stammt. Dort gehört die Schilderung seiner vorü-
bergehenden Blindheit nach einem Gasangriff zum Narrativ von der Geburtsstunde des Politikers Adolf Hitler. SPIEGEL: Wie kam es zum Giftgaseinsatz bei Euthanasie und Judenvernichtung? Wirsching: Das Team von Ärzten und NS-Funktionären, das mit dem Projekt T4 befasst war, also der Tötung von Behinderten, entschied sich erstmals für diese Methode, später wurde sie dann auch in den Vernichtungslagern eingesetzt. Der Vergleich Assads mit Hitler verharmlost den Holocaust. dy
PROKINO FILMVERLEIH
„Ein Dorf sieht schwarz“-Darsteller Zinga (hinten)
Kultur Serien
Eiskalt lächeln Hochgerüstet erscheinen die Mütter zum ersten Schultag ihrer Kinder, bewaffnet mit teuren Handtaschen, auf Stilettos balancierend und in Designermäntel gekleidet. Der Wettkampf ist eröffnet, es gilt, die eigenen Kinder lächelnd für die Schulkarriere in Stellung zu bringen. Damit sie später einmal so erfolgreich werden wie die eigenen Eltern. Die wohnen an der Küste Kaliforniens in Häusern mit Panoramafenstern zum Pazifik und Küchen, so groß, dass man rufen muss, um sich miteinander unterhalten zu können.
Hollywood
Mickymaus gegen Donald? Seit vielen Jahren unterstützen weite Teile der amerikanischen Filmindustrie die Demokratische Partei. Doch nachdem die Wahlkampfhilfe von Schauspielern und Regisseuren wie George Clooney oder Steven Spielberg für Hillary Clinton nicht zum Erfolg geführt hat, scheint Hollywood für die Präsidentschaftswahlen im Jahr 2020 einen Kandidaten aus den eigenen Reihen küren zu wollen: Bob Iger, Chef der Disney Company. Seit 2005 leitet der 66-Jährige den Unterhaltungskonzern und hat seinen Vertrag gerade bis Juli 2019 verlängert. Damit könnte er recht-
Die Serie Big Little Lies spielt in einer Welt, die vielen als Traumwelt gilt. Doch von der ersten Szene an wird das im Sonnenlicht funkelnde Leben als eiskaltes Arrangement entlarvt. Dahinter lauert Gewalt. Männer, die ihre Frauen schlagen; Frauen, die sich rücksichtslos rächen. Dass ein Mord geschieht, erscheint nur folgerichtig. Hauptdarstellerin Nicole Kidman ist so gut wie ewig nicht mehr, auch Reese Witherspoon und Laura Dern liefern furchterregende Mutterfiguren ab. „Big Little Lies“ läuft in Deutschland beim Pay-TV-Sender Sky und ist als Video-on-Demand bei vielen Anbietern erhältlich. clv
zeitig für die Vorwahlen der Demokraten zur Verfügung stehen. Iger, von Barack Obama 2010 in ein Beratergremium berufen, sagte dem Branchenmagazin „Hollywood Reporter“ vor Kurzem, in Hollywood würden ihn viele „bedrängen“, sich um die Präsidentschaft zu bewerben. Politisches und strategisches Geschick zeigte Iger schon als Disney-Chef, indem er viele Tochterunternehmen unter einem Dach vereinte und immer wieder zu neuen Rekordgewinnen führte. Donald Trump könnte Iger auf dem Weg nach Washington sogar helfen. Er hat bewiesen, dass man ins Weiße Haus gewählt werden kann, ohne je ein politisches Amt bekleidet zu haben. lob
VCG / GETTY IMAGES
Iger
Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Krokantes Glück Der Weihnachtsmann spielt in meiner Erinnerung keine glückliche Rolle. Ein apfelbäckiger, korpulenter älterer Herr in einem roten Bademantel mit flauschigen Revers in der Farbe seines Bartes auf einer Kutsche, die von Rentieren durch den Schnee gezogen wird, von Sternschnuppen wie Engeln begleitet und mit Geschenken beladen: Das war entschieden zu viel Durcheinander für meinen kindlichen Kopf. Zumal es ja auch noch das Christkind gab, das mit ihm in Konkurrenz stand und ebenso unentschieden dargestellt wurde – mal märchenhaft reich in bestickten Gewändern, dann wieder sterntalerhaft dürftig bekleidet, mal von dieser Welt, dann wieder eher Putto, irgendwie auch mit dem Jesuskinde verwandt, aber von mäanderndem Geschlecht: ein symbolisches Überangebot, das Bindung doch ziemlich erschwert. Zumal die Eltern ja ohnehin die Agenten der Vermittlung blieben, als Wunschzettel-Moderatoren, die mit der höheren Macht offenbar in Verbindung standen und ziemlich genau wussten, was die zur Heiligen Nacht noch organisieren könnte. Ostern hingegen: welch Übersicht und Freude! Sicher, auch eine Vermählung christlicher und heidnischer Traditionen, genealogisch also ein Hybrid, und in der figürlichen Besetzung (Jesus, Osterhase, Lamm und Hahn) verwirrend. Im Ablauf aber ein Familienfest, das eher an ein Picknick im Freundeskreis erinnert als an eine rituelle Veranstaltung, bei der in geschlossenen, sauerstoffarmen Räumen zu rätselhaftem Liedgut – entsprungen ist nicht ein Roß, sondern aus einer Wurzel namens Jesse ein Reis namens Maria, aus der ein Blümelein (Jesus) sprosst – schon bei den Buddenbrooks mehr gegessen und getrunken wurde, als der christliche Magen verträgt (nicht kuriert, aber doch sanft begleitet von der geheimnisvollen hausärztlichen Diätempfehlung „Taube und Franzbrot“). Vor allem aber entspannend zu Ostern: kein Diskurs über Gerechtigkeit. Und keine enttäuschten Wünsche. Nichts also von alldem, was in der erwachsenen Welt anlässlich von Steueroasen, Managerboni und Erbschaftsnovellen immer wieder reexerziert werden muss: dass das Zukurzkommen des einen der Überfluss des anderen ist, dass man nie kriegt, was man wirklich will (und wenn, dann ist es aus Plastik und geht nach zwei Tagen kaputt), und dass auf Erden, solange der Kapitalismus unwidersprochen regiert, Zufriedenheit eine Sünde ist wider den Möglichkeitssinn. Stattdessen ein Ausflug in die Allmende, das bukolische und moralische Paradies: Alle Eier, die je versteckt, werden auch sicher gefunden, von Jagdglück und Jubel begleitet, und dann kann friedlicher Tauschhandel walten, das Gepunktete und das Gestreifte, das Marzipane und das Krokante wechseln die Besitzer und werden gemeinsam verspeist. Hier herrscht kollektiver Überfluss, der festlich und einträchtig vernichtet wird, hier gibt es keinen Verpackungsmüll zu entsorgen, und hier lernt das Kind, was der Adulte vergisst. Erstens: Unter freiem Himmel ist das Leben schöner und der Mensch in aller Regel friedlicher. Zweitens: Verzehr ist seliger denn Besitz. Drittens: Die Orgie, wenn sie gelingen soll, bedarf der offenen Geselligkeit. An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und Nils Minkmar im Wechsel.
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Zeitgeist Ist in den USA die Demokratie in Gefahr? Das kulturelle Establishment des Landes schwankt zwischen Gelassenheit und Alarmismus. Ein Besuch bei Schriftstellern und Intellektuellen der Ostküste. Von Lothar Gorris
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r heiße Don, sagt er. Vielleicht ein kleiner Scherz, Don wie Donald, vielleicht nicht. Morgens oder abends, manchmal in zwei Schichten, sitzt er mitten auf der ziemlich breiten, in diesem Abschnitt für Autos gesperrten Pennsylvania Avenue in Washington, wo sich die Touristen vor dem Weißen Haus fotografieren, und demonstriert gegen den Präsidenten der Vereinigten Staaten. Neben ihm ein Karren mit einem nicht allzu großen Rucksack. Am Karren lehnt ein Schild: „No!“, steht dort, „Stop Trump/Pence“ und „No Fascist USA“. Vor ihm auf dem Pflaster eine Art Schemel oder Eimer aus schwarzem Plastik, auf dem er mit zwei Stangen trommelt. Ein, zwei Stunden lang am Tag, seit dem 13. Januar, eine Woche vor der Inauguration. Bis zum Weißen Haus sind es nur hundert Meter, Dons Trommel ist laut, man hört ihn ziemlich weit entfernt. „Ich habe schon das Gefühl, dass das etwas bringt“, sagt Don. „Er ist immer öfter nicht im Weißen Haus.“ Er sagt auch, dass er 67 Jahre alt sei. Ein Vollbart verdeckt die Spuren eines Lebens auf der Straße, die Stimme aber klingt frisch und gut gelaunt. Die Nächte verbringt er irgendwo in der Vorstadt oder im Schatten des Weltbank-Gebäudes, nur zwei Blocks vom Weißen Haus entfernt. Manchmal scherzt er mit den Beamten vom Secret Service, die, mit Gewehr und WIE RETTET MAN DIE DEMOKRATIE? LEKTION 1
LEISTE KEINEN VORAUSEILENDEN GEHORSAM! Aus Timothy Snyders Buch „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“ (C. H. Beck; 128 Seiten; 10 Euro)
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Schussweste, den Zaun bewachen, aber es wirkt so, als achteten sie eher auf die Touristen. Entweder verbirgt der faschistische Repressionsapparat seine hässliche Fratze, oder sie halten Don, den Tramp, den Landstreicher, für nicht so richtig gefährlich. Auch nur so eine verlorene Seele. Einer, der den Hippietraum von der Freiheit vielleicht zu wörtlich genommen hat und den Weg zurück ins bürgerliche Leben nicht mehr schafft. Aber wie Don da auf der Pennsylvania Avenue bester Laune vor sich hin trommelt, ist er die Speerspitze des Volkes gegen diesen Präsidenten, ein Widerstand, von dem man nicht genau weiß, ob die revolutionären Massen nur noch auf ein Zeichen Dons warten für den Sturm auf das Weiße Haus. Zurzeit macht Don einen eher einsamen Eindruck. Das „No!“-Plakat kommt von einer Organisation namens RefuseFascism, einer Truppe versprengter Maoisten, vermutlich war in ihren Augen sogar Barack Obama ein Agent der weltweiten faschistischen Verschwörung. Mit dem Faschismus ist das so eine Sache. In den Demokratien des Westens ist der Vorwurf in den vergangenen Jahrzehnten ein paarmal zu oft benutzt worden, als dass man ihn noch hätte ernst nehmen können. Andererseits: Wäre er erst mal da, der Faschismus, hätte man kaum eine Chance mehr, dann wäre es zu spät. Es gibt Stimmen unter Amerikas Intellektuellen, die ernsthaft vor einer Autokratie oder dem beginnenden Faschismus warnen. Linksliberale wie der Schriftsteller Dave Eggers oder der Filmemacher Michael Moore, aber auch Konservative wie der Politologe Robert Kagan, Anfang der Nullerjahre einer der Chefideologen der Neocons, oder der Publizist David Frum, der als Redenschreiber für George W. Bush den Begriff von der „Achse des Bösen“ geprägt hat. Was also, wenn Don the Tramp gar nicht so verwirrt ist, sondern das Richtige tut?
JÜRGEN FRANK / DER SPIEGEL
Geschichte wird gemacht
SIPA PRESS / ACTION PRESS
Kultur
Autoren Grisham, Wolfe (r.), Snyder:
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der ist es Zeit für Gelassenheit? Im 14. Stock in der 79. Straße in Manhattan, der Blick hinaus auf den Central Park, fühlen sich Leben und Wirklichkeit und Donald Trump ein wenig anders an. Feinste Upper Eastside, das Metropolitan Museum of Art um die Ecke, nebenan bewohnt der ehemalige Bürgermeister und Milliardär Michael Bloomberg zwei Townhouses, gegenüber hat die School of Practical Philosophy ihren Sitz, die den wohlhabenden, aber etwas gelangweilten Menschen dieser Gegend mit Platon, Buddha und indischen Meistern zu Glück und Freiheit verhelfen will.
MARCO GROB / DER SPIEGEL
„Irgendwie gibt Trump der Sache einen anderen Dreh“
Der Schriftsteller Tom Wolfe lebt hier seit den Neunzigerjahren. Er ist jetzt 86 Jahre alt. Ein Meister der Gelassenheit und des Spotts, der die Welt als Spektakel betrachtet. Eine verrückte Welt, in der sich jeder um sich selbst kümmert. Um das kämpft und fürchtet, was er erreicht hat, und um das, was er noch will. Statuskämpfe, das sei es, was diese Welt antreibe, es ist der Stoff für Wolfes Bücher. Sie haben ihn berühmt und wohlhabend gemacht, und er zeigt gern, was er hat. Im 14. Stock öffnet sich der Aufzug in den Flur der Wohnung, wo Tom Wolfe, wie immer als Tom Wolfe verkleidet, wartet. „Ich bin“, wird
er später sagen, „nicht politisch. War ich nie. Politisch werde ich erst, wenn die Hunnen zwei Blocks entfernt stehen.“ Der Satz gehört zum Standardrepertoire von Tom Wolfe wie der weiße Anzug zu seinem Südstaaten-Dandytum. Der Trump Tower steht 22 Blocks weiter südlich. Er war lange nur ein ziemlich hässliches Symbol neureicher Protzerei, nun ist er so etwas wie das Zentrum der dunklen Macht. Sollten sich die Hunnen hier verstecken, brauchten sie nur einen kleinen Spaziergang die Fifth Avenue hoch zu machen, und Tom Wolfe müsste endlich politisch werden. Gott bewahre.
Kurz vor den Wahlen im vergangenen Jahr hat er nach längerer Zeit ein neues Buch veröffentlicht. Diesmal ist es kein Roman, sondern ein Sachbuch. Es liest sich wie aus einer Zeit, als der Witz mit den Hunnen noch ein Witz war. „Das Königreich der Sprache“ beschäftigt sich mit der nicht sonderlich drängenden Frage, was Sprache ist und was Menschen dazu befähigt, sprechen zu können*. Wolfe selbst hat auch keine Antwort, aber das ist egal. Ihm ging es immer darum, sich * Tom Wolfe: „Das Königreich der Sprache“. Blessing; 224 Seiten; 19,99 Euro. DER SPIEGEL 16 / 2017
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über die Säulenheiligen der modernen Welt lustig zu machen. In diesem Fall über Charles Darwin, der die Theorie der Evolution begründete, und über Noam Chomsky, den weltberühmten Linguisten. Um es kurz zu sagen: beides Blender für Wolfe. Die Theorie Darwins, dass der Mensch ein Produkt der Evolution sei, die Theorie Chomskys, dass es ein Sprachorgan im Hirn gebe und allen Menschen eine universelle Grammatik innewohne, alles nur wilde Thesen. Es gab ziemlich Ärger, als das Buch erschien, die Verkäufe sind schwach. Für Wolfe ist vor allem Chomsky eine Art Prototyp des modernen, linken Intellektuellen, kein Wissenschaftler, sondern ein politischer Agitator. Intellektuelle, sagt Wolfe, zeichneten sich dadurch aus, dass sie vor allem über Dinge sprechen, von denen sie keine Ahnung haben. Über Politik beispielsweise. Sie entrüsteten sich, so hat er es mal in einem Essay beschrieben, ständig über diese „puritanische“ oder „repressive“ oder „faschistische“ Nation, für die inzwischen verstorbene New Yorker Großdenkerin Susan Sontag sei sogar „die weiße Rasse das Krebsgeschwür der Menschheitsgeschichte“. Totaler Schwachsinn, schlimmer aber noch sei ihr Prosastil, auf dem eine gültige Behindertenplakette klebe. Moralische Entrüstung, zitiert Wolfe den von ihm bewunderten Medientheoretiker Marshall McLuhan, sei die Würde der Idioten. Als das Buch erschien, hatte Trump die Wahl noch nicht gewonnen, auch Wolfe rechnete nicht mit seinem Sieg, obwohl er von Hillary Clinton genauso wenig LEKTION 2
VERTEIDIGE DIE INSTITUTIONEN! hielt. Sie sei, sagt er, längst nicht so charmant wie ihr Ehemann, und Humor gehöre auch nicht zu ihren Stärken. „Eine ziemlich zwielichtige und abstoßende Figur.“ Am Wahlabend dann lud Wolfe sechs Freunde ein. Als Clintons Niederlage feststand, glaubten die Freunde, dies wäre das Ende der Welt. „Sie meinten das wirklich ernst.“ Tom Wolfe hat sich öffentlich bekannt, George W. Bush die Stimme gegeben zu haben. Als Student in Yale beschäftigte er sich mit dem Einfluss der Kommunistischen Partei auf Amerikas Schriftsteller der Dreißiger- und Vierzigerjahre. Für Intellektuelle wie John Updike und Norman Mailer war er ein Rechter. Wolfes Spiel war es, der Außenseiter zu sein. Die Welt mit anderen Augen zu sehen als alle anderen, das ist ein guter Trick. Es war die Perspektive des 120
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greifen. Noch glaubt er an die Stabilität des Landes. Aber Zweifel gibt es, auch Sorgen, darum, was so passieren könnte. Korea. Russland. Syrien. „Aber jetzt gleich Faschismus? Geht es nicht ein bisschen kleiner?“ Seit Längerem sammelt er Material für ein neues Buch. Einen Titel hat es bereits: „Joy of Anger“, Freude an der Wut. EiLEKTION 3 gentlich ein Buch über politische Korrektheit, über die Sitten und Gebräuche im HÜTE DICH VOR modernen Akademia. Über Statuskämpfe, Rassismus und weiße Schuldgefühle, über DEM EINPARTEIENtrigger warnings und safe spaces, über ReSTAAT! defreiheit und Tugendterror. Eigentlich ein Tom-Wolfe-Buch wie immer. Aber jetzt? Außenseiter sein, immer, jederzeit, aber bewusstsein der weißen, liberalen Ober- sich auf die ganz falsche Seite schlagen, schicht und Selbsterhebung über jeden und auf die Seite der Trumps und Bannons? alles. Die Wohnung Bernsteins, in der „Irgendwie“, sagt er, „gibt Trump der Sadie Party stattfand, liegt übrigens in der- che einen anderen Dreh.“ selben Straße, in der Wolfe heute lebt, keine 150 Meter entfernt. So weit hat Wolfe uch John Grisham hatte am Wahles gebracht. Allerdings ist er näher dran abend Freunde zu sich nach Hause am Central Park. Klarer Statussieg. eingeladen, auf seine Plantage in In Wolfes Roman „Ein ganzer Kerl“ be- der Nähe von Charlottesville in Virginia. schreibt er den Niedergang des pleitege- Thomas Jefferson hat hier, keine halbe henden Immobilienmoguls Charlie Croker, Autostunde entfernt, vor mehr als 200 Jahder seinen Namen an die von ihm errich- ren auf seinem Anwesen Monticello die teten Hochhäuser anbringen lässt, sich mit Unabhängigkeitserklärung verfasst und einer jungen weiblichen Trophäe schmückt den Mythos Amerikas als Heimat der Freiund in seinem Königreich Witze über heit erfunden. Schwule, Frauen und Schwarze macht, wie Eine Siegesparty sollte es werden. „A es ihm gefällt. Ein Glücksritter, der seinen landslide win“, ein Erdrutschsieg für ClinAufstieg seinen Tricks und Deals verdankt ton, natürlich. Aber bald schon wackelten und trotz allen Besitzes und aller Berühmt- die Swing States, und auch Virginia waheit immer noch nach Anerkennung lechzt ckelte. „Niemand von uns hat das vorausund nur darauf schaut, was andere von gesehen. Wir dachten, wir leben hier, wir ihm halten. Ein Megalomaniker, ein Grö- dachten, wir wissen, was hier los ist.“ ßenwahnsinniger, der an etwas glaubt, was Im Frühjahr noch hatte Grisham gehofft, unvereinbar ist mit überprüfbarer Realität. dass die Republikaner Trump nominieren, Aber Donald Trump ist keine Roman- weil das den Sieg Clintons garantieren würfigur von Tom Wolfe, obwohl man durch- de. Nun fiel ihnen, sagt Grisham, der Himaus den Eindruck haben könnte. Die Wirk- mel auf den Kopf. Das Ende der Welt. „Ich lichkeit ist zu groß und zu kompliziert, um war deprimiert. Und ich war wütend, auf sie zu erfinden, wenn überhaupt, ist es Bekannte und Verwandte, die für die Reeher umgekehrt. Die Wirklichkeit selbst publikaner gestimmt haben. Sie haben verfunktioniert längst wie eine Realityshow, sagt. Wissen Sie, Amerikaner sprechen priintrigant, böse, chaotisch, ein Kampf jeder vat niemals über Politik, und wahrscheingegen jeden, Wirklichkeit wird produziert, lich ist das richtig so. Weil es toxisch ist. auch wenn es nur Fiktionen sind. Ihre Hel- Und weil jetzt alles eskalieren würde. Also den sind grob und aggressiv, Amateure, reden wir über etwas anderes.“ die zur Karikatur ihrer selbst werden. HeiGrisham ist 62 Jahre alt und auf interesdi Klum immerhin hat bislang nicht vor, sante Weise ein zugleich angenehmer, deKanzlerin zu werden. mutsvoller Mensch, der aktiv in einer libe„Ich habe schon immer gesagt, dass die ralen Baptistengemeinde ist, aber durchaus Fiktion der Wirklichkeit unterlegen ist. den Furor der Aufklärung in sich trägt. Was alles möglich ist, was alles passieren Wahrscheinlich braucht man den, um aus kann, was Menschen sich einfallen lassen, einem leeren, weißen Blatt Papier in 30 was sie sagen, was sie tun. Das alles ist Jahren eine Gesamtauflage von fast 300 nur selten langweilig. Donald Trump kann Millionen Büchern zu machen. Lange man sich nicht einfallen lassen. Er ist eine schon gehört er zum demokratischen fantastische Figur.“ Establishment, spendet Millionen für die Noch sind die Hunnen erst in der 57. Stra- Opfer des Wirbelsturms Katrina, unterße. Noch hat Wolfe keinen Grund, den stützt den Wahlkampf demokratischer 14. Stock am Central Park zu verlassen Kandidaten. Genau zu dem Establishment, und die Welt nicht mehr als Satire zu be- das nicht so richtig mitbekommen hat, wie Hinterwäldlers auf diese Klasse von Schriftstellern, Denkern, Intellektuellen. Für eine seiner berühmtesten Geschichten hatte er sich 1970 auf eine Party von Leonard Bernstein zu Ehren der Black Panthers eingeschlichen. In „Radical Chic“ beschreibt er diese Mischung aus Schuld-
A
CHRISTIAN PETERSEN / AFP
Kunstplakat in Phoenix, Arizona: Der Himmel fiel ihnen auf den Kopf
groß die Wut und der Hass sind und wie verheerend die Armut in Teilen des Landes ist. Bill Clinton und er, beide in Arkansas geboren, sind entfernte Cousins. Im März vergangenen Jahres veranstaltete Grisham auf seiner Plantage ein Spendendinner für Hillary Clinton. Jeder Gast musste 2700 Dollar bezahlen, als Mitgastgeber waren es 27 000 Dollar. Hillary Clinton sei tatsächlich eine warmherzige, lustige Frau, aber sobald sie auf einer Bühne stehe, werde sie steif und unnahbar. Wie viel Abneigung sie aber hervorgerufen habe, das sei überraschend gewesen. LEKTION 4
ÜBERNIMM VERANTWORTUNG FÜR DAS ANTLITZ DER WELT! Kurz vor Weihnachten hatte Clinton Grisham und seine Ehefrau Renée zu ihrem Abschiedsdinner für 200 Unterstützer im New Yorker Plaza Hotel am Central Park eingeladen. „Es war“, sagt Grisham, „eine Beerdigung. Mal im Ernst, wer geht da gern hin? Der Trump Tower um die Ecke, die Wahl verloren, aber meine Frau wollte unbedingt. Spaß hat das nicht ge-
macht. Wir haben kurz mit Bill und Hillary gesprochen. Das war es.“ In diesen Tagen ist ein neuer Justizthriller von Grisham in Deutschland erschienen: „Bestechung“*. Diesmal geht es um eine korrupte Richterin in Florida, wo Bürger sogar ihre Richter wählen. Den Wahlkampf hat sie sich von einer Bande krimineller Immobilienentwickler finanzieren lassen, denen sie nun dienen muss und dafür ein Leben führen kann, das ihr Gehalt als Richterin nie decken könnte. Und natürlich geht es um Leben und Tod. 24 Justizthriller hat Grisham seit 1988 veröffentlicht. Seine Frau fragt ihn manchmal, ob er nicht endlich aufhören wolle mit dem Predigen. Der amerikanische Rechtsstaat in Grishams Version? Korrupte Richter, selbst in den Supreme Courts, Kleinganoven als Anwälte, mafiotische Großkanzleien, Justiz und Polizei rassistisch, Konzerne und CIA/FBI als Strippenzieher, Präsidenten und Senatoren ihre Marionetten. Und am Ende siegt oft das Böse. Wer nur ein paar seiner Thriller gelesen hat, muss den amerikanischen Rechtsstaat für einen Unrechtsstaat halten. Grisham sagt, dass eine Demokratie korrupt sei, in der die Hälfte der Bevölkerung nicht wählt und die andere Hälfte sich nur für Politiker entscheiden kann, deren Wahl* John Grisham: „Bestechung“. Aus dem Englischen von Kristina Dorn-Ruhl, Bea Reiter, Imke Walsh-Araya. Heyne; 448 Seiten; 22,99 Euro.
