1. Der eine Gedanke
Schopenhauer versteht seine Philosophie – so legt er bereits dar im Vorwort des ersten Bandes seines Hauptwerks „Die Welt als Wille und Vorstellung“ (nachfolgend in Übereinstimmung mit den Siglen des Jahrbuchs W I abgekürzt und zitiert nach der Brockhaus Edition Arthur Hübschers) – als systematische Entfaltung eines einzigen Gedankens, nämlich diesen, daß die Welt die Selbsterkenntnis des Willens ist. 1 Die Grundaussage des Philosophen ist hiermit benannt, und erst wenn der Leser den damit vorgezeichneten Weg des Werkes hinauf bis zu seinem Gipfelpunkt, der Ethik, gegangen ist, kann er das Ganze der Lehre überschauen und den tieferen Sinn jenes Leitsatzes erfassen; denn um ihn herum konzentrieren sich nicht nur die organisch zusammenwirkenden Teile des Systems, sondern in ihm gipfelt die Architektur als Ganzes. Die mit dieser Untersuchung vorgenommene Werkinterpretation hat es sich zur Aufgabe gemacht, das hier seine Quelle habende selbstbewußte Diktum Schopenhauers von der Konsistenz seiner Philosophie, denn „bei mir Widersprüche zu suchen ist ganz eitel: Alles ist aus einem Guß“ 2, auch an der den Höhepunkt des Systems bildenden Stelle zu belegen. Die Vorgehensweise wird sein, in jedem der vier Bücher (Erkenntnistheorie, Metaphysik, Ästhetik und Ethik) diejenigen Bausteine zu beleuchten, welche das als Erlösung von der Welt aufgestellte und als großes Finale 3 inszenierte Postulat von der Verneinung des Willens zum Leben4 ermöglichen. Hierbei wird die These dieser Arbeit sein, daß das gesamte Werk Schopenhauers im Grundsatz als Erlösungsphilosophie konzipiert ist. Diese Auffassung erscheint plausibel, wenn der Rezipient sich nicht nur vor Augen führt, daß Schopenhauers gesamtes Denken gegen das so unscheinbare wie mystisch bedeutungsvolle Wort „Nichts“ am Ende seines Hauptwerks konvergiert 5, sondern auch seine Überzeugung berücksichtigt, daß „hinter unserm Daseyn [...] etwas Anderes [steckt], welches uns erst dadurch zugänglich wird, daß wir die Welt abschütteln.“ 6 So erklärt sich nicht nur Schopenhauers Forderung im Vorwort seines Hauptwerks, dieses zwei Mal zu lesen, sondern auch sein Dringen auf das Studium der Schriften Kants und Platons, denn sowohl Kants Lehre des transzendentalen Subjekts (bei Schopenhauer das erkennende Subjekt) als auch Platons Philosophie der ewigen 1
vgl. W I, S. 7
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GBr, S. 336 Nicht ohne Grund bezeichnete Thomas Mann die „Welt als Wille und Vorstellung“ in Analogie zur Musik als „ein einziges Thema mit Variationen" bzw. als eine "viersätzige Symphonie." 4 Der Begriff „Wille zum Leben“ ist streng genommen ein Pleonasmus, denn wie Schopenhauer immer wieder betont ist dem Willen das Leben und damit die Gegenwart gewiß. 5 vgl. W I, S. 487 6 W I, S. 479 3
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Ideen nehmen Schlüsselpositionen ein, sie sind zwei Eckpfeiler dessen, das als Bedingung der Möglichkeit der Verneinung des Willens zu gelten hat. Werden nun unter Bezugnahme auf Kant und Platon unter entsprechenden Modifikationen vor allem die erkenntnistheoretischen Voraussetzungen der Erlösung erörtert (erstes und drittes Buch), so bildet der srcinäre Kern Schopenhauers, seine Metaphysik (zweites Buch), nicht zuletzt den Blick dafür aus, daß eine solche überhaupt als erstrebenswert erachtet wird, die Ethik (viertes Buch) dient dann der vollständigen Entwicklung dieses Anliegens, weswegen das vierte Buch „so wie bei weitem das wichtigste, auch bei weitem das längste ist, wohl noch einmal so lang als das zweite.“ 7 Hinzuweisen bleibt im Vorfeld schließlich auf die Ursachen der im Laufe dieser Untersuchung sichtbar werdenden Schwierigkeiten dieser Philosophie. Sie ergeben sich m.E. zwingend aus dem in der Nachfolge Kants im Grunde durchweg immanent bleibenden, zudem völlig undialektischen Denken, das an der Anschauung eines oft widersprüchlich erscheinenden „Was“ der Welt festmacht und versucht dieses einheitlich zu interpretieren. Es muß das Meisterstück gelingen, die hieraus sich ergebenden Spannungen so in das System zu integrieren, daß es daran nicht zerbricht. Wie dies gelungen ist, wird nun untersucht werden. 2. Die Welt als Vorstellung erste Betrachtung