kämpfe von Interessengruppen und Konzernen in unbeschränkter Höhe unterstützt werden und die deswegen nicht denen verpflichtet sind, die sie gewählt haben, sonLEKTION 7
SEI BEDÄCHTIG, WENN DU EINE WAFFE TRAGEN DARFST! dern jenen, die sie finanzieren. Eine Demokratie, die die größte Gefängnispopulation der Welt hat, ihre Gefängnisse privatisiert, in denen die meisten wegen geringfügiger Drogendelikte einsitzen, ihre Bürgerrechte verlieren, in einigen Bundesstaaten auch nach der Entlassung, und die zum allergrößten Teil Schwarze sind. Ein frommer Radikaler. Sein Leben, hat Grisham einmal gesagt, basiere auf Glauben und Moral. „Trump ist ein schlechter Mensch, und ich habe nichts gesehen in den vergangenen Wochen, das mir Hoffnung gibt. Er wird, wenn es erst zur einer echten Krise kommt, nicht das Richtige tun. Davon bin ich überzeugt.“ Als junger Mann saß Grisham sieben Jahre lang als Abgeordneter für die Demokraten im Repräsentantenhaus von Mississippi. Sein Wahlkampf: 5000 Dollar für DER SPIEGEL 16 / 2017
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OLIVIER DOULIERY / DER SPIEGEL
Landstreicher Don in Washington: Speerspitze des Widerstands
T-Shirts, Poster, Gartenschilder. Und dann von Tür zu Tür. Hallo, ich bin John Grisham. Als er schließlich in Jackson, Mississippi, im Capitol saß, als blutiger Anfänger, fern seiner Familie, mochte er es vom ersten Tag an nicht. Nach sieben Jahren hörte er vorzeitig auf. Die Demokraten in Mississippi hatten wie in vielen anderen Südstaaten nicht unbedingt revolutionäres Potenzial. Vor zwei Jahren wurde er von den Demokraten gefragt, ob er nicht für den Senat kandidieren wolle. Man sei, sagt Grisham, ganz offensichtlich auf der Suche nach jemandem mit großem Namen gewesen, der seinen Wahlkampf selbst finanziert. „Ich sagte: ‚Come on, lass uns hier keine Zeit vergeuden. Mein Leben ist viel zu gut. Warum sollte ich es in Washington ruinieren?‘ Wir haben dann gemeinsam einen Drink genommen und gelacht. Das war es.“ Daran hat sich auch nach der Niederlage Clintons nichts geändert. Beängstigende Zeiten, sagt Grisham. Bislang aber sei so viel nicht geschehen. „Die Wahl Trumps ist eine Tragödie. Der Sturm wird Schaden anrichten, aber er wird dieses Land nicht verwüsten.“ Und so vertraut Grisham erst mal den Institutionen, die er in seinen Thrillern längst vernichtet hat.
S
eit drei Monaten sitzt Donald Trump im Weißen Haus. Man kann nicht sagen, dass nun Profis das Land führten, aber so war es gewollt von seinen Wählern. Demokratie ist eine komplizierte
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Sache, und nun erweist sich der Präsident als Amateur, als failing president. Die Lügen und die Tweets, der Travel Ban und Obamacare, mal gegen China und für Russland, mal für China und gegen Russland, mal isolationistisch, mal interventionistisch, Drohungen an Nordkorea, IS, Assad. Bomben auf Syrien als Vergeltungsshow, auf Twitter erklärt. Politik nach Tagesstimmung. Unberechenbar, so nennt Russland diesen Präsidenten, und mag von dort oft Falsches kommen, dies ist es nicht. LEKTION 10
GLAUBE AN DIE WAHRHEIT! Andererseits: Die Demokratie funktioniert. Die Gerichte agieren unabhängig. Die vierte Gewalt, so lange geschmäht, blüht. Die Demokraten wehren sich, sogar einige Republikaner, und ausgerechnet FBI und NSA, die Schurken schlechthin und nun im Widerspruch zum Präsidenten, erweisen sich als Helden des von Rechten so verhassten, widerstandsfähigen deep state. Timothy Snyder ist Professor für Osteuropäische Geschichte in Yale, einer der berühmtesten Universitäten des Landes. Der Campus sieht aus wie ein „Harry Potter“-Film, die Gediegenheit Englands und der Ostküste, Wohlstand, Bildung, Kultur.
Es muss das Paradies sein, hier studieren zu dürfen oder Professor zu sein. Snyders Institut für Osteuropäische Geschichte ist in einer Großbürgervilla aus dem 19. Jahrhundert untergebracht. Die Bibliothek und der Sitzungssaal aus dunklem Holz, im Flur eine gendermäßig nicht festgelegte Unisex-Toilette. Snyder ist in der Nacht zuvor aus Washington zurückgekehrt und legt sich erst mal auf die Ledercouch in seinem Eckzimmer im ersten Stock. Er ist ein wenig am Limit. In Washington hat er sein neues Buch vorgestellt, das wagt, was ein Professor normalerweise nicht tut. Das Pamphlet eines politischen Aktivisten: „Über Tyrannei. Zwanzig Lektionen für den Widerstand“. Es beginnt mit dem Satz: „Geschichte wiederholt sich nicht, aber wir können aus ihr lernen.“ Die letzte Lektion lautet: „Sei so mutig wie möglich. Wenn niemand von uns bereit ist, für die Freiheit zu sterben, dann werden wir alle unter der Tyrannei umkommen.“ Junge, Junge. „Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam.“ „Übernimm Verantwortung für das Antlitz der Welt.“ „Nimm Blickkontakt auf, und unterhalte dich mit anderen.“ „Engagiere dich für einen guten Zweck.“ „Lerne von Gleichgesinnten in anderen Ländern.“ Oder auch: „Achte auf gefährliche Wörter.“ So heißen ein paar von Snyders Lektionen, sie klingen, als stammten sie aus irgendeinem Antifa-Handbuch, das Jugendliche mit verfilzten Rastalocken und abgerockten Turnschuhen in der Fuß-
Kultur
gängerzone einer Kleinstadt mit sich herum- sagt, nicht auch gleichzeitig „Attentat“ tragen wie einen Ausweis ihrer richtigen und „Tyrannenmord“ sagen? „Wenn“, so Gesinnung und zum Schrecken der Spießer. Snyder, weiterhin auf der Couch liegend, Spätpubertierende dürfen alarmistisch, „nur eine Seite bereit ist, Gewalt anzuwenhysterisch sein, müssen es sogar. Aber ein den, und die andere überzeugt davon ist, Professor in Yale? Snyder ist Jahrgang 1969, dass sie moralisch versagt, wenn sie Geer kommt aus dem Südwesten Ohios, pro- walt anwendet, dann wird sie sicherlich moviert in Oxford, Stipendiat in Paris, verlieren.“ Und dann erwähnt er einen Bericht in der „Washington Post“ über den steigenden Anteil von Frauen und MinderLEKTION 13 heiten unter den Waffenkäufern. „Ich bin“, sagt er, „linker und radikaler PRAKTIZIERE als die meisten Amerikaner. Aber wissen Sie, das Leben und die Wirklichkeit sind PHYSISCHE POLITIK! noch viel radikaler. Für mich ist dieses Land eine Demokratie mit oligarchischen Harvard, Warschau, er spricht Französisch, Zügen auf dem Weg in eine Oligarchie mit Deutsch, Polnisch und Ukrainisch, versteht demokratischen Zügen.“ Faschismus und Tyrannei, sagt Snyder, Hebräisch, Russisch, Tschechisch und noch einiges mehr. Er hat in Krakau geheiratet müssten nicht heißen: Hakenkreuze, sechs und fast zehn Jahre lang in Europa gelebt. Millionen ermordete Juden. „Trump und Seine beiden bekanntesten Bücher, diese Leute sind nicht so weit, dass man „Bloodlands“ über die Verwüstungen des sie Faschisten nennen kann. Aber sie wolStalinismus und des Nationalsozialismus len einen Regime-Change. Insofern muss in Osteuropa und „Black Earth“ über den man jetzt friedliche Mittel nutzen, um den Holocaust in Osteuropa, wurden weltweit Regimewechsel zu verhindern: Demonstrationen, Klagen, Öffentlichkeit.“ veröffentlicht. Unter Kollegen, vor allem in Europa, Am Wahlabend war Snyder noch nicht mal in den USA, sondern in Schweden. gilt Professor Snyder als jemand, der die Auf dem Rückflug in die USA fragte er Geschichte zu sehr aus der Gegenwart sich, was jetzt zu tun sei. Am 16. Novem- heraus beschreibt, zu leicht und feuilletober, acht Tage nach der Wahl, postete er nistisch. „Mir wurde nun vorgeworfen, auf Facebook bereits 20 Lektionen aus der dass ich übertreibe, aber manchmal muss Geschichte des 20. Jahrhunderts, die er man etwas riskieren, auch auf die Gefahr nun ausführlich erläutert als Buch veröf- hin, dass ich falschliege. Hätte ich gewartet, fentlicht hat. Amerikaner, schrieb er, seien bis ich mir absolut sicher bin, hätte ich es nicht klüger als die Europäer, die ja erlebt nie geschrieben. Und sollte ich mich irren, hätten, wie Demokratien sich Faschismus, dann sind die Lektionen, die dieses Buch Nationalsozialismus und Kommunismus empfiehlt, immer noch sinnvoll.“ Professor Snyder ist ein Mann, der auf ergaben. Nun sei es an der Zeit, aus den hohen Touren läuft. Alarmistisch, obsessiv. Erfahrungen Europas zu lernen. Ein paar Tage später veröffentlichte er Seit mehr als 20 Jahren beschäftigt er sich im Onlinemagazin Slate einen Artikel. Der mit der Geschichte Europas, hat gelesen Text beschreibt eine Überraschungswahl und gedacht und geschrieben wie ein Ostim November eines ungenannten Jahres: europäer. Seine Lektionen nun seien eine die Stimmenmehrheit der Linken, die Ko- Art von „Homecoming“, von „Amerikaalition aus alten und neuen Rechten, den nisierung“. Beeinflusst von seinen „LehGlauben der Eliten, dass die Institutionen rern“, wie er es nennt, Philosophen, der Demokratie und der Rechtsstaat sie Schriftstellern, Politikern, die in autoritäschützen werden. Die Rhetorik des charismatischen Herrschers, der die Nation als Opfer einer Verschwörung sieht und sich LEKTION 17 als Stimme des Volkes und weiß, wie man ACHTE AUF GEFÄHRMassenmedien nutzt, um Wahrheit durch Lügen zu ersetzen. Nach einem Terroran- LICHE WÖRTER! schlag, dessen Urheberschaft ungeklärt bleibt, ruft er den Ausnahmezustand aus, ohne ihn je wieder aufzuheben. Das Land ren Regimes gelebt haben wie unter Toten zieht bald in einen Krieg, Millionen un- und die, so sagt er es, „wissen, wann es Zeit ist, sich politisch zu engagieren“. Geschuldiger Zivilisten werden ermordet. Der Text erwähnt keine Namen, nicht prägt auch von einer jüngeren Generation, das Land, nicht die Zeit, in der das alles die den Kommunismus nicht mehr erlebt geschieht. Aber es ist klar, dass es ein Text hat, in Russland, in Polen, in der Ukraine, genauso über Hitler ist wie über Donald und schließlich erfahren musste, wie demokratische Systeme geschwächt und die Trump und was aus ihm werden könnte. Junge, Junge. Snyder meint das ernst. Zeit zurückgedreht werden kann. Seine Aber muss, wer „Hitler“ und „Tyrann“ Erkenntnis aus seinem Wissen, seiner For-
schung: Nichts ist unmöglich. Nichts ist ewig. Der Preis der Freiheit ist ewige Wachsamkeit. Jede Demokratie kann scheitern, auch die amerikanische. Niemand sollte sich auf amerikanische Freiheitstugenden verlassen und auch nicht auf die demokratischen Institutionen: „Die amerikanische Demokratie muss vor Amerikanern geschützt werden wie die deutsche vor den Deutschen.“ Radikal und überdreht, durchaus, aber es wäre falsch, ihn einfach abzutun. Wenn Wirklichkeit sich ändert, merken das die meisten erst zu spät. Im Epilog des Buches skizziert er eine westliche Welt, die in der falschen Zeit lebt, bestimmt von zwei falschen, ahistorischen Wahrnehmungen. Snyder nennt die eine die Politik der Unausweichlichkeit. Sie basiert auf der westlich demokratischen Annahme, dass das 20. Jahrhundert trotz aller Tragödien ein Jahrhundert gewesen sei, in dem die Demokratie gesiegt habe: 1918 der Sieg über die Monarchie, LEKTION 20
SEI SO MUTIG WIE MÖGLICH! 1945 über den Faschismus, 1989 über den Kommunismus. Die nach dem Zweiten Weltkrieg Geborenen des Westens kennen nichts anderes als Frieden, Wohlstand und Demokratie und nehmen dies als gegeben. Und sie glaubten, die Geschichte selbst bewege sich zwangsläufig hin zu einem Endzustand, zu Frieden und Wohlstand, zu Freiheit und Demokratie, zu mehr Globalisierung und mehr Vernunft. Das sei, sagt Snyder, naiv. Wer glaubt, dass Fortschritt unausweichlich ist, entwickelt Apathie. Wer plötzlich erwacht aus Apathie und der Naivität, dass am Ende alles gut wird, sei relativ schnell davon zu überzeugen, dass nichts gut wird, und damit empfänglich für Zynismus. Die zweite falsche Wahrnehmung nennt Snyder Politik der Ewigkeit, verkörpert durch Populisten in Westeuropa und in den USA, genauso wie von den Autokraten in Russland und der Türkei. Sie sei eine rückwärtsgewandte Antwort auf die Globalisierung. Die Politik der Ewigkeit beschäftigt sich fast ausschließlich mit der Vergangenheit, einer Vergangenheit, die es aber so nie gegeben hat. Der Brexit beispielsweise sei der Traum von einem Nationalstaat, dem das britische Königreich der Neuzeit nie entsprochen habe. Erst war das United Kingdom ein weltweites Empire, und danach wurde es ein Teil der Europäischen Union, eines postnationalen Projekts. Der Rückgriff Putins auf das russische GroßDER SPIEGEL 16 / 2017
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Belletristik 1 2 3
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Sachbuch
Jussi Adler-Olsen Selfies
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Cameron Bloom / Bradley Trevor Greive Knaus; 19,99 Euro Penguin Bloom
Carlos Ruiz Zafón Das Labyrinth S. Fischer; 25 Euro der Lichter
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Robin Alexander Die Getriebenen
Natascha Wodin Sie kam aus Mariupol
3
dtv; 23 Euro
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Rowohlt; 19,95 Euro
Siedler; 19,99 Euro
Andrea Wulf Alexander von Humboldt Humboldt und die Erfindung der Natur C. Bertelsmann; 24,99 Euro
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Elena Ferrante Meine geniale Suhrkamp; 22 Euro Freundin
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Maja Lunde Die Geschichte der Bienen
5
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Eckart von Hirschhausen Wunder Rowohlt; 19,95 Euro wirken Wunder
6
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Yuval Noah Harari Homo Deus
6 7 8
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btb; 20 Euro
Martin Suter Elefant
Diogenes; 24 Euro
Nicholas Sparks Seit du bei mir bist
Heyne; 19,99 Euro
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Katrin Weber Sie werden lachen
Aufbau; 18,95 Euro
C. H. Beck; 24,95 Euro
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Peter Wohlleben Das geheime Leben Ludwig; 19,99 Euro der Bäume
Elena Ferrante Die Geschichte eines neuen Namens Suhrkamp; 25 Euro
8
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Roger Willemsen Wer wir waren
S. Fischer; 12 Euro
9
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Julian Barnes Der Lärm Kiepenheuer & Witsch; 20 Euro der Zeit
9
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Leonhard Horowski Das Europa Rowohlt; 39,95 Euro der Könige
10
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Hanya Yanagihara Ein wenig Leben
10
(–)
J. D. Vance Hillbilly-Elegie
Hanser Berlin; 28 Euro
Ullstein; 22 Euro
Eines der wichtigsten Bücher über die USA der Gegenwart: Der Autor erklärt, was Amerikas weiße Unterschicht bewegt
11 (11) Zsuzsa Bánk Schlafen werden
wir später
S. Fischer; 24 Euro
12 (13) Sabine Ebert Schwert und Krone.
Meister der Täuschung
Knaur; 19,99 Euro
11 (10) Dieter Nuhr Die Rettung
der Welt
13 (12) Sebastian Fitzek
Das Paket 14
(–)
Droemer; 19,99 Euro
Der rebellische Mönch, die entlaufene Nonne und der größte Bestseller aller Zeiten – Martin Luther Gabriel; 14,99 Euro
Piper; 18 Euro
13 (15) Peter Wohlleben Das Seelenleben
Ein poetisch-trauriger Familienroman aus Frankreich, benannt nach dem Song „Mr. Bojangles“
15
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John Grisham Bestechung
der Tiere der Hoffnung Heyne; 22,99 Euro
Jack Thorne Harry Potter und das Carlsen; 19,99 Euro verwunschene Kind
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Gefahr
Europa; 18,90 Euro
Michael Quetting Plötzlich Gänsevater
Ludwig; 19,99 Euro
Die Entschlüsselung des Alterns Mosaik; 24 Euro
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Sahra Wagenknecht Reichtum ohne Gier
Campus; 19,95 Euro
19 (17) Heinz Schilling Suhrkamp; 25 Euro
20 (19) Takis Würger
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18 Rowohlt; 19,95 Euro
19 (18) Christoph Hein
Der Club
15 (18) Zana Ramadani Die verschleierte
Rowohlt; 29,95 Euro
18 (14) Heinz Strunk
Trutz
C. Bertelsmann; 19,99 Euro
17 (14) Elizabeth Blackburn / Elissa Epel
17 (15) Paul Auster
Jürgen
Ludwig; 19,99 Euro
14 (12) Jean Ziegler Der schmale Grat
16 (16) Joanne K. Rowling / John Tiffany /
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Lübbe; 18 Euro
12 (16) Christian Nürnberger / Petra Gerster
Olivier Bourdeaut Warten auf Bojangles
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C.H. Beck; 24,95 Euro
20 (20) Kester Schlenz Kein & Aber; 22 Euro
Mutti baut ab
reich? Verarmung, Verelendung im Zarismus und Kommunismus, umgedeutet zu einer mythischen Vergangenheit. Trumps „America first“? Ein Rückgriff auf die Dreißigerjahre, eine Zeit amerikanischen Isolationismus und einer Depression, einer Zeit des Chaos und der Unruhe. Und: Wer die Vergangenheit mythisiert, kann kaum über die Zukunft nachdenken. Politik wird allein zur Diskussion über Gut oder Böse, aber nicht darüber, wie Probleme zu lösen sind. Äußere Feinde müssen gefunden werden und lassen sich auch im Innern finden. Im Deutschland der Dreißigerjahre genauso wie im Amerika von heute. Geschichte wiederholt sich nicht. Sie ist kein handelndes Subjekt. Sie passiert nicht. Sie ist zu beeinflussen. Demokratien können zerfallen, moralische Werte kollabieren, brave Bürger mit gezückten Pistolen an ausgehobenen Gruben stehen. Lektion 1 von Snyder: Leiste keinen vorauseilenden Gehorsam, tue nicht das, wovon du glaubst, die Herrschenden erwarteten es von dir. Lektion 2: Verteidige die Institutionen, die Gerichte, die Zeitungen, die Gesetzgeber, die Gewerkschaften. Lektion 10: Glaube an die Wahrheit, Fakten preisgeben heißt Freiheit preisgeben. Lektion 18: Ruhig bleiben, wenn das Undenkbare, ein Terroranschlag, eintrifft. Lektion 19: Sei Patriot, diene deinem Land. Es gibt keine Garantie auf Freiheit, keine Garantie auf Demokratie. Das kann man lernen aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die für Snyder auch eine Geschichte des Verfalls von Demokratien ist. Geschichte, das ist die eigentliche Lektion aus Snyders Buch, Geschichte wird gemacht. Die Frage ist nur, von wem.
Mosaik; 12 Euro
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nders als in den Sechzigerjahren ist der Campus von Yale heute kein Ort des Aufruhrs und des Widerstands. Keine Flugblätter, keine Plakate, keine Aufrufe. Politik ist privat geworden, Unisex-Toiletten gelten als revolutionäre Errungenschaft. Die jungen Studenten sind groß geworden wie in einem Paradies, geführt von einem schwarzen Präsidenten, dem ersten in der Geschichte, und der Krieg als Mittel der Politik ablehnte. Die einzige Sorge, die sie sich machten, war, ob Obama zu wenig links sei oder zu wenig gegen den Klimawandel tue. Snyders Lektion Nummer 13: Praktiziere physische Politik. Geh raus aus dem Internet und hinein in die analoge Welt. Und während sich die Abgänger in Yale höchstens fragen, ob es okay sei, einen Job in der Regierung anzunehmen, sitzt Don, der Landstreicher, vor dem Weißen Haus und trommelt. Woher er kommt, was schieflief in seinem Leben, das bleibt seine Sache. Er mag verwirrt sein oder auch nicht, aber er tut etwas, bringt seinen Körper auf die Straße. Don, wie lange willst du das eigentlich machen? „Till he’s gone“. Bis er weg ist. I
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Kultur
Die Anstalt
Kunst An Luthers Wirkungsort Wittenberg soll eine Ausstellung das Reformationsjubiläum überhöhen – sie gerät zum Gipfeltreffen großer Egos.
M
arkus Lüpertz steht im ehemaligen Gefängnis von Wittenberg, einem Bau aus den Jahren des Kaiserreichs. Heruntergekommen und staubig ist der, wirkt aber fast romantisch. Lüpertz bringt Kunstweltglamour an diesen Ort – wenn er selbst auch findet, „das Gefängnis ist der Star, wir Künstler sind nur die Petersilie“. Lüpertz, 75, Maler und Bildhauer, verkörpert deutsche Kunstgeschichte, in der ehemaligen Haftanstalt hält er sich auf, weil dort die Ausstellung „Luther und die Avantgarde“ vorbereitet wird. Es ist fast schade, dass dem Publikum diese Momente des Entstehens verborgen bleiben. Vielleicht würden die Besucher mehr über die Kunstwelt lernen als auf einer fertigen Documenta. In das 1909 eröffnete Gefängnis sperrten die Beamten Diebe, Betrunkene, Randalierer ein; 1912 zudem zwei bettelnde Bärenführer, auch die Bären brachte man dort unter. Seit 1965 wird das Gefängnis nicht mehr als solches genutzt. Jetzt, 2017, verwandelt es sich zum Setzkasten der Gegenwartskunst, die Verteilung der Zellen war nicht immer einfach, und es gab wohl auch mal Streit. Aber das sind Kleinigkeiten. Große, klingende Namen sind auf der Liste der geladenen Künstler zu finden. Isa Genzken etwa, Olafur Eliasson, Ai Weiwei. Zu Lüpertz muss man einige Stufen erklimmen. Am Ende eines langen Flures, in einem ehemaligen Wärterzimmer, thront eine von ihm erschaffene Gestalt aus Gips, ihr Titel: „Junger Eiferer“. Allerdings hat ein anderer Künstler, Jonathan Meese, eine Pappfigur auf dem Gang positioniert, und die beeinträchtigt den Fernblick auf den Eiferer. Über die Kunst des Kollegen will sich Lüpertz nicht äußern. Es klingt, als würde er seufzen. Sein Eiferer ist nackt bis auf die Kapuze, er hat nur einen Arm. Einarmig sei er deshalb nicht. Lüpertz zum Kurator: „Von einer antiken Skulptur sagst du doch auch nicht, sie sei einarmig.“ „Gut, fragmentarisch“, sagt der Kurator. Lüpertz selbst meint, das Werk „ist voll geil“, das möge man aber bitte nicht aufschreiben. Es klingt, als solle man es unbedingt notieren. Der „Junge Eiferer“ hält ein Pamphlet in der Hand, wer will, kann in ihm Martin Luther erkennen. Lüpertz selbst ist vom Protestantismus zum Katholizismus konvertiert, die Katholiken, sagt er, hätten mehr Sinn fürs Visuelle. Doch fehle der Welt seit Luther insgesamt das Mysterium.
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Trotzdem würde er am liebsten ein Luther-Denkmal schaffen, nicht nur eine Vorstufe aus Gips wie für diese Schau. Der Sockel wäre viel höher als die Figur selbst, so hat er es auch an die Wand seines Raumes im Gefängnis skizziert, und später beim Essen wird er es auf eine Serviette zeichnen. Denkmäler, Sockel, die ganze Überhöhung, das ist sein Thema. Er erwähnt seinen Freund Peter Sloterdijk, den Philosophen. Und er macht einen Scherz, der so zu verstehen ist, dass er, Lüpertz, sich für nicht dumm genug hält, um Philosoph zu sein. Auf Sloterdijks bevorstehenden 70. Geburtstag freut er sich. „Bist du auch dabei?“, fragt er den Kurator. Seit Jahrzehnten fühlt sich Lüpertz – so etwa sagt er es – wie im Krieg mit den Medien, nicht aber mit der „Bild“-Zeitung. Eine Dame von einer Berliner PR-Agentur, die beauftragt wurde, die Medien für die Wittenberger Ausstellung zu erwärmen, kommt mit dem Handy zu ihm, sagt, jemand von der „Bild“ wolle ihn sprechen, es gehe um die „Luther-Bild“. Das sei eine Sonderausgabe, die der Springer-Verlag im jetzigen Reformationsjahr herausbringen wolle, Lüpertz ist offenbar involviert. Vielleicht ist es das, was diese Ausstellung so gut veranschaulicht. Der Kunstbetrieb festigt Freundschaften, ist über-
Die Kunst stört heute kaum noch. Sie ist Teil eines modernen Ablasshandels. haupt eine Ansammlung von Netzwerken, von Stammtischen sozusagen – und die Kunst tatsächlich nur die Petersilie. Walter Smerling ist ein alter Bekannter von Lüpertz und der Mann, der die Idee zu diesem Wittenberger Projekt hatte. Früher war er Fernsehjournalist, dann wurde er Produzent von Kunstereignissen, nicht alle waren erfolgreich. Gegen das Kunstmagazin „Art“ ging er juristisch vor, weil er sich unvorteilhaft charakterisiert fand. Vor vielen Jahren gründete er den Verein Stiftung für Kunst und Kultur e. V., und über den läuft auch die Organisation der Wittenberger Ausstellung. Dem Vorstand des gemeinnützigen Vereins gehört ein Steuerexperte aus Mallorca ebenso an wie Kai Diekmann, der langjährige, nun ehemalige Chef der „Bild“-Zeitung. Ohne
Diekmann, sagte Smerling einmal in einem Interview, „gäbe es die Popularisierung des Feuilletons vielleicht gar nicht. Mit solchen Freunden arbeiten zu können, macht einfach Spaß!“. Smerlings Verein ist nach eigenen Angaben sogar der Betreiber eines Museums, des Duisburger Privatmuseums Küppersmühle. Über diese Institution regierte zuerst ein Baulöwe, der Smerlings Urteil schätzte, doch er zog sich zurück, verkaufte einen Großteil seiner Kunst an Sylvia Ströher und ihren Ehemann. Sie sicherten sich das Museum als Schauplatz für ihre Kollektion. Smerling bringt diese zur Geltung. Vorfahren Sylvia Ströhers gründeten den Konzern Wella, das Vermögen der Familie ist wegen Machenschaften in der NS-Zeit nicht unbelastet. Im Kunstbestand der heutigen Ströhers finden sich viele Werke von Lüpertz, auch welche vom Bildhauer Stephan Balkenhol, von dem nun in Wittenberg ebenfalls eine Skulptur zu besichtigen ist. Sammler mögen es, wenn ihre Künstler gewürdigt werden, das lässt ihren Kunstgeschmack relevanter, kostbarer erscheinen. Smerling schickt schon einmal einen Text, den er verfasst hat und der veröffentlicht werden soll. Darin dankt er dem Finanzmanager Alexander Dibelius für eine Anschubfinanzierung des Wittenberger Vorhabens, auch dem Springer-Vorstand Mathias Döpfner, obwohl der anscheinend nichts gezahlt hat, zumindest ist das nicht erwähnt, er dankt dem ehemaligen RWE-Chef Jürgen Großmann, der sei ein „ständiger Berater, Motivator und Unterstützer“ gewesen. Er nennt diese Leute noch vor der Evangelischen Kirche, die doch immerhin die Auftraggeberin der Ausstellung ist und das alles zu einem beachtlichen Teil finanziert, unter anderem mit Einnahmen aus Kirchensteuern. Der Etat liegt bei etwa vier Millionen Euro. Und nicht nur die Kunst kostet, auch die Öffentlichkeitsarbeit. Etwa 150 000 Euro betrage das Gesamthonorar für die Kuratoren. Das sind Smerling und fünf weitere Fachleute, darunter ein Museumsdirekor aus Karlsruhe und ein Experte von der Eremitage in Sankt Petersburg. Da sind aber auch noch einige Prozent Verwaltungskosten, die Smerlings Verein in Rechnung stellen wird. Doch schließlich ist die Kunstschau auch Teil der „Weltausstellung Reformation“, die im Mai in Wittenberg beginnen soll. Und offenbar wollte die Kirche im Jahr
SVEN DÖRING / DER SPIEGEL
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Künstler Lüpertz, Migliora: Kniefall vor den Tresoren
dieses bedeutenden Jubiläums keine Kirchentagskunst. Sie wollte, sagt ein zuständiger Mitarbeiter, „ein Highlight“. Die Ausstellung, so sagen die Organisatoren, solle eine „Bestandsaufnahme der internationalen Gegenwartskunst“ sein. Es nehmen gleich acht Künstler aus China teil (und beispielsweise nur einer aus Afrika und einer aus den USA). Das liegt womöglich daran, dass Smerling besondere Verbindungen zur chinesischen Kunstszene pflegt. Er war etwa der Organisator der deutschen Großausstellung „China 8“, die sich 2015 auf acht nordrhein-westfälische Städte verteilte. In diesem Jahr will Smerling eine Nachfolgeschau in China selbst veranstalten, diese mit deutscher Kunst. Auch Lüpertz soll teilnehmen. Ai Weiwei war übrigens bei „China 8“ nicht dabei. Aber vielleicht passt er besser an den Wirkungsort des deutschen Reformators. Im vergangenen Jahr hat er, der mittlerweile in Berlin lebt, das Gefängnis in Wittenberg besichtigt und womöglich an seine eigene Haft in China gedacht. Im Gegensatz zu Luther hat er sein Land verlassen, gebrochen hat er mit seiner
Heimat aber auch nicht. Sein Werk traf aus Peking ein. Die Ausstellung ist keine Werbefläche der Konzeptkunst, sie will emotional sein, kurzweilig, verständlich, das Stichwort Avantgarde soll man wohl nicht zu wörtlich nehmen. Sie hat ihre gewitzten Momente. Im Keller zum Beispiel hat die Italienerin Marzia Migliora einen Raum zur Kapelle verwandelt, es gibt eine mit Samt bezogene Vorrichtung für den Kniefall – und Banksafes. Migliora sagt, sie habe diese Schließfächer von einem insolventen Finanzinstitut in Modena erworben. Draußen, zwischen Gefängnis und Amtsgericht, hat ein anderer Künstler ein großflächiges Mosaik aus Bodenplatten ausgebreitet. Erst mithilfe von Satellitenaufnahmen wird es als Pixelporträt von Edward Snowden erkennbar. Vom Österreicher Erwin Wurm stammt die auffälligste Skulptur, und die wird an diesem Tag und in Abwesenheit des viel beschäftigten Künstlers im Hof montiert: Es ist ein überdimensionaler, neonorangefarbener Boxhandschuh. Ein cooles Symbol, in das man einiges hineindeuten
kann, doch die Kuratoren neigen womöglich zur Überinterpretation. Im Entwurf zum Katalog heißt es: „Kraft, Mut, unbedingter Wille, Durchsetzungskraft, Widerstand. Sich durchboxen, nicht aufgeben, mentale Grenzen durchbrechen. Aber auch Respekt, Fairness, Geradlinigkeit, Aufrichtigkeit. Derlei Eigenschaften benötigt nicht nur der Boxer, sondern auch der Künstler, um überleben zu können. Ebenso gut könnten sie einer Charakterisierung des Reformators Martin Luther entstammen.“ Vielleicht hat Lüpertz recht, vielleicht ist das Gefängnis der Star, es überstrahlt jegliche Banalisierung. Es lässt sogar vergessen, dass Kunst, obwohl hier im Namen des Störenfrieds Luthers ausgestellt, heute kaum noch stört. Sie ist Teil eines modernen Ablasshandels. Man kauft sich nicht aus der Hölle frei, sondern aus der Bedeutungslosigkeit. Wer sich mit Kunst umgibt, hebt das Ansehen, wer sie erwirbt, verfügt über eine Anlage. Mit der Hilfe von Freunden und manchmal mit dem Beistand von oben lässt sich der Wert noch steigern. Ulrike Knöfel DER SPIEGEL 16 / 2017
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Schockierende Härte
ARCHIV DES FRITZ BAUER INSTITUTS, NACHLASS KONRAD MORGEN
Nationalsozialismus Der SS-Richter Konrad Morgen ließ korrupte KZ-Kommandanten hinrichten und wollte sogar Adolf Eichmann vor Gericht stellen. Aber kämpfte er auch gegen die Judenvernichtung, wie eine neue Biografie behauptet?
NS-Jurist Morgen 1938: „Moralische Reinheit“ der SS verteidigt
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in kleines, aber ungewöhnlich schweres Päckchen aus dem Konzentrationslager Auschwitz erregte im Herbst 1943 die Aufmerksamkeit der deutschen Zollfahndung. Die Beamten öffneten den Karton und entdeckten darin drei große Klumpen aus reinem Zahngold. Der Absender, ein Sanitäter des Lagers, hatte die kostbare Fracht an seine Frau adressiert. Da der Mann der SS-Gerichtsbarkeit unterstand, übernahm ein Richter der nationalsozialistischen Elitetruppe den Fall: Konrad Morgen. Der damals 34-jährige Jurist galt als Experte für alle Formen der Kriminalität im europaweiten Lagersystem der Nazis. Aber dieser Fund überraschte auch ihn, in Auschwitz war er noch nie gewesen, nach ersten Berechnungen musste es sich um das Zahngold von vielen Tausend Menschen gehandelt haben. „Eine natürliche Todesursache“, so erklärte Morgen 1964 als Zeuge im Frankfurter Auschwitz-Prozess, „konnte hier ja nicht obwalten, sondern die Menschen, die mussten hier ermordet worden sein.“ Ihm sei schlagartig klar geworden, dass „dieses damals kaum bekannte Auschwitz ... eine der größten Menschenvernichtungsstätten sein musste, die überhaupt die Welt gesehen hatte“, ein „erschütternder Gedanke“, wie er gestand. Von nun an habe er nur noch daran gedacht, „was dagegen unternommen werden könnte“ – so jedenfalls stellte es Morgen nach dem Krieg dar. Die Wandlung des Juristen vom Saulus zum Paulus, vom überzeugten SS-Offizier zum Gegner der Massenvernichtung, steht im Mittelpunkt der ersten großen Biografie Konrad Morgens, verfasst von der Wiener Philosophieprofessorin Herlinde Pauer-Studer und ihrem New Yorker Kollegen J. David Velleman*. Die Autoren interessieren sich vor allem für das moralische Dilemma ihres Helden, der in ein zutiefst ungerechtes System verstrickt war, aber bis zuletzt für Gerechtigkeit zu kämpfen glaubte. Ebenso leidenschaftlich verteidigte er allerdings die „moralische Reinheit“ der SS – ein Ideal, das SS-Chef Heinrich Himmler stets beschwor, wenn seine Truppe wieder einmal durch neue Brutalitäten auffällig geworden war. Morgen, so urteilen Pauer-Studer und Velleman, war „naiv und blind, was die verbrecherische Rolle“ der SS betraf, ein Idealist also, der der verschwurbelten Vision eines guten und gerechten Nationalsozialismus anhing. Der Jurist teilte diesen Irrtum mit vielen Intellektuellen seiner Generation – das allein schon macht diese Biografie so spannend und lesenswert. Der Sohn eines Lokomotivführers war bereits im März 1933 als Jurastudent der * Herlinde Pauer-Studer, J. David Velleman: „,Weil ich nun mal ein Gerechtigkeitsfanatiker bin‘. Der Fall des SSRichters Konrad Morgen“. Suhrkamp; 349 Seiten; 26 Euro.
Kultur
USHMM / AKG-IMAGES
SS beigetreten; den Nazis galt die „Schutz- von Häftlingen unterschlagen. Eine erste moralischen Niedergangs seiner Truppe zu staffel“ als elitäre Speerspitze der Bewe- Untersuchung war von Himmler gestoppt sein, Sodom und Gomorrha schlechthin. Doch welche Konsequenz zog Morgen gung. 1939 ließ Himmler eine eigene Ge- worden, weil es keine Zeugen mehr gab; richtsbarkeit für seine Truppe einrichten, Koch hatte sie töten lassen. Morgen recher- aus seinem Besuch in Auschwitz? Er habe, um sie vor dem Zugriff der Wehrmachts- chierte trotzdem weiter und stellte fest, so behauptete er nach dem Krieg, zunächst justiz, etwa im Falle von Kriegsverbrechen, dass der KZ-Chef auch in Majdanek, seiner über eine Flucht ins Exil nachgedacht oder zu schützen. Die SS-Richter sollten zwar nächsten Station, schwere Verbrechen be- über ein Attentat auf Hitler. Schließlich nach dem geltenden Militärstrafrecht ur- gangen hatte. Schließlich wurde Koch fest- habe er sich aber entschieden, den Judenteilen, aber das besondere Wertesystem genommen und wenige Wochen vor Kriegs- mord auf legalem Wege zu bekämpfen. Die beiden Autoren der Biografie nehder Organisation („Treue, Anständigkeit, ende hingerichtet. Ehrlichkeit“) im Blick behalten. Im Zuge der Ermittlungen fuhr der SS- men ihm diese Wandlung ab, Morgens ErWas Himmler darunter verstand, erklär- Richter im November 1943 nach Majdanek. innerungen seien „zum größten Teil wahrte er in seiner berüchtigten Posener Rede Dort waren bei der Aktion „Erntefest“ in heitsgemäß“. Sie zitieren Zeugen aus der vor SS-Gruppenführern. Die SS, so argu- zwei Tagen etwa 40 000 Juden erschossen Nachkriegszeit, die ihm eine regimekritimentierte er, habe zum Beispiel das gute worden. Morgen inspizierte die Massen- sche Gesinnung bescheinigten. Und sie führen jene Ermittlungen auf, die der SS-RichRecht, Juden zu töten, „wir haben aber gräber vor Ort und war erschüttert. nicht das Recht, uns auch nur mit einem Aber noch mehr verstörte ihn dann sein ter in den letzten Kriegsjahren gegen proPelz, mit einer Uhr, mit einer Mark oder erster Besuch in Auschwitz, wo er den Fall minente NS-Täter anstrengte. So klagte Morgen gegen den Gestapomit einer Zigarette oder mit sonst etwas der drei Goldklumpen aufklären musste. zu bereichern“. Man führte ihn durch die Gaskammern Chef von Auschwitz wegen willkürlicher Erschießungen im Lager; er Morgen trat am 1. Januar ermittelte gegen den Ausch1941 eine Stelle als Hilfswitz-Kommandanten Rurichter am SS- und Polizeidolf Höß wegen dessen Afgericht Krakau an. Sein färe mit einer tschechischen erster großer Fall war der Häftlingsfrau; und er verProzess gegen den Chef suchte sogar, den Organides Truppenwirtschaftssator des Holocaust, Adolf lagers der Waffen-SS in Eichmann, vor Gericht zu Warschau, Georg von Saubringen – wegen der Unterberzweig. Der Offizier hatschlagung wertvoller Diate in großem Stil konfisziermanten. Bestraft wurde date Waren auf dem Schwarzmals keiner der drei. markt verkauft. Morgen War Morgen also wirkverurteilte ihn dafür zum lich zu einem entschiedeTode, Sauberzweig sowie nen Gegner des Holocaust einige Mittäter wurden hingeworden? Einige Indizien gerichtet. „Morgen konnte sprechen für einen Gesinals Richter von schockienungswandel, viele andere render Härte sein“, schreidagegen. Der Jurist hatte ben die Autoren der Biografie. Allerdings seien KZ-Arzt Josef Mengele, Ex-KZ-Kommandant Höß, SS-Offiziere 1944 bei Auschwitz sich zwar mächtige Feinde in der SS-Führung gemacht, Todesurteile für Delikte Kartoffelpuffer mit Zucker immer wieder wurden seine dieser Art in der „SS- und Polizeigerichtsbarkeit keine Seltenheit“ und Krematorien. Am Ende seines Rund- Anklagen kassiert, und doch ließ man ihn gewesen. gangs kam er in eine Wachstube, in der bis zum Kriegsende gewähren. „Von KonUnter Morgens Regie wurden mehr als ihn eine Gruppe alkoholisierter SS-Leute, rad Morgen“, so schrieb der Schweizer His700 Fälle von Korruption, Unterschlagung malerisch auf mehrere Sofas verteilt, er- toriker Raphael Gross in einer älteren Stuund Mord aufgegriffen. Der Jurist scheute wartete: „Statt eines Schreibtisches stand die über den SS-Richter, „finden wir aus auch vor großen Namen nicht zurück, ein riesiger Hotelherd da, und auf diesem der NS-Zeit keinerlei Zeugnisse, die auf musste allerdings bald feststellen, dass er buken vier, fünf junge Mädchen Kartoffel- so etwas wie Widerstand schließen lassen.“ Auch sein Auftritt im Auschwitz-Prozess dabei immer öfter von der SS-Führung aus- puffer“, so berichtete Morgen als Zeuge gebremst wurde. Morgen bat schließlich des Frankfurter Auschwitz-Prozesses. „Es sei nicht ehrlich gewesen, meinte Gross: um seine Versetzung ins ruhige Norwegen. waren offensichtlich Jüdinnen, sehr schö- „Während die Empörung über die VerfehBeinahe hätte man ihn wegen dieser Un- ne, orientalische Schönheiten, vollbusig, lungen der Wachmannschaften und andebotmäßigkeit selbst ins KZ gesteckt. Statt- feurige Augen, trugen auch keine Häft- rer SS-Offiziere bei Morgen echt wirkt, dessen musste Morgen als Soldat an die lingskleider, sondern normales, ganz ko- scheint seine Empörung über die ErmorOstfront. Schon nach einem halben Jahr, kettes Zivil. Und die brachten nun ihren dung der Juden viel schwächer, vielleicht im Mai 1943, holte ihn Himmler allerdings Paschas, die auf den Couchen da rumlagen sogar nachträglich vorgespielt zu sein.“ zurück in die SS-Justiz, man brauchte ihn und dösten, die Kartoffelpuffer und fragten Nach dem Krieg geriet Morgen in amefür die Aufklärung krimineller Netzwerke besorgt, ob auch genügend Zucker darauf rikanische Gefangenschaft. Er sagte als in den Konzentrationslagern. war.“ Morgen konnte kaum glauben, was Zeuge in weiteren NS-Prozessen aus, und Wenig später heftete sich Morgen an die er da sah, einer seiner Begleiter erklärte die Spruchkammer entnazifizierte ihn Fersen von Karl Otto Koch, dem ehemali- nur: „Die Männer haben eine schwere 1948 – jenen Konrad Morgen, der noch im gen KZ-Kommandanten von Buchenwald. Nacht hinter sich. Sie hatten einige Trans- Januar 1945 in einem Brief an seine VerKoch hatte zusammen mit anderen SS-Leu- porte abzufertigen.“ lobte geschrieben hatte, Heinrich Himmler ten in Buchenwald große Mengen an Gold Für den überzeugten SS-Offizier Mor- sei ein „großer Mensch mit warmempfinund anderen Wertsachen aus dem Besitz gen schien diese Szene ein Sinnbild des dendem Herzen“. Martin Doerry DER SPIEGEL 16 / 2017
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Demokratie geht durch den Magen Filmkritik „The Founder“ erzählt vom McDonald’s-Gründer Ray Kroc. Kinostart: 20. April
S
der Fernsehwerbung. Kroc scheint den Spot für seine Kirche des Konsums bereits vor Augen zu haben. Der Film erzählt, wie Kroc die beiden Besitzer des Imbisses, die Brüder Richard und Maurice McDonald, überzeugt, eine Kette zu gründen, wie er die Kontrolle über das rasch wachsende Unternehmen an sich zieht und die Brüder schließlich entmachtet. Es ist das packende Protokoll einer feindlichen Übernahme. Keaton spielt Kroc als Tausendsassa, dessen Tatendrang kaum zu bremsen ist. Der Film schreibt die Mythen des amerikanischen Traums fort und bekräftigt die Idee, dass sich jeder jederzeit neu erfinden kann. Zugleich aber zeigt er, dass die Eigenschaften, die Amerika groß machen, es auch gierig machen können. Einmal steht Kroc verloren auf einem staubigen Grundstück, auf dem er eine Filiale bauen will. Er geht in die Hocke, greift mit der Hand in die Erde und wirkt wie ein Pionier. Doch aus der Eröffnung der Filiale, bei der Kroc mit breiter Brust durch eine Gruppe Cheerleader schreitet und nach allen Seiten Hände schüttelt, macht der Film einen grotesk überzeichneten Triumphmarsch. Krocs spitzbübisches Grinsen ist anfangs charmant, doch es wirkt zunehmend gefährlicher. In einer großartigen Szene zeigt ihm die Frau eines Geschäftspartners (Linda Cardellini), wie man Milchshakes günstiger herstellen kann, nämlich ohne Milch. Sie schüttet Instantpulver in ein mit Wasser gefülltes Glas und rührt langsam um. Kroc stiert auf das Glas und auf das Dekolleté der Frau dahinter,
SPLENDID FILM
eit Jahren fährt Ray Kroc übers Land, um Dinge zu verkaufen, die kein Mensch braucht. Ein klobiges Milchmixgerät etwa, das den halben Kofferraum füllt. Viele Male am Tag schleppt er es zu potenziellen Käufern und erntet immer wieder Kopfschütteln. Der Film „The Founder“ stellt uns seinen Helden als gescheiterten Geschäftsmann vor, zermürbt von den Meilen, die er gefressen hat, von den Fehlschlägen, die er erlitten hat. Ein Bruder von Willy Loman, dem Protagonisten in Arthur Millers Stück „Tod eines Handlungsreisenden“, der vom Glücksversprechen des amerikanischen Traums besessen ist und daran zerbricht. Doch Kroc, im Film von Michael Keaton gespielt, begeht nicht Selbstmord wie Loman. Er baut ein globales Imperium auf, die Fast-Food-Kette McDonald’s. „The Founder“ ist die Geschichte eines Mannes, der sich mit über fünfzig aus dem Hamsterrad des Kapitalismus befreit. Fortan steht er daneben und lässt seine Angestellten darin noch schneller laufen. Kroc eröffnete 1955 sein erstes Schnellrestaurant. Als er 1984 starb, war er einer der reichsten Männer der Welt. Der Film beschreibt ihn als eine Koryphäe des Scheiterns. Kroc weiß so gut wie kaum jemand sonst, wofür es keinen Bedarf gibt. Gerade deshalb ist er in der Lage, eine echte Marktlücke zu erkennen. Als eines Tages jemand bei Kroc Mixer bestellt, und zwar gleich acht Hauptdarsteller Keaton in „The Founder“: Kirche des Konsums Stück, fährt er ins kalifornische San Berstaunend wie ein Kind, geil wie ein Bock. Sein Blick verrät: nardino, um sich den Kunden und dessen Restaurant etwas Er will das Pulver, den Profit und die Frau. Er kriegt alles. genauer anzusehen. Regisseur John Lee Hancock macht Letztlich handelt der Film davon, wie man anderen etaus dieser Reise ein ebenso rührendes wie amüsantes Erwas wegnimmt, um selbst erfolgreich zu sein, ohne wirkweckungserlebnis. lich zu klauen. Das hat eine gewisse Grandezza und eine Das Restaurant ist ein Imbiss. „Wo soll ich essen?“, fragt gewisse Niedertracht. Einige Kritiker bezeichneten „The Kroc, als ihm der Verkäufer einen Burger in die Hand Founder“ als ersten Film der Trump-Ära. Der Zuschauer drückt. „Im Auto, im Park, zu Hause?“, kommt es zurück. sieht dabei zu, wie ein Mann mehr und mehr an Selbstbe„Wo immer Sie wollen.“ Kroc setzt sich auf eine Bank wusstsein gewinnt, bis hin zum Größenwahn. und erblickt Menschen, junge und alte, weiße und schwarIn der letzten Szene bereitet Kroc eine Rede vor, die er ze, die es genießen, unter freiem Himmel zu essen. vor Ronald Reagan halten soll. Er benutzt die gleichen Demokratie, die durch den Magen geht, eine neue amePhrasen über Beharrlichkeit und Erfolg wie rund 30 Jahre rikanische Kirche ohne Rassen- und Klassenschranken, zuvor, als er noch ein belächelter Handlungsreisender war. das ist die Vision, die Kroc in diesem Moment entwickelt. Er hat sie mit Leben gefüllt, auf beeindruckende und Sein Blick fällt auf eine blonde Frau. Als sie genussvoll in furchterregende Weise. ihren Burger beißt, setzt Zeitlupe ein – ein Bild wie in Lars-Olav Beier 130
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DER SPIEGEL 16 / 2017
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BERNDT HEYDEMANN, 87 Er wollte zeigen, was der Mensch alles von der Natur lernen kann. Dieses Lebensziel verfolgte der studierte Biologe fast missionarisch. Dabei verscherzte es sich der als einerseits genial, andererseits als unbequem und besessen geltende Ökologe auch mit ihm wohlgesinnten Mitstreitern. 1988 ernannte der schleswig-holsteinische Ministerpräsident Björn Engholm den parteilosen Professor zum ersten Umweltminister des Landes. Heide Simonis, Engholms Nachfolgerin, war von den Vorträgen Heydemanns über „Häschen und Gräschen“, wie sie es nannte, jedoch eher genervt und ging zuweilen auf Distanz. So trat er 1993 als Minister zurück, nicht ohne dass vorher noch das erste Landesnaturschutzgesetz von Schleswig-Holstein verabschiedet wurde. Danach lehrte Heydemann wieder an der Kieler Universität und hatte fünf Jahre später endlich genug Geld aufgetrieben, um sich in Mecklenburg-Vorpommern seinen Traum zu erfüllen: einen Ökologiepark einzurichten. Das Projekt erwies sich aber als unwirtschaftlich und musste Insolvenz anmelden. Heydemann setzte unverdrossen all seine Kräfte dafür ein, den Park fortzuführen. Berndt Heydemann starb am 6. April. kle
Berufsarmee. Die Pazifistin modernisierte die spanischen Streitkräfte, indem sie besonders auf Frauen setzte. Beim Versuch, ihrem Förderer, dem ehemaligen Ministerpräsidenten José Luis Rodríguez Zapatero, als Generalsekretärin der Sozialisten nachzufolgen, unterlag sie 2012. Carme Chacón, zuletzt Gastprofessorin in Miami, starb am 9. April in Madrid infolge ihres angeborenen Herzfehlers. hzu CARLO RIVA, 95 Natürlich hatten Brigitte Bardot und Gunter Sachs ein RivaBoot, genauso wie Jean-Paul Belmondo, Richard Burton oder Elizabeth Taylor, Sean Connery oder Sophia Loren. Der internationale Jetset ließ sich gern in den aus Holz hergestellten Motorbooten sehen und fotografieren, die der italienische Ingenieur Carlo Riva seit den Fünfzigerjahren auf der Familienwerft in Sarnico am Iseosee entwarf und baute. Bald schon wurden die nach dem Vorbild der amerikanischen Runabouts gebauten Boote zum RollsRoyce der Meere verklärt: Ihre tiefrote Mahagonibeplankung, der starke Innenborder, viel Chrom und weiße Ledersessel standen für hochwertige Qualität und Luxus. 1969 verkaufte Riva die Werft. Carlo Riva starb am 10. April in Sarnico. kle
NORBERT JÄGER, 71 Er war Mitbegründer der SternCombo Meißen, in der fünf langhaarige Männer in ihrer Gründungsphase nach 1964 Rock nachspielten und damit durch die DDR tingelten. Bekannt wurde die Combo erst, als ihr Sound an den von Pink Floyd oder Tangerine Dream erinnerte. Jäger gab diesen Ton vor, am Keyboard, als Sänger oder als Percussionist. Dieser eher weiche Klang überraschte, besonders die gelungene Adaption von Antonio Vivaldis „Der Frühling“ aus den „Vier Jahreszeiten“. Rock-Classics hieß ein Projekt von SternCombo Meißen nach 1990, die Gruppe arbeitete dabei mit dem Kammermusikensemble Dresden zusammen. Vor zwei Jahren nahm sich die Band Mussorgskis Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“ an. Da hatte sich Jäger bereits aus gesundheitlichen Gründen zurückgezogen. Norbert Jäger starb am 7. April in Meißen. stb DIETER KOTTYSCH, 73 Nach seinem 250. Kampf trat er vom Boxsport zurück, es war der Fight seines Lebens gewesen. Im olympischen Finale 1972 in München besiegte der Hamburger Rechtsausleger im Halbmittelgewicht seinen Freund, den Polen Wiesław Rudkowski. Die Goldmedaille machte ihn nicht reich. Angebote, zum Profiboxen zu wechseln, lehnte der im oberschlesischen Gleiwitz, heute Gliwice, geborene Kottysch ab. Er war ein Naturtalent,
WILFRIEDWITTERS / WITTERS
MICHAEL BALLHAUS, 81 Der in Berlin geborene Kameramann prägte die Filme, die er in Szene setzte, obwohl er ihnen in erster Linie dienen wollte. Ein schönes Bild war für ihn wertlos, wenn es nichts erzählte. Dreimal wurde Ballhaus für den Oscar nominiert; dass er ihn nicht gewann, stellt ihn an die Seite von Regisseuren wie Alfred Hitchcock oder David Fincher. In den Fünfzigerjahren fing er beim Fernsehen an, lernte dort sein Handwerk und verfeinerte es in insgesamt 15 Filmen, die er zusammen mit Rainer Werner Fassbinder drehte. Das hochemotionale und zugleich intellektuelle Kino des Regisseurs brachte Ballhaus dazu, immer wieder durchdachte Bilder für große Gefühle zu finden, etwa in dem Nachkriegsmelodram „Die Ehe der Maria Braun“ (1979) mit Hanna Schygulla. Da Fassbinder ein frenetischer Arbeiter war, lernte Ballhaus, auch dem größten Produktionsdruck standzuhalten – seine Schnelligkeit und Effizienz waren eine Empfehlung für Hollywood. Ballhaus drehte Mitte der Achtzigerjahre seinen ersten Film mit Martin Scorsese und formte aus der unbändigen Energie des New Yorker Regisseurs visuelle Meisterwerke wie den Gangsterfilm „Good Fellas“ (1990) und das Historienepos „Zeit der Unschuld“ (1993). Ballhaus machte Bilder, die man riechen und anfassen zu können glaubte, mal unerträglich hart, mal betörend zärtlich. Wer aus dem Kino kam, hatte die Welt mit anderen Augen gesehen. Michael Ballhaus starb in der Nacht vom 11. auf den 12. April in Berlin. lob
CARME CHACÓN, 46 Die Bilder von der hochschwangeren Juristin, die zu ihrem Amtsantritt als Verteidigungsministerin die Ehrenformation abschritt, gingen 2008 um die Welt: Zum ersten Mal gebot ausgerechnet in dem Land, das fast 40 Jahre lang von General Franco beherrscht worden war, eine Frau, noch dazu Sozialistin und aus Katalonien, über die
SUSANA VERA / REUTERS
CHR. STIEFLER / BABIRAD PICTURE
Nachrufe
stand mit 16 Jahren zum ersten Mal im Ring. Nach der Boxkarriere arbeitete er bei den Stadtwerken in Buchholz. Als er im Lotto gewann, leistete er sich einen Mercedes. Dieter Kottysch starb am 9. April in Hamburg. kra DER SPIEGEL 16 / 2017
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Wohnen wie ein Rockstar Multimillionär zu werden ist nicht wirklich schwer, wenn man seit vier Jahrzehnten im Musikgeschäft so erfolgreich ist wie der britische Rockstar Gordon Matthew Sumner alias Sting, mittlerweile 65. Aber wie bleibt man reich? Zusätzliche Einnahmen können helfen. Und deshalb bietet Sting nun gleich zwei seiner Immobilien für solvente Kurzzeitmieter an – eine Art Airbnb für andere Millio134
Ein Jahr nach seinem überraschenden Tod am 21. April 2016 im Alter von 57 Jahren bleibt der Popstar Prince noch immer ein Mysterium. Es sei unklar, wie er an das Schmerzmittel Fentanyl kam, an dessen Überdosis er starb, berichtet die „New York Times“. Auch die Frage, wie Prince seine offensichtliche Abhängigkeit verbergen konnte – Fentanyl, ein Opioid, wirkt bis zu 50-fach intensiver als Heroin –, ist offen. Selbst der Wert seines Vermögens ist nicht geklärt. Was vor allem daran liegt, dass nicht bekannt ist, was denn nun wirklich im geheimnisvollen Archiv der Paisley Park Studios bei Minneapolis lagert. Prince selbst hatte zahlreiche Gerüchte über den sogenannten Tresor gestreut, seine beste Musik habe er nicht veröffentlicht, sagte er, sie liege im Keller. Hunderte Stunden Musik sollten es sein, unter anderem eine Aufnahmesession mit dem Jazztrompeter Miles Davis. Der Musikkonzern Universal hat im Februar 35 Millionen Dollar für Verwertungsrechte der unveröffentlichten Musik aus dem Archiv bezahlt – was wiederum nicht viel ist, wenn wirklich Schätze zu heben wären. Seine Asche wenigstens, so viel ist klar, befindet sich in einer juwelenbesetzten Urne und steht im Atrium seines Anwesens bei Minneapolis. rap
DER SPIEGEL 16 / 2017
näre. Haus Nummer eins steht in Malibu, Kalifornien, bietet 516 Quadratmeter Wohnfläche, einen Swimmingpool mit Wasserfall sowie einen privaten Zugang zum Strand. Sting und seine Frau Trudie Styler hatten die Villa vor 20 Jahren für 5,4 Millionen Dollar dem Schauspieler Larry Hagman („Dallas“) abgekauft. Jetzt verlangt der Musiker dafür 200 000 Dollar Miete – pro Monat. Anwesen Nummer zwei liegt in der Toskana, ein Landsitz namens Il Palagio, 360 Hektar
Weinberge und Olivenhaine mit historischer Villa und fünf Gästehäusern – Mietpreis auf Anfrage. Und wo wohnt Sting
JORDAN STRAUSS / AP
PATRICK KOVARIK / AFP
Schätze im Keller
selbst? Zurzeit meistens im Hotel: Er ist gerade auf Welttournee, im Sommer kommt er für fünf Konzerte erneut nach Deutschland, nach Mönchengladbach, Dresden, Regensburg, Künzelsau und Uelzen. Schließlich muss er noch ein paar weitere Immobilien finanzieren. Sting besitzt auch einen Wohnsitz im Londoner Stadtteil Highgate, ein Herrenhaus aus dem 16. Jahrhundert in der englischen Grafschaft Wiltshire sowie ein 500 Quadratmeter großes Appartement in New York. mwo
Personalien
SQUARE ONE / UNIVERSUM FILM
Heldin am Broadway Was macht eigentlich Hillary Clinton, 69? Hat die Politikerin das Ergebnis der Präsidentschaftswahlen im November mittlerweile verarbeitet? Am 6. April, nur ein paar Stunden vor dem Luftschlag der USA gegen Syrien, gab sie ihr erstes Interview nach der Niederlage. „Als Mensch geht es mir gut, aber als Amerikanerin bin ich ziemlich besorgt“, sagte sie im New Yorker Lincoln Center bei einem Gespräch vor Publikum. Dass sie noch einmal für ein politisches Amt kandidieren wird – zum Beispiel für den Chefposten bei der Kinderhilfsorganisation Unicef –, „bezweifele
GORDON WELTERS / DER SPIEGEL
Er hat schon den antiken Heerführer Agamemnon gespielt (in Wolfgang Petersens „Troja“) und den NS-Kriegsverbrecher Hermann Göring
(in einer Miniserie über die Nürnberger Prozesse). Jetzt verkörpert der schottische Schauspieler Brian Cox, 70, den größten britischen Staatsmann des 20. Jahrhunderts: Winston Churchill, Premierminister während des Zweiten Weltkriegs. Für „Churchill“, einen neuen Spielfilm (Kinostart: 25. Mai), nahm der Künstler zehn Kilo zu: „Man muss die Masse spüren. Churchill war nicht groß, aber schwer.“ Für den berühmtesten Churchill-Bewunderer der Gegenwart, Außenminister Boris Johnson, Verfasser einer Churchill-Biografie, hat Cox jedoch nicht viel übrig: „Johnson kann herumblöken wie er will, er ist kein Winston Churchill.“ mwo
Die Augenzeugin
„An dunklen Ufern“ Vor zwei Jahren reiste die Unternehmensberaterin Nora Azzaoui, 29, auf die griechische Insel Chios. Als sie dort die zerstörten Schlauchboote am Strand sah, hatte sie eine Idee: daraus Rucksäcke zu machen. Für ihr Projekt wird sie nun vom Deutschen Integrationspreis gefördert.
ich“, sagte Clinton. Nicht zur Sprache kamen ihre Hobbys. Clinton liebt die Theater am New Yorker Broadway. In den vergangenen Monaten besuchte sie Musicals wie „Die Farbe Lila“ oder „War Paint“. Als andere Zuschauer sie kurz vor einer Aufführung von „Sunset Boulevard“ im Saal entdeckten, gab es Applaus für Clinton, auch die Hauptdarstellerin, Glenn Close, 70, reagierte erfreut. Ein Theaterkritiker schlug Clinton bereits für ein Ehrenamt vor: als Laudatorin bei den Tony Awards, der TheaterpreisGala im Juni. Sie sei schließlich „der größte Star des Broadway, dessen Name nicht auf einem Plakat steht“. mwo
BRUCE GLIKAS / FILMMAGIC / GETTY IMAGES
Masse und Macht
„Als ich erfuhr, dass wir finanzielle Förderung erhalten, war ich gerade wieder mal dort, wo alles begonnen hatte: in Griechenland. Das erste Mal war ich im Dezember 2015 auf die Insel Chios gereist. Eine Freundin von mir war schon dort, und auch ich wollte helfen. Wir mieteten ein Auto, fuhren die Küste ab und suchten nach Stellen, an denen Flüchtlinge ankamen. Sie steuerten ihre Boote nicht in die Häfen, sondern an die dunklen Ufer. Wenn wir ein Boot entdeckten, liefen wir zu den Männern, Frauen und Kindern. Wir gaben ihnen Wasser und Hosen, Pullover und Socken. Die Menschen gingen weiter, ihre Boote blieben zurück. In Deutschland musste ich die Eindrücke erst einmal verarbeiten. Irgendwann dachte ich an die Boote – und dass man aus ihnen etwas machen könnte. Vier Monate später reiste ich wieder nach Chios. Die EU hatte mit der Türkei den Flüchtlingsdeal geschlossen, und Nacht für Nacht kamen weniger Menschen an. Also begannen wir, die Boote aus den Felsen zu ziehen oder aus dem Sand zu graben. Ein Bekannter schnitt die Bootreste zu, verpackte alles und schickte es nach Deutschland. In meiner Berliner Wohnung stapelten sich 400 Kilogramm Gummimaterial in vielen Farben, blau, rot oder gelb. An dem Material hängt viel Schweiß und Hoffnung. In einem Workshop hat ein Geflüchteter später gesagt: ,Ihr rettet Geschichte.‘ Mit einer Designerin begannen wir zu experimentieren. Wir beschlossen, aus den Resten Rucksäcke und Taschen zu machen. Ein Jahr später starteten wir eine Crowdfunding-Kampagne unter dem Namen Mimycri: Wir suchten im Internet nach Geldgebern und erreichten unser Ziel, 15 000 Euro, nach zwei Wochen. Inzwischen schneidern wir die ersten Rucksäcke. Dabei helfen uns zwei Geflüchtete aus Syrien und Pakistan. Ich träume davon, dass wir sie an unserem Projekt wirtschaftlich beteiligen können, aber bisher haben wir kein Geld eingenommen. Spätestens im Oktober wollen wir die ersten Rucksäcke verschicken. Bis dahin werde ich vor und nach meinem Job dafür arbeiten. Die Nächte sind kurz.“ Aufgezeichnet von Nico Schmidt
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„,Der Bürger ist entsetzlich dumm‘, zitieren Sie Adenauer. Da hat der Alte ganz recht, sonst hätte er ihn ja nie gewählt.“ Harald Sörensen, Bad Breisig (Rhld.-Pf.)
Dr. Eberhard Keller, Mülheim/Ruhr
Dr. Peter Heinemann, Essen
Adenauer und Walter Ulbricht zeigen eine erstaunliche Ähnlichkeit. Ulbricht gab die Order aus: Wir müssen alles in der Hand haben, aber es muss demokratisch aussehen. Das entsprach auch dem Regierungssystem Adenauer. Ein wesentlicher Unterschied: Fast niemand glaubte Ulbricht – hingegen hielt der überwiegende Teil der Öffentlichkeit den Kanzler für glaubwürdig im demokratischen und rechtsstaatlichen Sinne.
Der alte Fuchs war wirklich kein Engel, aber wer will schon einen Engel als Kanzler? Für die Nachkriegszeit war er der Richtige. Ein Glücksfall für Deutschland. Winston Churchill sagte einmal: „Entweder geht der Deutsche einem an die Kehle, oder er leckt einem die Stiefel.“ Adenauer und Helmut Schmidt waren die Einzigen, die nicht leckten.
Volker-Joachim Stern, Bremen
Es ist gut, Adenauers Geheimnisse zu lüften, bevor seine Nachfolgerin anhebt, den Verleumder als großen Staatsmann zu preisen.
Nr. 15/2017 Geheimakte Adenauer – Machtmissbrauch, Bestechung und Spähangriffe gegen Willy Brandt
Mit diesem Titel findet endlich die überfällige Entzauberung dieses „Heiligen“ der CDU und des „Entnazifizierungskanzlers“ einen Weg in die Öffentlichkeit. Gottfried Hontheim, Lichtenborn-Stalbach (Rhld.-Pf.)
Wolfgang Speckmann, München
SZ PHOTO
Wolfgang Reuter, OB a. D., Offenbach/Main
CDU-Vorsitzender Adenauer 1949
In einer 1955 verfassten Gesprächsnotiz des damaligen Staatssekretärs im britischen Außenministerium Ivone Kirkpatrick heißt es: „Dr. Adenauer hatte kein Vertrauen in die Deutschen. Er war äußerst besorgt darüber, dass eine zukünftige deutsche Regierung einen Handel mit Russland auf Kosten des deutschen Volkes eingehen würde. Konsequenterweise war ihm deshalb die Integration Westdeutschlands mit dem Westen wichtiger als die Wiedervereinigung.“ Hans Peter Schmidt, Saarlouis
Das Denkmal Adenauer hat durch diese Enthüllungen Schaden genommen. Die Lehre, die der dumme Bürger aus diesem Enthüllungsbericht zu ziehen hat, lautet: Nichts ist so, wie es scheint. Vor allem nicht in der Politik. Um diese und andere Volksverarschungen aufzudecken und anzuprangern, ist der SPIEGEL da! Dafür ein dickes Dankeschön. Nach heutigen Maßstäben ist das Vorgehen Adenauers natürlich skandalös. Wie ist das Ganze aber aus Sicht des damals schon sehr erfahrenen Adenauer zu bewerten? Die Frage bleibt für mich unbeantwortet. Das Ergebnis stimmt jedenfalls.
Jetzt ist es amtlich, dieser Mann war niemals ein Säulenheiliger. Aber – das Janusköpfige bei ihm war die Plattform und womöglich die Voraussetzung einer beispiellosen politischen Ernte. Das moralische Profil eines autokratisch geprägten Kanzlers und seine übergesetzlichen Ambitionen muss man gesamthistorisch sehen. In der Folge von Adenauers Beharrlichkeit gelang es einem demoralisierten Land, den Glauben an seine originäre Stärke wiederzuerlangen. Der Kurs dieses Nachkriegskanzlers stellte die Weichen dafür, dass die über zwölf Jahre missbrauchte, verschüttete DNA des Phänotypus der Deutschen in der Welt wieder mit Respekt wahrgenommen wird.
Uwe Fischbeck, Weiterstadt (Hessen)
Peter Hülcker, Norderstedt (Schl.-Holst.)
Erich Eickenroth, Mittenwalde (Brandenb.)
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„Bildet die Menschen“ Nr. 14/2017 SPIEGEL-Gespräch mit dem US-Politologen Jason Brennan
Brennans Ideen halte ich für gefährlich. Das Prinzip, nur die informierten Leute wählen zu lassen, schafft das demokratische Prinzip ab. Wenn ein Land zu 60 Prozent aus Analphabeten, also ungebildeten,
ODD ANDERSEN / AFP
Bisher hat noch niemand behauptet, dass Adenauer ein Gutmensch war – bei allen Verdiensten war er eher ein Schlitzohr!
Bei allem gebührenden Respekt vor der Persönlichkeit von Adenauer ist Gustav Heinemann dessen autoritärem Regierungsstil stets entschieden entgegengetreten. So auch in der Begründung seines Rücktritts als Bundesinnenminister 1950: „Wir werden unser Volk nur dann demokratisch machen, wenn wir Demokratie riskieren.“ Dafür wurde er jahrelang – wie später auch Willy Brandt – auf das Übelste diffamiert. Er wurde bespitzelt und geheimdienstlich durchleuchtet. Aber außer einer weißen Weste konnte man nichts finden.
Das Denkmal ist beschädigt
Pegida-Demonstration in Dresden
in der Regel auch uninformierten Menschen, besteht, dann wäre die Ansicht dieser Mehrheit egal. Absurd! Das ist elitärer Unsinn, der die Gesellschaften spaltet, selbst wenn man – wiederum elitär – nur die westlichen Demokratien im Blick hat. Demokratien müssen mit dem Geschrei derer umgehen können, die die Ungebildeten ansprechen und sie inspirieren sollen, radikalen, scheinbar einfachen Lösungen zuzustimmen. Die Antwort auf Wahlen wie in den USA kann nicht heißen: „Lasst die Dummen nicht wählen!“, sondern sie muss heißen: „Bildet die Menschen!“ Michael Süßner, Berlin
Anstatt nur gebildete Bürger wählen zu lassen – eine erschreckende Idee –, gäbe es verschiedene Möglichkeiten, etwas für die allgemeine politische Bildung zu tun. Sehr selten sind interessante und im besten Sinne populär aufbereitete Dokus über die EU oder das politische System der Bundesrepublik und die Bedeutung von Wahlen im Fernsehen zu sehen. Da könnte man im medialen Angebot etwas ändern. Corinna Mahrenholtz, Oldenburg
Bitte informieren Sie den Politologen Brennan doch darüber, dass es ein legitimeres Mittel gäbe, inkompetente Wähler wie inkompetente Kandidaten auszuschalten, als sein zynisch-elitärer Vorschlag vorsieht, nur „informierte“ Bürger wählen zu lassen: bereichsspezifische Wahlen (gleich Sachabstimmungen) im Sinne einer systemisch gegliederten Wertedemokratie. Johannes Heinrichs, Prof. f. Philosophie a. D., Duisburg
Briefe
Ulrich Abendroth, Frankfurt am Main
Nicht die Wähler, die Politiker müssten sich einem Qualifikationstest unterziehen.
Mit welchem Recht finanziert die BA Deutschkurse für Flüchtlinge aus der Kasse der Arbeitslosenversicherung? Sind allein die in diese Versicherung Einzahlenden für die Ausbildung und Integration dieser Menschen zuständig und verantwortlich? Es hat sich inzwischen eingebürgert, dass Geld für alle möglichen Ausgaben aus den Sozialkassen entnommen wird, obwohl diese gesamtgesellschaftliche Aufgaben sind. Dieter Kutzer, Birenbach (Bad.-Württ.)
Peter Hautzinger, Bocholt
Manchmal bemühen sich die informierten Bürger sogar um die vermeintlich Dummen. Ich denke da an die Vorbereitung der Europäischen Währungsunion, als ich mitgewirkt habe, das skeptische Volk von den Vorteilen zu überzeugen. Die Leute haben unsere Argumente hingenommen, geglaubt haben sie uns nicht. Über allen Veranstaltungen lag eine große Traurigkeit. Seitdem halte ich es mit Tucholsky: „Das Volk versteht das meiste falsch; aber es fühlt das meiste richtig.“ Auf die „Weisheit der Masse“ kann die Demokratie nicht verzichten. Dr. Hans-Peter Basler, Frankfurt am Main
In Weiterbildung gebracht Nr. 14/2017 Der neue Chef der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, im SPIEGEL-Gespräch
Wer hat uns verraten? Nr. 14/2017 SPIEGEL-Gespräch mit Altkanzler Gerhard Schröder
Schulz offenbart sich hier als Freund und Kenner der Literatur – was bei einem deutschen Politiker eher die Ausnahme ist. Vielleicht ist Politik für die meisten etwas furchtbar Ernstes und Realistisches, da es mit Machtausübung zu tun hat, während die Schriftstellerei den Ruch von Realitätsferne und zügelloser Fantasie nicht loswird. Auch der SPIEGEL hält mit diesem sehr gelungenen Interview jedenfalls intern noch an alten Gewohnheiten fest – hier Politik, da Kultur. Schulz gewährt uns als dritte Dimension noch die Tiefe seiner Bildung – und zwar ohne zu protzen oder elitär zu wirken. Klaus Reisdorf, Wolfsburg
Offensichtlich will der Genosse der Bosse „Hitler – Eine Studie über Tyrannei“ von nicht verstehen, dass er mit seiner Agenda Alan Bullock und „Hitler“ von Joachim 2010 einen großen Schaden für seine Partei Fest – beide mit ihren zusammen 2000 Seiangerichtet hat. Ist es sozialdemokratisch, ten und beinahe ebenso vielen Anmerkunwenn Arbeitssuchende bei den Jobcentern gen lesen und dann auch noch verstehen geschurigelt und unter den Generalverdacht zu können ist allein schon für einen studes Abhängens in der sozialen Hängematte dierten Historiker eine Mammutaufgabe. gestellt werden? Er ist dafür mitverantwortlich, dass die Schere zwischen Arm und Reich weiter auseinanderklafft. Auch ohne Einschnitte wie Leiharbeit, Ausweitung des Niedriglohnsektors und Absenkung des Rentenniveaus kann sich die Wirtschaft entwickeln. Ich glaube, sogar noch besser.
VOLKER WEIDERMANN / DER SPIEGEL
Lassen wir doch jeden Deutschen, der wählen möchte, jenen Einbürgerungstest absolvieren, den Ausländer bestehen müssen, wenn sie als Neugermanen an die Urne wollen. Mangels Wissens wären die Befürworter der Alternative für Dumme ruck, zuck vom aktiven Wahlgang ausgeschlossen.
Mathias Lamprecht, Dersekow (Meckl.-Vorp.)
Die Behauptung Scheeles, „ohne die Agenda 2010 hätte kein Sozialhilfeempfänger von damals Zugang zu Weiterbildung, die gab es nach altem Recht nämlich nicht“, ist schlicht falsch. Als ehemaliger Arbeitsberater der BA habe ich vor 2005 mehr als
Es ist eine Unverschämtheit und eines verantwortlichen Politikers unwürdig, wenn er durch Beleidigungen von seiner eigenen desolaten Politik ablenkt. Kinder- und Altersarmut, Tafeln, Dumpinglöhne, prekäre Arbeitsverhältnisse – all diese durch die Politik von Schröder existierenden Realitäten scheinen in seiner Gedankenwelt nicht vorzukommen. Wer hat uns verraten? Genau.
MICHELE TANTUSSI / DAVIDS
John Osmani, Nideggen (NRW)
Hier Politik, da Kultur Nr. 14/2017 SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz beschreibt im SPIEGEL-Gespräch seine literarischen Vorlieben
einmal Sozialhilfeempfänger in berufliche Umschulung oder Weiterbildung gebracht. Nach Abstimmung mit dem Sozialamt wurde die Sozialhilfe während der Schulungszeit weitergezahlt. Die Lehrgangskosten einschließlich Fahrkosten übernahm die BA. Auf diese Weise wurden auch Berufsabschlüsse erreicht.
Ich vermisse in Schulz’ besprochener Bücherliste Thomas Straubhaars „Radikal gerecht“, mit dem der Ökonom darlegt, wie das Steuersystem zu vereinfachen und die Sozialhilfe abzuschaffen ist. Das Buch kann als Antwort zur wiederholt aufgezogenen Gerechtigkeitsflagge der SPD verstanden werden. Bislang führte deren Regierungsbeteiligung im Ergebnis zu höheren Steuern und zum Ausbau der Bürokratie. Für mich ist die Partei wählbar, die das Gerechtigkeitskonzept Straubhaars umsetzen will.
Dieter Hoffmann, Gladbeck
Dr. Wolfgang Pittrich, Dresden
Ausbildungsplatzbörse in Berlin
Schulz-Bücherregal in Berlin
Für Schulz offenbar nicht, denn er habe sich Bullock bereits mit 14/15 einverleibt, kurz darauf die „Schwarte“ von Fest mit knapp 1200 Seiten. Bullocks Studie sei keine isolierte Lebensbeschreibung, vielmehr habe der Autor Hitler als Teil eines Mechanismus dargestellt. Dazu Bullock im Vorwort 1953: ,,Ich beschloss, den Verlauf von Hitlers Leben so getreu wie möglich zu rekonstruieren. Das Buch hat die Form einer historischen Erzählung erhalten.“ Genauso falsch liegt Schulz bei seinem Urteil über Fests „Hitler“, den der nach seiner Meinung weniger als Teil des Systems sieht. Karl-Heinz Groth, Goosefeld (Schl.-Holst.)
Wenn Schulz gesagt hätte, er habe Raul Hilberg voller Bewunderung und Schauer gelesen, wäre das ein beeindruckender Aspekt. Niemand erwartet, dass der mögliche Kanzler ein Kulturwissenschaftler ist, aber er sollte nicht versuchen, sich eine Kultur anzueignen, die er zumindest hier nicht unter Beweis stellen kann. Reiner Girstl, Berlin
Korrektur zu Heft 15/2017, Seite 135: „Das Auge von Mubasha“
Korrekt heißt es „Mugasha“.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe (leserbriefe@spiegel.de) gekürzt sowie digital zu veröffentlichen und unter www.spiegel.de zu archivieren. DER SPIEGEL 16 / 2017
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Hohlspiegel
Rückspiegel
Zitate
Aus dem „Top Magazin Bonn“: „Ist der Todesfall erst einmal eingetreten, ist der Gestaltungsspielraum deutlich eingeschränkter.“
Die „Berliner Zeitung“ zum SPIEGELTitel über Konrad Adenauer (Nr. 15/2017):
Jetzt im Handel Aus der „Süddeutschen Zeitung“ Aus der „Westdeutschen Allgemeinen Zeitung“: „Als es (ein verirrtes Kaninchen –Red.) dann aus der geöffneten Motorhaube ins Gebüsch fliehen wollte, sprang ein Polizist hinterher und fing es. Nun wird seine Familie gesucht.“
Er ist nicht nur der beliebteste Bundeskanzler der Deutschen, er ist der beliebteste Deutsche der Bundesbürger. Vor Luther und Goethe. Bislang … An diesem Wochenende jedoch veröffentlichte der SPIEGEL brisante Details aus bislang geheimen Akten von Bundesregierung und Bundesnachrichtendienst, die den Blick der Deutschen auf ihren Gründungskanzler zurechtrücken sollten. … So setzte er den Geheimdienst routinemäßig nach eigenem Gusto zur Bespitzelung politischer Konkurrenz ein … Die Akten liefern auch neue Details über Adenauers Machthunger – der schon Zeitgenossen spätestens aufgefallen war, als der „Alte“ sich weigerte, einem Nachfolger Platz zu machen. Dahinter steckte eine Selbstwahrnehmung, die an Trump erinnert. Der Adenauer-Enkel Konrad Adenauer im Deutschlandfunk zum selben Thema: Natürlich hat er als Kanzler die Möglichkeiten genutzt, die er als Chef der Geheimdienste eben hatte. Jeder nutzt das natürlich auch für sich und seine Zwecke, sonst kann er sich nicht an der Macht halten.
Aus der „Ellwanger Stadtinfo“ Die „Süddeutsche Zeitung“ zum SPIEGELArtikel über Missbrauchsvorwürfe beim FC Tauberbischofsheim (Nr. 15/2017):
Aus der „Rhein-Zeitung“: „Mit dem Jagdflugzeug war ein 19-jähriger Bundeswehrsoldat aus Neusorg in der Oberpfalz im Zweiten Weltkrieg abgestürzt.“
Aus dem „Hamburger Klönschnack“ Von der Website Aerzteblatt.de: „5915 Menschen erkrankten 2016 in Deutschland an Tuberkulose (2015: 5852). Die Stagnation der Neuerkrankungen wird teilweise auf die Migration zurückgeführt.“
Aus der Anzeige eines Bad Nauheimer Schuhgeschäfts in der „Dill-Post“ 138
DER SPIEGEL 16 / 2017
Film, Design, Kunst Die Welt der Fünfzigerjahre Gründungskanzler Adenauers Demokratur Vertriebene Die mühsame Integration
Die Vorwürfe wegen sexueller Übergriffe am Fechtzentrum in Tauberbischofsheim durch einen Trainer haben am Wochenende den nationalen Fachverband in Atem gehalten. Der Deutsche FechterBund verurteilt jede Form von sexualisierter Gewalt auf das Schärfste, teilte der DFeB mit. Verbandschefin Claudia Bokel mahnte … dass alle Beteiligten … in der Pflicht sind, zu einer schnellen und sauberen Aufklärung des Falls beizutragen. Für Sportdirektor Sven Ressel würden Belege für die Anschuldigungen einen Schlag für den Fechtsport bedeuten. Nach einem Bericht des SPIEGEL sollen zwischen 2003 und 2016 mehrere Sportlerinnen in Tauberbischofsheim von einem Trainer sexuell belästigt worden sein; darunter seien auch WM- und Olympia-Teilnehmerinnen. Der „Mannheimer Morgen“ zum selben Thema: Die Staatsanwaltschaft Mosbach will sich die Vorwürfe des sexuellen Missbrauchs am Fecht-Olympiastützpunkt genau ansehen. „Wir prüfen von Amts wegen, ob ein Straftatbestand verwirklicht sein könnte“, sagte Erster Staatsanwalt Hansjörg Bopp.
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BADEN
WÜRT TEMBERG
MAX EHLERT / DER SPIEGEL
Das Land der Ingenieure, der exzellenten Hochschulen, der sonnenverwöhnten Weine, der sternegekrönten Küchen – es gibt so vieles, mit dem Baden-Württemberg verbunden wird. Dabei begann nach dem Krieg alles mit drei einander argwöhnisch betrachtenden Teilländern. Zum 65. Geburtstag befasst sich der SPIEGEL mit dem Bundesland auf 16 Sonderseiten.
Der erste Regent
Eine Stadt und ihr Wohltäter Seite X
Wenige deutsche Städte sind derart von einem Unternehmen geprägt wie Walldorf vom Softwarehersteller SAP. Er sorgt für hohe Steuereinnahmen, fördert Bildungsstätten, Sportanlagen und Seniorenheime. Walldorfs Bürgermeisterin sieht aber auch die Risiken dieser Abhängigkeit: Was, wenn SAP in eine Krise gerät?
Seite VI
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
Reinhold Maier führte die Regierung des 1952 gebildeten Bundeslandes an – die Geschichte einer Vereinigung.
Die Schnellmacher Ein Karlsruher Start-up mit „Hidden-Champion-Potenzial“: GoSilico will die PharmakaEntwicklung beschleunigen.
ENGELHORN GASTRO GMBH
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
Seite XVI
Abgas-Gipfel
Rechtsausleger
Der Perfektionist
Schlechte Luft in etlichen Städten des Landes hat die Politik sensibilisiert. Ministerpräsident Kretschmann erklärte das Thema Autoabgase zur Chefsache: Am 19. Mai trifft er sich mit Daimler, Audi, Porsche und Bosch zu einem Gipfel.
Innerhalb der AfD-Fraktion im Stuttgarter Landtag hat sich der rechte Flügel durchgesetzt. Sogar der Abgeordnete Wolfgang Gedeon findet in der Fraktion, die er wegen antisemitischer Äußerungen verlassen hatte, wieder Verbündete.
Zwei Sterne für ein Restaurant in einem Kaufhaus? In Mannheim geht das: die ungewöhnliche Karriere des Küchenchefs Tristan Brandt.
Seite II
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DER SPIEGEL BW 16 / 2017
I
BADEN
WÜRTTEMBERG
Schadstoffmessgeräte an einer Bundesstraße in Stuttgart
Verkehr Umweltklagen und Abgasmauscheleien haben den Diesel in eine existenzielle Krise gestürzt. Sie weckt Zweifel an der Zukunftsfähigkeit des Autolandes Baden-Württemberg.
II
DER SPIEGEL BW 16 / 2017
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
Stuttgarter Luft
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
E
ine Limousine mit einem gelben Kasten am Heck saust über die Teststrecke. Dann kommt der Wagen in einem Hangar zum Stehen, wo Kameras und Journalisten warten. Es entsteigen Ministerpräsident Winfried Kretschmann und Ola Källenius, Vorstand bei Daimler. Der Politiker, grün gestreifte Krawatte, und der Autoboss, keine Krawatte, platzieren sich an einem Stehtisch neben dem Modell eines Dieselmotors: Es ist der OM 654, dessen Emissionen während der Fahrt in dem Kasten gemessen wurden. „Das ist die neueste Technik, sie hält die Grenzwerte ein“, sagt Källenius. Kretschmann sekundiert: „Es gibt den sauberen Diesel.“ Der werde für den Übergang gebraucht. „Die Industrie hat eine Bringschuld und muss ihre Hausaufgaben machen.“ Es ist klar, was der gemeinsame Auftritt Anfang April im Stuttgarter Daimler-Werk soll: Der Spitzenmanager will demonstrieren, dass sein Unternehmen noch auf der Höhe der Zeit sei. Und der Landesvater, dass er der Industrie auf die Finger schaut, ohne ihr wirtschaftlich schaden zu wollen. Dieselfahrzeuge haben derzeit einen schlechten Ruf. Stadtbewohner und Umweltorganisationen protestieren gegen die von den Verbrennungsmotoren mitverursachte schlechte Luft. Die sonst so allmächtigen Konzerne stehen als Trickser da, deren Autos Grenzwerte nur auf dem Papier einhalten. Und die Politiker als blauäugig, weil sie den Autokonzernen einfach glaubten. Die Spannungen sind im Autobauerland Baden-Württemberg deutlich zu spüren. Denn einerseits hängt das wirtschaftliche Wohl des Bundeslands am Automobil, fast jeder Zehnte verdient in der Branche sein Geld. Andererseits möchten auch die Bürger Baden-Württembergs saubere Luft atmen. Doch neben Stuttgart haben Messungen beispielsweise in Mannheim, Reutlingen, Freiburg und Tübingen überhöhte Schadstoffkonzentrationen ergeben. Die Politik ist verantwortlich dafür, dass Richtlinien zur Luftreinhaltung befolgt werden. Wenn nicht, drohen Strafen und Gerichtsverfahren. Daher hat die Landesregierung beschlossen, dass an Tagen mit überhöhten Feinstaubwerten keine älteren Dieselfahrzeuge mehr in die Stuttgarter Innenstadt einfahren dürfen – eine Maßnahme, die Källenius und andere Manager ablehnen. Dabei ist nicht klar, ob solche partiellen Fahrverbote überhaupt ausreichen. Kretschmann wünscht sich „einen historischen Wandel“ des Autos. Um die Grenzwerte einzuhalten, müssten betagte Diesel schnell ausgetauscht werden, am besten gegen Elektroautos. Doch die stolze Autobranche im Südwesten hängt bei der Elektromobilität hinterher. Kretschmann hat das Thema zur Chefsache erklärt. Er schickte einen Brief an
Grüner Kretschmann mit Ausstellungsmotor „Die Industrie hat eine Bringschuld“
die Ministerpräsidenten der anderen Bundesländer mit viel Autoindustrie, nach Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Hessen und Bayern: Man möge die Lage besprechen. Am 19. Mai trifft sich der Grüne mit Vertretern von Daimler, Audi, Porsche und Bosch zu einem Autogipfel. Das saubere Auto wird wohl zum zentralen Anliegen seiner zweiten Amtszeit werden. In Stuttgart ist der Leidensdruck besonders groß. Ein paar Tage vor dem Ausflug Kretschmanns auf die Teststrecke demonstrierten Umweltverbände und Bürgerinitiativen in der Innenstadt. Fußgänger und Radfahrer blockierten die Bundesstraße B 14. Auf ihren Transparenten war zu lesen: „Daimler, Bosch: Notorische Abgasbetrüger“ oder „Atemlos durch die Stadt“. Untermalt vom wütenden Hupen der wartenden Autofahrer skandierte ein Mann: „Autos raus aus Stuttgart“. Die Demonstranten zertrümmerten sogar einen mitgebrachten abgemeldeten Kleinwagen auf der Straßenkreuzung – im autoversessenen Schwaben ein Sakrileg, auch wenn es nur ein alter Opel Corsa war. Stuttgart, Amtssitz eines grünen Ministerpräsidenten, eines grünen Verkehrsministers und eines grünen Oberbürgermeisters, hält Rekorde, über die niemand froh ist: Stauhauptstadt Deutschlands etwa, auch wenn der Titel immer mal wieder an eine andere Metropole geht. Über 200 000 Autos fahren jeden Tag in den dicht bebauten Talkessel, in dem das Zentrum liegt, rund 800 000 Fahrzeuge passieren täglich die Stadtgrenze. Die Planer der Nachkriegszeit kamen in Stuttgart dem Ideal der autogerechten Stadt nahe, Radfahrer und Fußgänger müssen schauen, wo sie bleiben. Mehrere stark
befahrene Magistralen zerschneiden die Stadt, darunter die sechsspurige B 14. Auf dieser Straße, am Neckartor, werden regelmäßig die höchsten Werte für Feinstaub und Stickoxid in ganz Deutschland gemessen, höher als die europäischen Vorgaben es erlauben. Deshalb sieht sich Stuttgart mit drei Verfahren konfrontiert, sollten die Werte nicht sinken: Ein Vertragsverletzungsverfahren der EU-Kommission gegen Deutschland, eine Klage der Deutschen Umwelthilfe (DUH) und die Fortführung einer Klage von Anwohnern. Im Modekaufhaus Breuninger an der B 14 gingen schon Fragen aus dem Ausland ein, ob man sich in Stuttgart noch ohne Atemschutzmaske bewegen könne. Asiatische Verhältnisse herrschen in der Landeshauptstadt zwar nicht, doch warnen Mediziner vor zu viel Feinstaub und Stickoxid: Die winzigen Partikel des Feinstaubs setzen sich in den Bronchien fest. Stickoxid reizt oder schädigt die Atemwege und kann Allergien verstärken, besonders bei Kindern. Das Umweltbundesamt geht von Zehntausenden frühzeitigen Todesfällen pro Jahr in Deutschland allein aufgrund von Feinstaub aus. Die Umwelthilfe will das nicht hinnehmen und lässt in Stuttgart an neuralgischen Punkten messen. „Damit wollen wir zeigen, dass ausgerechnet Krankenhäuser, Schulen und selbst Kindertagesstätten dem Dieselabgasgift NO ungeschützt ausge² setzt werden“, sagt DUH-Geschäftsführer Jürgen Resch. In Schulen fragen bereits Eltern nach, ob ihre Kinder in der Pause überhaupt auf den Hof dürfen. Das bringt auch die Bürger einer Stadt ins Nachdenken, die sich seit Jahrzehnten über das Automobil definiert. Das Stuttgarter Mercedes-Benz Museum ist das populärste im Bundesland, im Jahr kommen mehr als 700 000 Besucher, welche die Erzeugnisse südwestdeutscher Ingenieurskunst bewundern. Ein Nachbau des BenzPatent-Motorwagens Nummer 1 etwa: Im ersten Auto mit Verbrennungsmotor drehte Carl Benz 1886 seine Probefahrt durch Mannheim. Zu sehen sind auch die Fahrzeuge, die Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach später im Stuttgarter Stadtteil Bad Cannstatt zusammenbauten. Nebenan hat Mercedes-Benz eine Verkaufsniederlassung eingerichtet, einige Meter entfernt fahren Autos über die Teststrecke. Vor der Porsche-Zentrale im Stadtteil Zuffenhausen sind drei weiße 911er so auf Stelen montiert, als starteten sie wie Raketen himmelwärts. Die Autohäuser entlang der Stuttgarter Ausfallstraßen sind an Sonntagen voll mit Kunden, die die neuesten Modelle ausprobieren. Die Dieselkrise hat bislang nicht auf die Verkaufszahlen durchgeschlagen. Mercedes verkauft wieder mehr Neuwagen als die bayerische Konkurrenz von BMW, so DER SPIEGEL BW 16 / 2017
III
WÜRTTEMBERG
etwas zählt in der vergleichsorientierten Autowelt. Der Absatz liegt auf Rekordniveau. Porsche hat seinen Angestellten einen Rekordbonus von 9111 Euro zugesagt – angelehnt an den Klassiker, den 911er. Doch bürgen die glamouröse Vergangenheit und die komfortable Gegenwart dafür, dass Autos made in Baden-Württemberg auch in Zukunft spitze sein werden? Die Diskussion um die Selbstzündertechnik trifft die ansässigen Autobauer besonders, weil ihre Premiummodelle oft mit Dieselmotoren ausgestattet sind. Für das Versprechen, dass die Triebwerke zugleich sparsam und sauber seien, konnten die Hersteller Premiumpreise verlangen. Und viele Arbeiter beschäftigen. Der moderne Diesel ist komplex und aufwendig zu produzieren. Allein der Antriebsstrang aus Motor und Getriebe besteht aus etwa 1400 Teilen. Beim Elektroauto sind es nur rund 200. Der Vorsitzende des Verbands der baden-württembergischen Industrie warnt vor zu ehrgeizigen klimapolitischen Zielen, es drohe gar eine De-Industrialisierung. 210 000 Menschen sind im Südwesten im Fahrzeugbau beschäftigt, dazu weitere 130 000 bei den Zulieferern. „Baden-Württemberg ist sehr stark von der Automobiltechnologie abhängig“, sagt Martin Schwarz-Kocher, Leiter des IMU Instituts. Es berät Betriebsräte bei Umstrukturierungen und forscht für die öffentliche Hand. Vor allem bei den Zulieferern drohten bei einer Abkehr vom Diesel Arbeitsplätze zu verschwinden oder ins Ausland verlagert zu werden. Selbst wenn künftig alle Elektromotoren im Land gefertigt würden, kämen nicht annähernd so viele Arbeitsplätze zusammen, wie mit dem Verbrennungsmotor verloren gehen, rechnet Schwarz-Kocher vor. „Die Elektromobilität ist bis vor einem Jahr in den Betrieben nicht wirklich angekommen“, kritisiert der Experte. Nun herrsche eine „gewisse Verunsicherung“ und „strategische Hektik“. Schwarz-Kocher hält trotzdem nichts davon, die Grenzwerte zu lockern, um den Autobauern zu helfen. „Die Politik glaubt den technischen Argumenten der Automobilindustrie nicht mehr unbesehen“, sagt der Forscher. Er fordert: „Sie sollte an den anspruchsvollen Vorgaben festhalten, sofern diese in der Umsetzung technisch machbar sind.“ Michael Bargende, Leiter des Forschungsinstituts für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren, klagt dagegen über die aktuelle Kritik am Verbrennungsmotor. „Jeder, der sich berufen fühlt, darf etwas gegen die Autoindustrie sagen.“ Die Lage sei doch eigentlich ganz gut: Mit jeder Emissionsgrenzwertstufe zwischen Euro 2 und Euro 6 sei die Abgasnachbehandlungstechnik im Rahmen der gesetzlichen Anforderungen sehr deutlich verbessert worIV DER SPIEGEL BW 16 / 2017
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
BADEN
Verkaufsniederlassung in Stuttgart Absatz auf Rekordniveau
den, sagt Bargende. „Mit Euro 6c ist das Thema Schadstoffe gegessen, weil auch erstmalig Straßentests vorgeschrieben sind, was bislang nicht der Fall war“, sagt er. Bis vor Kurzem war es im Ländle unvorstellbar, dass die Hersteller so unter Rechtfertigungszwang geraten könnten. Die Autobauer genießen den Status wie zeitweise die Finanzindustrie in der angelsächsischen Welt, die Masters of the Universe. Ihre Zulieferer, zum Teil ebenfalls Weltfirmen, verteilen sich bis in die hintersten Winkel des Bundeslands. Die Probleme kommen zuerst am unteren Ende der automobilen Futterpyramide an. Die Preise für Fahrzeuge ohne Euro-6Norm seien bereits um fünf bis zehn Prozent gefallen, schätzen Gebrauchtwagenhändler. „Die Autokäufer und wir sind die Gelackmeierten“, sagt Torsten Treiber, der Obermeister der Innung des Kraftfahrzeuggewerbes in der Region Stuttgart, der rund tausend Autohäuser und Kfz-Betriebe angehören. „Die Autohersteller haben uns eine Suppe eingebrockt, die nur schwer auszulöffeln ist.“ Treiber wünscht sich realistische Angaben bei Verbrauch und Ausstoß, um das Vertrauen der Kunden wiederzugewinnen. „Bei den Abgaswerten kann man die Prospekte in die Tonne treten.“ Diese Erkenntnis belastet derzeit auch das Verhältnis zwischen grünen Realos und der Autobranche. „Weniger Autos sind natürlich besser als mehr“, hatte Kretschmann kurz nach seinem Wahlsieg 2011 in einem Interview gesagt. Der Satz flog ihm um die Ohren. Daimler-Chef Dieter Zetsche beschwerte sich bei Kretschmann. Inzwischen hat der Ministerpräsident dazugelernt. Er fährt eine grüne S-Klasse
mit Hybridantrieb als Dienstauto. In Reden erzählt er von den Rekordinvestitionen für Forschung und Entwicklung im Ländle, woran die Autoindustrie einen großen Anteil hat. Zetsche wiederum sprach in Jeans und Turnschuhen auf dem Grünen-Bundesparteitag, auf Einladung des Schwaben Cem Özdemir. Nur wenige Politiker erinnern daran, dass die Industrie einst auch das bleifreie Benzin und den Katalysator abgelehnt hatte, später dann strengere Abgaswerte. „Der Verband der Automobilindustrie hat die Einführung der Euronorm 6 für Dieselmotoren durch seine Lobbyarbeit um mindestens zehn Jahre verzögert“, sagte Uwe Lahl, Ministerialdirektor im Verkehrsministerium, der „Stuttgarter Zeitung“. Angesichts der Klagen von Umweltverbänden und Anrainern schwindet nun der Spielraum der Politik. Die CDU, Juniorpartner der Grünen, hat die Fahrverbote bei Feinstaubalarm mitbeschlossen, obwohl sie sich traditionell als Autofahrerpartei sieht. Nun wirbt sie dafür, Diesel umzurüsten und so die Verbote zu vermeiden. Kretschmann zeigte sich offen für Umrüstungen. Sollten aber im Januar die Grenzwerte am Neckartor weiter überschritten werden, könnte der Streit zwischen Politik und Industrie eskalieren. Denn die Strafen bezahlen müssten nicht die Konzerne, sondern die Steuerzahler. Umweltschützer denken schon weiter. Gerhard Bronner, der Vorsitzende des Landesnaturschutzverbands, kritisiert „die Hochtempo- und Beschleunigungsfixierung“ der Autofahrer. Sie hätten nur allzu gern geglaubt, was ihnen die Autowerbung vorspielte: Es sei möglich, sportlich, sparsam und zugleich umweltschonend zu fahren. „Wer es wissen sollte, der konnte wissen, dass der Diesel nicht sauber ist“, sagt Bronner. Nun müsse man an „Fahrleistung, Fahrzeuggewicht und die Geschwindigkeit“ herangehen, also kleinere, langsamere Autos bauen. Solche radikalen Schritte sind im Autoland Baden-Württemberg nicht absehbar. Zunächst stehen die Hersteller vor der Aufgabe, schnell neue Elektromodelle zu produzieren. Denn derzeit geht es potenziellen Käufern so wie der Stadt Stuttgart, die ihren Fuhrpark erneuert. Bis zu 45 neue Autos und Transporter mit Elektroantrieb sollen künftig durch die Landeshauptstadt rollen, der Umwelt zuliebe. Noch bis Mai läuft die europaweite Ausschreibung, die Stadtoberen wünschten sich Angebote der heimischen Autobauer. Doch die signalisierten bereits, dass sie keine geeigneten Modelle im Programm hätten oder nicht rechtzeitig liefern könnten. So werden wohl bald Elektroautos aus Fernost oder aus Frankreich schwäbisches Umweltbewusstsein repräsentieren. Jan Friedmann
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BADEN
WÜRTTEMBERG
Ein Stamm, zwei Kronen Jubiläen Wieso tun sich Badener und Schwaben auch nach 65 Jahren „Südweststaat“
so schwer miteinander? Eine Spurensuche. Von Jan Friedmann und Dietmar Hipp
D
Rh
ein
Im Grundgesetz blieb offen, wie im Südwesten die von er Karlsruher SC spielt gegen den SC Freiburg. den Westalliierten geforderte Neugliederung aussehen Zwei badische Fußballmannschaften im Wettstreit, sollte: entlang der alten Grenzen oder als fusioniertes Getrotz diverser Auf- und Abstiege kommt das immer bilde. Eine Volksabstimmung sollte entscheiden. wieder vor. Auf den Rängen zelebrieren die Fans zunächst Um deren Modus rangen die Regierungschefs der drei Einigkeit: Gemeinsam singen sie das „Badnerlied“, die Länder hart. Vor allem der badische Staatspräsident Leo beliebte Landeshymne, in einer Version mit Abfälligkeiten Wohleb warnte, das „imperialistische“ Württemberg drohe gegenüber den schwäbischen Nachbarn. Baden zu übernehmen. Grundlos war Wohlebs Verdacht Dass etwa der Neckar, „die alte Schwabensau“, sich in nicht, wie die weitere Entwicklung bewies. den blauen Rhein ergieße, ist zu hören, und im Chorus: Eine Gruppe südwürttembergischer CDU-Bundes„Der Schwab’ muss raus, raus aus dem Badnerland.“ Aber tagsabgeordneter um den späteren Bundeskanzler Kurt auch das ganze Spiel über attackiert das Publikum, einem Georg Kiesinger setzte sich erfolgreich für einen Modus Ritual folgend, die Schwaben. Einmal ruft ein Karlsruher ein, der den Befürwortern eines Südweststaats entgeBlock den Freiburgern zu: „Ihr spielt scheiße wie der VfB.“ genkam: In vier zu bildenden Abstimmungsbezirken Das geht selbst manchen Nordbadenern zu weit – für Südsollten die Bürger getrennt wählen: Nord- und Südwürtbadener ist es die schlimmste Beleidigung, mit Stuttgartern temberg, Nord- und Südbaden. Für eine Fusion sollte eine gleichgesetzt zu werden, erst recht mit dem VfB. Mehrheit in drei der vier Regionen Seit 65 Jahren leben Badener und genügen. Schwaben politisch unter einem Südwestdeutschland Am 9. Dezember 1951 votierten Dach. In den kommenden Wochen Aufteilung nach dem Zweiten Weltkrieg eine große Mehrheit der Würtwird oft daran erinnert werden, wie bis 1952 temberger sowie 57 Prozent der 1952 Baden-Württemberg entstand. Nordbadener für den Südweststaat. Deshalb stellt sich die Frage, wieso 62 Prozent der Südbadener stimmsich viele Bürger mit dieser EinigAmerikanische Besatzungszone ten aber für die Wiederherstellung keit so schwertun – und warum es WürttembergBadens – vergebens. Im März 1952 bis heute im Ländle einen „NächsBaden wählten 4,3 Millionen Bürger die tenhass“ gibt, wie der aus Kiel stamKarlsruhe verfassungsgebende Versammlung mende Tübinger Politologe Theodor Baden-Württembergs. Sieben WoEschenburg das badisch-schwäbiStuttgart chen später bestimmte diese den sche Verhältnis einmal nannte. ersten Ministerpräsidenten des neuDie beiden Landesteile im Süden Gebildes: Reinhold Maier von weststaat pflegen ihre Rivalität jeTübingen Baden den Liberalen (DVP/FDP). denfalls ganz unterschiedlich: Der Die badischen VereinigungsgegSchwabenhass prägt die Badener – Französische Besatzungszone Württembergner mochten sich damit nicht abSchwaben stehen den Badenern daFreiburg finden. Sie klagten vor dem Bungegen eher desinteressiert oder soHohenzollern desverfassungsgericht, das ihnen gar wohlwollend gegenüber. Der 1956 zugestand, in einer erneuten „Sauschwob’“ ist in Baden immer Abstimmung über den Verbleib im noch viel geläufiger als in WürttemBodensee neuen Bundesland zu entscheiden. berg der „Gelbfüßler“ oder der „baDurchgeführt wurde dieser Volksdische Windbeutel“. Und wenn entscheid aber erst 1970 – da hatten sich die Menschen Schwaben von den „Badensern“ sprechen, ist ihnen oft längst mit den Verhältnissen arrangiert. 81,9 Prozent der nicht mal bewusst, dass das in den Ohren der Gemeinten badischen Wähler stimmten für Baden-Württemberg. Zu abwertend klingt. offensichtlich waren die administrativen und wirtschaftDiese Differenz hat viele historische Ursachen. Eine lichen Vorteile der Einheit. davon ist gerade die Gründungsgeschichte des SüdwestUlrich Wildermuth, der frühere Chefredakteur der Ulstaats, die unter Badenern bis heute vielfach als feindliche mer „Südwest Presse“, wertete die Vereinigung als „eine Übernahme durch die Württemberger angesehen wird. große staatspolitische Leistung, eine Leistung der politiNach dem Zweiten Weltkrieg hatten Amerikaner und schen Vernunft, kein selbstverständliches Ergebnis stürFranzosen als Besatzungsmächte die damaligen Länder mischer Liebe“. Doch bis heute sind es nicht „zwei WurBaden, Württemberg sowie die preußische Enklave Hozeln und ein Baum“, wie es Wildermuth metaphorisch henzollern unter sich aufgeteilt – in Ost-West-Richtung, beschrieb, sondern eher ein Stamm und zwei Kronen. quer zu den historischen Grenzen. Aus dem nördlichen Der Landesname spiegelt diese Zweiteilung wider. Als amerikanischen Sektor ging mit der Gründung der BunAlternativen standen bei der Gründung des Südweststaats desrepublik das Bundesland „Württemberg-Baden“ (Hauptauch Rheinschwaben, Zollern, Staufen, Wübaho (unter stadt: Stuttgart) hervor, aus dem südlichen französischen Würdigung der Enklave Hohenzollern), Deutsch-Südwest, Sektor die beiden Länder „Baden“ (Hauptstadt: Freiburg) Alemannien oder schlicht Schwaben zur Debatte. Die und „Württemberg-Hohenzollern“ (Hauptstadt: Tübingen). VI
DER SPIEGEL BW 16 / 2017
BADEN
WÜRTTEMBERG
Fähigkeit, über sich selbst zu lachen. Im Narrativ der Abgrenzung gilt Baden als der lebenswertere Landstrich, mit gut besonnten Studenten, filigran kombinierenden Fußballern und einem florierenden Fremdenverkehr, während in den schwäbischen Fabriken das Geld verdient wird. Die schwäbische Hausfrau wird von der Berliner Politik gern als Ideal fiskaler Strenge bemüht – im vom Boomland Ba-Wü profitierenden Baden beruft man sich gern auf das französische Savoir-vivre. Und wäre der Flowtex-Gründer Manfred Schmider, der den Banken Bohrmaschinen, die es in dieser Fülle nicht gab, als Sicherheiten unterjubelte, ein Schwabe, und Anton Schlecker, dessen Drogeriemarktkette durch seinen Geiz erst groß wurde, dann aber daran zugrunde ging, ein Badener – man hätte sich gewundert, im Ländle und außerhalb. Es ist aber umgekehrt. ie letzten richtigen Herzöge von Schwaben waren Doch es gibt auch positive Beispiele: das Fußballtraidie Staufer. Nach ihrem Untergang zerfiel das Hernerduo aus dem Schwaben Jürgen Klinsmann und dem zogtum, den Herzogtitel „Schwaben“ beanspruchSüdbadener Joachim Löw. Der Schwabe setzte nach Jahren ten die Habsburger, ohne ihn nutzen zu können. Davon des Rumpelfußballs einen Neustart profitierten im Neckarraum besondurch, der Südbadener vollendete ders die Grafen von Württemberg – das Projekt mit dem Weltmeistervon denen der östliche Landesteil Baden und Württemberg titel. Den Weltkonzern, der auf den seinen Namen ableitet. Gebiete des Königreichs Württemberg Schwaben Gottlieb Daimler und den Noch ungeordneter war die Situaund des Großherzogtums Baden Badener Carl Benz zurückgeht (die tion am Rhein: Selbst nach seinem 1806 freilich nie zusammenarbeiteten, Aufstieg zum Großherzogtum umsondern voneinander unabhängig fasste Baden um 1800 nur einige Großherzogtum tüftelten). Oder die im ganzen SüdLandkreise. Der Breisgau gehörte bis Baden westen beliebten Spätzle: Die Bade1805 zu Habsburg, daneben gab es Karlsruhe Königreich ner nehmen zwar weit mehr Eier, Grafschaften, Bistümer oder die KurWürttemberg die Schwaben haben dafür die tollspfalz um Heidelberg. Erst Napoleon Stuttgart ten Apparaturen erfunden – ideal ist brachte Ordnung in den FlickentepFürstentum es, wenn beides zusammentrifft. pich des Alten Reichs, die souverävon der Leyen In Berlin gilt ohnehin jeder, der nen Staaten Württemberg und BaTübingen aus dem Ländle stammt, als Schwaden entstanden. Es war die Zeit, in be. Auch sprachlich stehen sich der, angeregt durch den Dichter JoFürstentümer Schwaben und Badener näher, als hann Peter Hebel, der Begriff des Hohenzollern Freiburg es vor allem Letzteren lieb ist: Wenn „Alemannischen“ wieder auflebte – der Badener Wolfgang Schäuble mal aber nur für die Bevölkerung am für einen Schwaben gehalten wird, Oberrhein und in der Schweiz. liegt das auch daran, dass der Teil Baden blieb kleiner als der würtdes Schwarzwalds, in dem Schäuble tembergische Bruderstaat – fühlte Bodensee aufgewachsen ist, am Übergang sich aber, gestützt auf einen ausgevom Oberrhein-Alemannischen zum prägten Lokalpatriotismus, stets als Westschwäbischen liegt. Sprachwissenschaftlich ist das etwas Besseres. Die badische Aversion gegen alles SchwäSchwäbische ohnehin nur eine Form des Alemannischen. bische speist sich aus diesem latenten Gefühl machtpolitiDie Dialekte in Nordbaden gehören hingegen nicht zu scher Unterlegenheit bei gleichzeitiger kultureller Überdieser Sprachfamilie, wie es überhaupt Landstriche in Balegenheit. den-Württemberg gibt, in denen man mit dem Gegensatz Dass Baden in Fragen der Demokratie und Bürgerrechte Schwaben–Baden eher wenig anfangen kann. In OberWürttemberg immer mehrere Schritte voraus war, wie bei schwaben ist Bayern nahe, am Bodensee die Schweiz, in der badischen Revolution von 1848, dass im Badischen Hohenlohe Franken. Um Karlsruhe herum spricht man die französische Freiheit zu spüren war, dass die badische Südfränkisch, um Mannheim Kurpfälzisch. Die preisgeKüche zwar nicht gänzlich verschieden von der schwäbikrönte Sympathiekampagne des Landes mit dem Motto schen, aber doch immer feiner und vielfältiger war, dass „Wir können alles – außer Hochdeutsch“ passt deshalb es schon aufgrund der Geografie und der Temperaturen auf alle Teile des Südwestens. in Baden den besseren Wein und die schöneren Weinorte Und insofern könnte doch Einigkeit bestehen, von Lörgab, das alles trug zum badischen Stolz bei – und zu dem rach über Calw bis Tauberbischofsheim, von Mannheim Gefühl, diese Eigenart erhalten und verteidigen zu müssen. über Reutlingen bis Ravensburg: Die Stärke, die in der Dass es „Badische und Unsymbadische“ gebe, dass über Gemeinschaft liegt, das ist trotz aller Unterschiede ein Baden die Sonne lache, „über Schwaben die ganze Welt“ – Grund zum Feiern von 65 Jahren Südweststaat. diese Sprüche kennen Schwaben bis zum Überdruss. Und während das Badnerlied zum badischen Bildungskanon gehört, ist die Hymne Württembergs weithin unbekannt. Die beiden Autoren führen ein landsmannschaftliches DoppelIn Baden dominiert Stolz auf die eigene Kultur und Lileben: Jan Friedmann, 43, geboren im badischen Offenburg, beralität, im Schwäbischen äußert sich der Patriotismus lebt in Stuttgart. Dietmar Hipp, 48, geboren im schwäbischen subtiler. Tüftelei und Arbeitsethik gehören dazu, auch die Tübingen, lebt in Karlsruhe. Letzteren wären jenseits der Annexionsangst zumindest historisch naheliegende Optionen gewesen. Denn die Geschichte von Baden und Württemberg geht auf eine gemeinsame Wurzel zurück, die Alemannen, germanische Stammesgruppen aus den nördlichen Elbgebieten. Mit Beginn des 3. Jahrhunderts nach Christus zogen diese Germanen, die später auch als Sueben bezeichnet wurden, bis ins heutige Süddeutschland. Im Grunde waren Badener wie Schwaben also ursprünglich Norddeutsche. Im Mittelalter bildete sich im Südwesten das Herzogtum Alemannien, später setzte sich dafür der Begriff Herzogtum Schwaben durch. Es umfasste Teile des heutigen Bayern, der Schweiz und das Elsass – und auch den historischen Kern Badens um den heutigen Kurort Baden-Baden.
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AfD-Politker im Landtag von Baden-Württemberg: „Kalkulierte Tabubrüche“
Extremes Klima Parlamente Ein Jahr nach der Wahl verlieren in der Stuttgarter AfD-Fraktion die gemäßigten Abgeordneten an Einfluss, NS-Verbrechen werden verharmlost.
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ie AfD-Spitzenkandidatin stellt der Landespresse in Stuttgart ihre Pläne vor. „Wir fordern eine Rückkehr zur Rechts- und Regeltreue innerhalb der EU und Deutschlands“, sagt Alice Weidel. Flüchtlinge müssten systematisch registriert werden, die Geldschwemme der Zentralbank müsse enden. Weidel, 38, führt die AfD-Liste zur Bundestagswahl an. Mit ihrem wirtschaftsliberalen Profil soll die Volkswirtin neue Wähler anziehen. Sie ist in Berlin gut vernetzt und gilt als Vertraute von AfD-Chefin Frauke Petry. An diesem Märztag ist Weidel zuversichtlich, dass sie bald auch Landessprecherin ihrer Partei sein wird. „Wir haben keine Flügel“, sagt sie. Drei Tage später ist dieser Satz widerlegt. Auf dem Landesparteitag unterliegt sie ihrem Gegenkandidaten Ralf Özkara. Der „Flügel“, eine nationalkonservative Gruppe in der AfD unter Führung Björn Höckes, jubelt. Vielen AfD-Mitgliedern ist die Unternehmensberaterin, die mit einer Frau zusammenlebt, offenbar zu liberal. Die Abstimmungsniederlage bescherte ihr aber vor allem einer: Jörg Meuthen, der Fraktionsvorsitzende im Landtag und neben Petry Bundessprecher der AfD. Zu Beginn des Parteitags hatte er sich dagegen ausgesprochen, dass Bundestagskandidaten Parteiämter übernehmen. „Du hast mich
abgeschossen“, warf Weidel ihm vor; der neue Landessprecher ist Meuthens ehemaliger Büroleiter. Die Demontage der Spitzenkandidatin steht stellvertretend für die desolate Performance der AfD im Südwesten. Ein Jahr nach ihrem Triumph bei der Landtagswahl zerfällt die Partei in Grüppchen und Lager, die einander bekämpfen. Schon als die AfD im Mai 2016 als drittstärkste Fraktion in den Stuttgarter Landtag einzog, stritt sie erst einmal über den Umgang mit den Radikalen in den eigenen Reihen. Die Fraktion spaltete sich bei der Frage, ob der Abgeordnete Wolfgang Gedeon wegen seiner antisemitischen Äußerungen auszuschließen sei. Gedeon verließ die Fraktion dann von sich aus. Mühsam verbanden sich die Lager wieder, mit einer Präambel, die Antisemitismus ablehnt. Doch inzwischen sind es die gemäßigteren Abgeordneten, die unter Druck geraten. Claudia Martin verließ aus Protest gegen den Rechtskurs die Fraktion. Ihr Kollege Heinrich Fiechtner, der einen Beschluss kritisiert hatte, Landeszuschüsse für eine NS-Gedenkstätte zu streichen, erhielt von der Fraktion Redeverbot. Das Klima ist rauer geworden, vier Rügen hat der Landtag AfD-Politikern schon erteilt, dazu eine an Gedeon. In den fünf Jahren zuvor hatte es insgesamt nur einen
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Ordnungsruf gegeben. Zuletzt flog der Abgeordnete Stefan Räpple aus dem Plenarsaal, weil er, so das Protokoll, einen CDUPolitiker mit den Worten „Komm, wein doch!“ angepöbelt und dann den stellvertretenden Landtagspräsidenten angegangen hatte. Räpple bezeichnete auch schon mal Parlamentarier als „Volksverräter“. Vom einstigen Profil einer konservativliberalen Professorenpartei ist außer ein paar akademischen Titeln nicht mehr viel übrig geblieben, die AfD ist weit nach rechts gerückt. Meuthen stellt sich hinter den Rechtsaußen-Frontmann Höcke und paktiert mit Alexander Gauland gegen Petry. Mit Höcke und Gauland trat er beim Kyffhäusertreffen auf, zu dem sich die Rechtsausleger des Flügels an dem Denkmal in Thüringen versammeln. Im Duktus von Höcke, der das Holocaust-Mahnmal als „Denkmal der Schande“ bezeichnet hatte, forderte die Stuttgarter AfD, das deutsche Geschichtsbild positiver zu gestalten. In einem AfD-Antrag im Parlament hieß es: „Eine einseitige Konzentration auf zwölf Jahre nationalsozialistisches Unrecht ist abzulehnen.“ Die Fraktion verlangte, die Landesförderung von 120 000 Euro pro Jahr für die Gedenkstätte Gurs in Frankreich zu streichen. Dorthin hatten die Nationalsozialisten viele Juden aus Baden-Württemberg verschleppt, viele wurden dann nach Auschwitz deportiert. „Wozu deutscher Erinnerungstourismus in den Pyrenäen?“, schrieb die Fraktion über die Pressemitteilung. Kurz darauf zog sie den Antrag zurück, Meuthen sprach von einem Irrtum. „Die AfD-Politiker aus Baden-Württemberg nähern sich immer stärker extremen, rechtsextremistischen Positionen an“, kritisiert die Landesarbeitsgemeinschaft der Gedenkstätten. Durch „kalkulierte Tabubrüche“ wende sich die Partei „gegen den erreichten Stand der Erinnerungskultur“. Sie übernehme „ungehemmt und öffentlich Positionen der NPD“ und wolle Naziverbrechen verharmlosen. Auch im Umgang mit der Presse verletzte die AfD den demokratischen Konsens. Von zwei Landesparteitagen waren Journalisten ausgeschlossen – die Parteistrategen fürchteten negative Berichterstattung. Der Antisemit Gedeon gilt inzwischen bei vielen Parteifreunden als rehabilitiert. Auf seiner Website kündigt der Fraktionslose an, am AfD-Bundesparteitag kommende Woche teilzunehmen, vorab veröffentlichte er ein „strategisches Papier zur Situation vor der Bundestagswahl“. Wähler, so Gedeon, gewinne man nur durch „Klartext und Zuspitzung“. Über einen emotionalen Ausbruch der AfD-Sprecherin Petry spottet er: Kein Wunder, dass man bei so vielen Parteiausschlussverfahren „irgendwann fürchterlich in Tränen ausbricht“. Jan Friedmann DER SPIEGEL BW 16 / 2017
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Die Rundum-sorglos-Stadt Kommunen Walldorf lebt von SAP – und das nicht schlecht. Der Softwarekonzern und seine Gründer prägen das Leben in einer der reichsten Gemeinden des Landes.
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noch an die Zeit erinnern, in der das Werk der Heidelberger Druckmaschinen AG den Wohlstand des badischen Städtchens sicherte und den Steuersäckel prall füllte. Seit 1957 werden hier die besten Druckmaschinen der Welt gefertigt. In guten Zeiten radelten jeden Morgen Tausende Blaumänner über die Neurottstraße zu den Werkhallen. Es roch nach Eisen, Öl und Motoren. Die höheren Herren fuhren im Firmenwagen in die Verwaltung nach Heidelberg. Viele Jahrzehnte lang galt: Wer
Walldorfer Neubaugebiet, Bürgermeisterin Staab, SAP-Zentrale: Geld ist kein Problem
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TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
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ie Brücke, die in die neue Welt führt, wirkt wie eine Hommage an die alte. Wie ein Kohleförderturm ragt ein Metallgestell in den Himmel über Walldorf. An ihm sind stählerne Seile befestigt, die einen Bogen Beton über der viel befahrenen Landstraße halten. Fußgänger und Fahrradfahrer können auf diesem Weg vom Zentrum der badischen Kleinstadt in ihr Industriegebiet gelangen. Industriegebiet, das sagen nur noch die alteingesessenen Walldörfer. Die, die sich
bei der „Schnellpresse“ arbeitet, bekommt gutes Geld, Bankkredite und Respekt. Heute heißt das Industriegebiet „Arbeitsstadt“ und die Neurottstraße „Dietmar-Hopp-Allee“, nach dem Mitbegründer der Softwarefirma SAP, die hier seit 1977 ihren Hauptsitz hat. Wo früher Spargel angebaut wurde, bilden nun drei sternförmige Gebäude aus Glas und Stahl das Zentrum eines gigantischen Bürokomplexes. Dazwischen liegt, wie in den Hightech-Tempeln des Silicon Valley, ein begrünter Campus mit Teichen, Bänken, Rasenflächen und Sportplätzen. Überall wuseln Menschen aus aller Welt, die meisten in Freizeitlook oder HoodieNerd-Outfit. Der Dialekt, der auf der anderen Seite der Brücke im Ort vorherrscht, ist hier tabu. Man spricht Englisch. Geld, Kredite und Respekt bekommt heute, wer bei SAP arbeitet. Einen Firmenwagen kann jeder Mitarbeiter haben. Es sind rund 13 000 in der Walldorfer Zentrale, weltweit über 84 000. Vergangenes Jahr setzte der Hersteller von Betriebssoftware 22,1 Milliarden Euro um. SAP ist das viertgrößte Softwareunternehmen der Welt. Fragt sich nur: Warum verschlägt es ein Hightech-Unternehmen in die badische Provinz? Ein Grund: Walldorf ist eine Art Steueroase. Die Gewerbesteuer ist mit einem Hebesatz von 265 Punkten die niedrigste in Baden-Württemberg. Dazu kommt die Lage am Autobahnkreuz, die 1981 schon Ikea nach Walldorf gelockt hat. Für Bürgermeisterin Christiane Staab wird die Anziehungskraft ihrer Stadt langsam zur Bürde. „Wir erhalten ständig Anfragen von Firmen, aber ich kann nichts mehr ansiedeln. Wir haben einfach keinen Platz mehr.“ Mit Mühe ist es jüngst gelungen, neue Flächen nahe dem Hochholzer Wald auszuweisen, für ein neues SAPRechenzentrum. Es soll die Heimat ihrer europäischen Cloud-Dienste werden. Dazu ein Blockheizkraftwerk. Ein Hauch von Weltpolitik weht durch die badische Provinz, wenn die Bürgermeisterin sagt: „Die Datensicherheit in Deutschland ist ein wichtiger Standortfaktor, gerade nach den US-Abhörskandalen.“ Eigentlich hätte die Stadt die Baufläche ein Jahr lang auf ihren ökologischen Wert hin prüfen, Flora und Fauna beobachten müssen, doch dafür ist in der schnelllebigen Softwarebranche keine Zeit. Lieber wird nach einer kurzfristigen Analyse der maximale Ausgleich gezahlt, auch wenn
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BADEN
WÜRTTEMBERG
es gar keine seltenen Zauneidechsen oder Feldhamster umzusiedeln gibt. Christiane Staab war Stadträtin in Karlsruhe, bevor sie 2011 begann, die Stadt mit 16 000 Einwohnern, 19 000 Arbeitsplätzen und 20 000 Autos zu führen. Dass sie gewählt wurde – als Auswärtige, als erste Frau, als Mutter von vier Kindern – lässt erahnen, dass es Zeit war, jemanden von außerhalb der Walldorfer Ursuppe ans Ruder zu lassen. Doch auch die 48-jährige Juristin hat schnell erkannt, dass die Uhren in der Stadt nach SAP-Zeit ticken. Was dann so klingt: „Als Standortgemeinde für Global Player schnüren wir für unsere Bürger Rundum-sorglos-Pakete.“ Die Stadt sieht sich als Dienstleister für die Bedürfnisse ihres anspruchsvollen Klientels. Neubaugebiete wurden ausgewiesen, bürokratische Hürden gesenkt und vor allem flexible Kitaplätze geschaffen. 15 Euro im Monat kostet ein Regelkindergartenplatz in Walldorf. Ein Ganztagsplatz mit zehn Stunden Betreuung ist für 170 Euro zu haben. „Wir haben sehr hohe Personalkosten“, sagt Staab. Aber Geld ist schließlich kein Problem. Die Steuereinnahmen machen Walldorf zu einer der reichsten Gemeinden BadenWürttembergs. 2017 plant die Stadt mit
Einnahmen von 181 Millionen Euro, wo- le Welt. Unsere Schüler kommen früh in von sie allerdings fast 70 Prozent als Um- Kontakt mit Berufen und Betrieben.“ Belagen abgeben muss. Zur Sicherheit liegen rührungsängste mit der Wirtschaft kennt 400 Millionen Euro auf der hohen Kante. man hier nicht. Für Schüler mit speziellen Auf den ersten Blick lässt sich die Ge- Begabungen hat Hibschenberger sogemeinde ihren Wohlstand nicht anmerken. nannte Meisterklassen eingerichtet, dort Außer einer winzigen Altstadt gibt es we- dürfen sie Projekte ausarbeiten und in entnig Pittoreskes. Ein- und Zweifamilienhäu- sprechenden Partnerfirmen realisieren. ser säumen die Straßen, die Bebauung ist „Die Unternehmen merken schnell, dass dicht, und die Einfahrten zu den ehema- man unsere Schüler gut gebrauchen kann.“ ligen Bauernhäusern sind so eng, dass die Hibschenberger ist glücklich, wenn seine jetzigen Bewohner ihre dicken SUVs nur Schützlinge am Ende ihrer Schulzeit viele gute Jobangebote erhalten. mit Mühe hineinmanövriert bekommen. Eltern, die vermuten, ein hochbegabtes In der kleinen Fußgängerzone zwischen den Kirchen halten sich nur wenige Ein- Kind großzuziehen, sind in der Schillerzelhändler. Die Weinstuben und Restau- schule gut aufgehoben. Die Grundschule rants leben vor allem von SAP-Gästen, die macht mit bei den Hector-Kinderakademien, einer Stiftung des SAP-Mitbegrünzu Ausbildungskursen anreisen. Was der Stadt an Schönheit mangelt, ders Hans-Werner Hector. Es ist ein Progleicht sie mit Angeboten aus. Bildung ist gramm zur Begabtenförderung. In Wallein entscheidender Teil des Rundum-sorg- dorf wird kein Genie übersehen. Für die Freizeit gibt es weit über hunlos-Pakets, gerade wurden 25,5 Millionen Euro für Neubauten am Schulzentrum be- dert Vereine mit vielfältigen Angeboten. willigt. Über 1000 Gymnasiasten und 911 Die Sportanlagen würden jede Großstadt schmücken. Realschüler werden dort unterrichtet. Dank Dietmar Hopp. Das ist der wohl „Ich könnte noch viel mehr annehmen“, sagt Realschuldirektor Helmut Hibschen- meist ausgesprochene Satz in Walldorf. Der sportbegeisterte Milliardär hat für berger. Er ist stolz auf den guten Ruf seiner Schule, denn der ist selbst gemacht. „Wir ein Leichtathletik- und ein Fußballstadion legen Wert auf das Wörtchen real, wie rea- gesorgt. Im Dietmar-Hopp-Sportpark ist
Hirschstraße 29 Stuttgart-Mitte speick.de
Alltagshelden
Doch der Mäzen des Bundesligaklubs seine Initiative „Anpfiff fürs Leben“ untergebracht, die junge Talente fördert. Zwei TSG Hoffenheim hat nicht nur Sport im Hopp-Stifte im Stadtzentrum bieten Le- Kopf. Ihn treibt um, was er die „Gerechbensraum für altersgerechtes und betreutes tigkeitskrise“ nennt. „Die Null-Zins-PoliWohnen, im benachbarten Wiesloch spen- tik lässt die Leute verarmen“, sagt er. Nur wer sich Immobilien leisten könne, profidete Hopp das Gebäude für ein Hospiz. Walldorf und Umgebung ist kaum noch tiere von deren Wertzuwachs. „Auf diese vorstellbar ohne den großzügigen Mäzen, Art können sich die Reichen immer mehr der über seine Privatstiftung seit 1995 mehr nehmen.“ Die Schere gehe immer schnelals 550 Millionen Euro gegeben hat, für ler auseinander. Hopp versteht nicht, wagemeinnützige Projekte in Sachen Sport, rum die Reichen nicht stärker besteuert Medizin, Soziales und Bildung, vorwie- werden. Und er unterstützt die Idee eines garantierten Grundeinkommens für alle. gend im Rhein-Neckar-Gebiet. Seine Großzügigkeit lässt auch bei Rück- „Die Leute werden immer verzweifelter, schlägen nicht nach. Etwa als sein Plan, und wer verzweifelt ist, ist unberecheneinen Golfplatz in Walldorf zu bauen, an bar.“ Er sieht den sozialen Frieden in der Geldgier eines Bauern scheiterte. Gefahr. Das gilt sogar für das reiche Walldorf. Heute empfängt die Nachbargemeinde Sankt Leon-Rot die Weltelite auf dem Vor allem weil Wohnraum knapp und teuer geworden ist. Für Familien mit mittinternational gerühmten Grün. Ätsch. „Walldorf ist meine Heimat“, sagt Diet- lerem Einkommen ist der Traum vom Eimar Hopp, „ich bin der Stadt dankbar.“ genheim schwer zu erfüllen. „Ich kann Durch sie habe SAP eine Identität bekom- mit Interessenten die Wand tapezieren“, men. Er hat Freude daran zurückzugeben. sagt Makler Ernst-Werner Bruder. GrundBesonderes Vergnügen bereiten ihm die stücke kosten zwischen 450 und 1100 Euro „Alla-Hopp“-Bewegungsparks, die er in 19 pro Quadratmeter, die neuen schicken Orten der Region errichten ließ und der Townhouse-Hälften im Neubaugebiet Öffentlichkeit zur Verfügung stellt. Alla schon mal 650 000 Euro. Trotz allen Wohlstands: Auch in WallHopp bedeutet auf Kurpfälzisch so viel dorf gibt es eine Tafel für Bedürftige, wie: Los geht’s. Das passt zu ihm.
der ehemalige Grundschuldirektor Hans Klemm hat sie 2008 gegründet. Dutzende Ehrenamtliche helfen mit, holen Produkte, deren Haltbarkeitsdatum abläuft, aus Supermärkten ab und verteilen sie im Tafelladen in der Albrecht-Dürer-Straße. Rund 170 Abholer erscheinen pro Ausgabetag, viele Großfamilien und Rentner. „Früher war ich gegen den Mindestlohn. Jetzt bin ich dafür“, sagt Klemm. „Es darf nicht sein, dass Menschen zu wenig Lohn zum Leben bekommen.“ Die Stadt zahlt die Miete für den Laden. Und auch hier gibt es einen Sponsor aus den Reihen von SAP. Manchmal macht sich Bürgermeisterin Staab Sorgen über die Abhängigkeit von SAP. Der Niedergang von Heideldruck hat gezeigt, wie schnell eine Steuerquelle austrocknen kann, als die Digitalisierung die einst stolze Firma fast in die Pleite trieb. Was, wenn SAP in die Krise gerät? Sich einen anderen Hauptsitz sucht? Was, wenn US-Präsident Donald Trump seinen protektionistischen Kurs durchzieht? „Wir sind auch abhängig von der geopolitischen Weltlage“, sagt Staab. Und für einen Moment sieht die Frau mit dem blonden Kurzhaarschnitt aus, als trüge sie die Last der Erde auf ihren Schultern. Michaela Schießl
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„Es geht nicht ums Sattwerden“ Haute Cuisine Sternekoch Tristan Brandt über das Streben nach Perfektion und den Ehrgeiz, jeden Abend seine Gäste zu begeistern trobetriebe des Modehauses Engelhorn in Mannheim. Für seine Leistung als Küchenchef im Restaurant Opus V erhielt er im vergangenen Dezember vom Guide Michelin einen zweiten Stern. SPIEGEL: Herr Brandt, wie wird man in so
jungen Jahren Sternekoch? Brandt: Man braucht, wenn man in diesem
Beruf etwas erreichen will, natürlich Ehrgeiz. Und jemanden, der einen unterstützt. Bei mir war es Richard Engelhorn, der hier in Mannheim ein großes Modekaufhaus besitzt. Er wollte unbedingt Spitzengastronomie im Haus haben. Er suchte einen Koch dafür und hat mich, nach einer Empfehlung von Harald Wohlfahrt, angesprochen – obwohl ich noch nie ein eigenes Restaurant geführt hatte. SPIEGEL: Wie haben Sie reagiert? Brandt: Skeptisch. Mein erster Gedanke: Was soll ich in einem Kaufhaus? Ich dachte an typische Kaufhausgerichte, etwa Schnitzel mit Pommes. Ich fuhr aber hin – und Herr Engelhorn und ich hatten ein sehr gutes Gespräch. SPIEGEL: Und dann hat er Ihnen angeboten, ein Spitzenrestaurant für Sie zu bauen? Brandt: Herr Engelhorn hat mir in Aussicht gestellt, ein eigenes Restaurant zu schaffen, ganz nach meinen Vorstellungen. Zuerst sind wir gemeinsam mit den Architekten 2013 nach Kopenhagen ins Noma gefahren, eines der besten Restaurants der Welt. Wir wollten uns inspirieren lassen. Das war am 1. August, meinem ersten Arbeitstag bei Engelhorn. Uns hat im Noma das Schlichte und Zurückhaltende gefallen. Unsere Architekten wollten im Januar mit dem Bau anfangen. Herr Engelhorn bestand darauf, dass alles schon im November fertig war. Er wollte seinen Geburtstag im neuen Restaurant in seinem Kaufhaus feiern. SPIEGEL: Und ein Jahr später, im November 2014, bekamen Sie für Ihre Küche im Opus V den ersten Stern. Brandt: Und vorigen Dezember den zweiten. Unser Ziel war es immer, zumindest einen Stern zu bekommen. Als wir ihn hatten, war die Frage, ob wir uns noch verbessern können. Der Ehrgeiz war geweckt. XIV
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SPIEGEL: Wie kamen Sie zum Kochen? Brandt: Als ich so acht Jahre alt war, habe
ich immer meiner Mutter in den Topf geschaut und sie gefragt, wie sie alles zubereitet. Und wenn sie ihre Freundinnen zu Gast hatte, durfte ich ihr in der Küche helfen. Daraus hat es sich dann ergeben, dass ich nach und nach ganze Mahlzeiten gekocht habe. Als in der Schule das berufsbezogene Praktikum anstand, ging ich in eine Küche. Ich bekam dann von der Ver-
ne Mappe hat er gar nicht angeschaut, sondern nur gesagt: „Sie sind auf Empfehlung eines geschätzten Kollegen hier, wann wollen Sie anfangen?“ Und dann hat er gefragt, was ich verdienen wolle. Ich habe geantwortet, dass das für mich zweitrangig sei. In erster Linie wolle ich bei ihm arbeiten und von ihm lernen. Das fand er gut. SPIEGEL: Und was haben Sie gelernt? Brandt: Ich hatte mir vorgenommen, einmal in meinem Leben in einer Drei-Sterne-Küche zu arbeiten. Ich glaubte, es sei mir auf Dauer zu anstrengend. Dann aber, bei der Arbeit dort, habe ich gemerkt, dass es genau das ist, was ich will: dieses Kochen auf hohem Niveau, diese Perfektion und die Möglichkeit, die Gäste jeden Abend zu begeistern. SPIEGEL: Was ist ein typisches BrandtGericht? Brandt: Hamachi mit Rettich und Teriyaki. SPIEGEL: Und das geht wie? Brandt: Hamachi ist eine Gelbflossen-Makrele, der Rücken wird bei uns in Salzlake gebeizt. Der Bauch wird abgeflämmt mit einer Soja-Marinade, sodass der Zucker aus der Marinade karamellisiert. Dazu Rettich-Ravioli mit Avocadocreme und eine Teriyaki-Vinaigrette. Das steht eine Weile auf der Karte, und dann ist es weg und wird vielleicht nie wieder bei uns gekocht. SPIEGEL: Sie haben keine Klassiker auf der Karte? Brandt: Doch, Froschschenkel mit Spinat und schwarzem Knoblauch, das könnten wir immer auf die Karte setzen. Die Gäste lieben das. SPIEGEL: Haben Sie plötzliche Eingebungen, oder tüfteln Sie Ihre kulinarischen Kreationen nach einer Art Formel aus? Brandt: Ich bin der Typ, der einen Zettel und einen Stift auf dem Nachttisch hat und nachts aufwacht und die Ideen aufschreibt. Da stehen dann die Hauptbestandteile drauf. Unsere Gäste bekommen ja auf der Karte relativ wenige Informationen, nur drei Komponenten eines Gerichts; wir wollen sie vorsichtig dazu erziehen, sich bei uns überraschen zu lassen. In der Sterneküche geht es ja nicht vorrangig darum, dass die Leute satt werden. Sie sollen unsere Gerichte so gut und überraschend finden, dass sie unbedingt wiederkommen wollen. Interview: Joachim Kronsbein TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
Brandt, 32, leitet als Geschäftsführer alle Gas-
Küchenchef Brandt im Restaurant Opus V „Zettel und Stift auf dem Nachttisch“
wandtschaft Kochbücher geschenkt. Ich wollte einfach nur ein guter Koch werden. SPIEGEL: Sie hatten dennoch früh Kontakt zur Haute Cuisine. Brandt: Das war in Heidelberg, zwei Jahre lang bei Manfred Schwarz. Auf der Suche nach neuen Erfahrungen bat ich ihn um Rat. Er meinte, ich solle entweder zu Thomas Bühner oder zu Harald Wohlfahrt nach Baiersbronn gehen. Ich war gerade mal 20 und dachte, ich kann doch nicht zur Nummer eins in Deutschland gehen. Ich hab dann doch angerufen, Wohlfahrt hat mich zum Vorstellungsgespräch eingeladen, mei-
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Echte Sportler tragen ihre Heimat eben gerne auf der Brust. Porsche gratuliert Baden-Württemberg zum 65. Geburtstag.
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TANJA KERNWEISS / DER SPIEGEL
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GoSilico-Gründer Hahn, Beck, Huuk: „Das können nur eine Handvoll Leute“
Das Labor im Rechner Innovationen Ein Karlsruher Start-up-Unternehmen will die Entwicklung von Medikamenten gegen Krebs und Alzheimer beschleunigen – mithilfe der Mathematik.
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enn Teresa Beck erklären will, woran sie arbeitet, holt sie die Tüte mit den Gummibärchen aus dem Schrank. Sie legt rote, grüne, gelbe und weiße Gummibärchen auf den Tisch und sagt: „Wir wollen nur die roten. Wie schaffen wir es, sie von den anderen zu trennen?“ Was simpel klingt, ist in der Biotechnologie eine komplizierte Aufgabe. Die Teilchen, um die es geht, sind in Wirklichkeit nämlich keine Gummibärchen, sondern Antikörper und andere Proteine – und eine Grundlage für die Entwicklung neuer Medikamente. Weil nur manche Antikörper, die in den Forschungslabors der Pharmaindustrie produziert werden, brauchbar sind, müssen sie vom nutzlosen Rest getrennt werden. Bislang sind dazu Hunderte Laborexperimente nötig. Es vergehen Monate, bis ein zuverlässiges Verfahren steht. Teresa Beck und ihre beiden Mitstreiter Tobias Hahn, 32, und Thiemo Huuk, 29, wollen einen Weg gefunden haben, den Prozess deutlich zu verkürzen, und der liegt außerhalb der Biologie, in der Mathematik. Sie wollen die Laborexperimente teilweise durch Computersimulationen ersetzen und damit die Art, wie Biopharmazeutika hergestellt werden, verändern. Das könnte nicht nur Zeit, sondern auch viel
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Geld sparen, hoffen sie. „Unser Ziel ist es, in den nächsten ein oder zwei Jahren gemeinsam mit einem Pharmakonzern einen Wirkstoff zur Marktzulassung zu bringen, dessen Herstellungsprozess durch unsere Methode entwickelt wurde“, sagt Beck. Die 28-Jährige hat einen Doktor in Mathematik. Hahn und Huuk haben am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) in Biotechnologie promoviert. Währenddessen ersannen die beiden Männer das Computerprogramm. Um es an die Pharmaindustrie zu verkaufen, gründeten sie Anfang 2016 zu dritt das Start-up GoSilico. Sie bezogen Räume im Karlsruher Gründerzentrum CyberLab im Osten der Stadt, das von Forschungsinstituten der Universität und Softwareunternehmen umringt ist. 1972 entstand nicht weit entfernt die erste Informatikfakultät des Landes. Seit den Achtzigerjahren ist Karlsruhe ein Zentrum der deutschen IT-Industrie. Für GoSilico ist die Nähe zur Universität wichtig. Sie verschafft dem Unternehmen Zugang zu Doktoranden und Programmierern, mit denen es seine Idee vorantreiben kann. Es sei schön, in der schwerfälligen Pharmabranche etwas zu bewegen, „aber reich werden war nie ein Thema für uns“, sagt Mitgründer Tobias Hahn, wie die beiden anderen eher nüchtern, Typ Naturwissenschaftler. Vor ein paar Wochen zog das Unternehmen in ein 120-Quadratmeter-
Büro in der Karlsruher Innenstadt um. An der Decke hängen Lampen von Ikea, die einzige Dekoration sind zwei Topfpflanzen auf der Fensterbank. Aber die drei sind ohnehin nicht oft da. Sie reisen zu Konferenzen und halten Vorträge, um Kunden von ihrem Programm zu überzeugen. Die Pharmariesen der Welt, Unternehmen wie Roche oder Pfizer, stecken ihre Forschungsbudgets vor allem in Medikamente für den Massenmarkt. Grundlegende Innovationen gehen vielfach von kleinen, unabhängigen Firmen aus. Besonders die Biotechnologie gilt als Zukunftsbranche, denn sie verspricht neuartige und individuelle Therapien gegen Krankheiten wie Krebs oder Alzheimer. Gleichzeitig gilt sie als extrem schwieriges Feld. Immer wieder scheitern BiotechStart-ups, teils nach Jahren und kurz vor der Zulassung durch die Arzneimittelbehörden. SAP-Gründer Dietmar Hopp, einer der größten Finanziers der Branche, hat mehr als eine Milliarde Euro in Biotechnologiefirmen investiert, aber auch schon eine Reihe Fehlschläge verkraften müssen. Es regiert das Prinzip „top oder Flop“: Entweder eine Idee funktioniert. Oder sie funktioniert nicht. Der Ansatz von GoSilico ist ein anderer: Das Unternehmen will keinen neuen Wirkstoff finden, es will die Herstellung neu aufziehen, mithilfe der Intelligenz und Rechenleistung von Computern. Ob das gelingt, hängt davon ab, ob die Behörden die Methode anerkennen und Computersimulationen zum Standard erklären. Das Interesse der Pharmaindustrie sei jedenfalls groß, sagen die Gründer. Man habe schon jetzt, rund ein Jahr nach dem Start, Lizenzen des Programms an mehrere große Biopharmakonzerne in Europa und den USA verkauft und schreibe schwarze Zahlen. Einen Investor, ohne den die meisten Jungunternehmen die ersten Jahre nicht überleben können, brauche GoSilico deshalb momentan nicht. Nicht nur das unterscheidet die Badener von vielen Start-ups der Berliner Gründerszene. Diese sind zwar schillernd, verfolgen aber häufig vergleichsweise einfache Ideen. „Das, was wir machen, können nur eine Handvoll Leute“, sagt Hahn. Einen Konkurrenten gebe es seines Wissens nirgendwo auf der Welt. Hat GoSilico also das Potenzial, zu einem neuen Hidden Champion heranzureifen? Zu einem jener versteckten, vor allem in Süddeutschland ansässigen Unternehmen, die in ihrer Nische höchst erfolgreich sind? Ob die Firma das Zeug zum Champion habe, wisse er nicht, sagt Hahn. Noch sei sie dafür deutlich zu klein. „Aber das mit dem ,hidden‘ stimmt schon mal, weil wir um uns nicht so ein Theater machen.“ Ann-Kathrin Nezik