Es ist im Umgang mit Schopenhauers Schriften von zentraler Bedeutung – und das gilt für das Hauptwerk in ausgezeichneter Weise – sich klarzumachen, daß bei aller Systematik und aller theoretischen Erörterung niemals eine trockene und isolierte Diskussion philosophischer Probleme im Vordergrund steht, sondern alle Teile zu dem größeren Ganzen sich fügen, das nur unter dem Credo einer philosophischen Erlösungslehre wirklich zu fassen ist. Schopenhauers Hinweis im Vorwort des Hauptwerks, „daß der Anfang das Ende beinahe so sehr voraussetze, als das Ende den Anfang“ 8 wird rasch einsichtig allein durch die Verbindung des ersten Satzes des ersten Buches und des letzten Wortes des vierten Buches, denn es ergibt sich der folgende Ausdruck: „Die Welt ist meine Vorstellung -“ 9 „- Nichts.“ 10 Wenn Schopenhauer seine Erkenntnistheorie also damit beginnt, daß die objektivempirische Welt nur existiert vermittels des Mediums der Vorstellung, als Vermögen des subjektiven Intellekts - also einer Erkenntnisfunktion (nämlich Verstand und Vernunft) des Gehirns - dann lehrt er mit anderen Worten, daß diese zunächst einmal nur der Inhalt einer 7
GBr, S. 36 W I, S. VIII 9 W I, S. 3 10 W I, S. 487 8
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korrelativen Vermittlungsleistung ist, nämlich vorgestelltes Objekt für ein vorstellendes Subjekt als untrennbarer Komponenten der allgemeinsten und wesentlichsten Form jedweder Erkenntnis.11 Es wird sich bald deutlicher zeigen, daß in der Tat schon mit dieser Aussage eine zentrale Bedingung der Möglichkeit hin zur Erlösung gesetzt ist. Zum einen deshalb, da mit der Welt als Vorstellung bereits die grundlegende Bedingtheit dieser Welt als Voraussetzung von deren Aufhebung hin zu besagtem Nichts benannt ist, zumal die jener vorausgehende und noch eingehend zu erläuternde umfassende Selbsterkenntnis des Willens per definitionem jeglicher Erkenntnis ebenfalls nur auf dem Weg der Vorstellung gewonnen werden kann. Zum anderen spielt die genannte allgemeinste Form der Erkenntnis, also das Zerfallen in Subjekt und Objekt - als notwendiger Korrelate - ohne Hinzuziehung der weiteren Unterformen (Raum als Form der Anschauung, Zeit als Form der Veränderung und Kausalität als Regulator des Eintritts der Veränderungen zusammengefaßt im Satz vom Grund 12) eine herausragende Rolle in dem für die Erlösungslehre überaus wichtigen dritten Buch, der Ästhetik, eine Tatsache, auf die an dieser Stelle zur Sensibilisierung für die Zusammenhänge nur hingewiesen wird, um sie nach den hierfür notwendigen Erläuterungen weiterer wesentlicher Grundzüge des Schopenhauerschen Denkens wieder aufzugreifen. Nun sollen zunächst die beiden Hauptkomponenten der Welt als Vorstellung, das erkannte Objekt und das erkennende Subjekt, einer kurzen Erörterung unterzogen werden, um wichtige Unterschiede herauszuarbeiten. Kennzeichnend für das vom erkennenden Individuum vorgestellte, die Welt der Objekte, denn Vorstellung und Objekt sind dasselbe 13 , ist ihre durchgängige „Dependenz, Relativität, Instabilität und Endlichkeit“ 14, so wird Schopenhauer nicht müde zu betonen. Den Objekten kommt keine Autonomie zu, ihr Dasein ist gänzlich relativ, denn sie sind den Gliedern einer Kette vergleichbar nichtige Erscheinungen unter der strengen Herrschaft des Satzes vom Grunde, „als die Form, in der das stets durch das Subjekt bedingte Objekt, welcher Art es auch sei, überall erkannt wird, sofern das Subjekt ein erkennendes Individuum ist“ 15 , woraus eine deterministische Wirklichkeit resultiert, die bestimmt ist durch steten Wandel der Akzidenzien (Qualität und Form) der Objekte, beim Beharren der Substanz als deren gemeinsamen Substrat, nämlich der Materie als Wirksamkeit in abstracto. Das subjektive Korrelat der Materie ist der Intellekt, also eine Gehirnfunktion, genauer der 11
vgl. W I, S. 30 vgl. G II, S. 165 13 vgl. W I, S. 17 14 G II, S. 266 15 W I, S. XI 12
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Verstand, dessen Wesen damit auch bereits erschöpft ist, denn seine alleinige Form ist die Kausalität. Dieser bedingt daher die anschauliche Welt der Objekte, die also nur für ihn da ist so wie er nur für sie. Ohne nun in die Details der schopenhauerschen Erkenntnistheorie eindringen zu müssen, kann sich die hier durchgeführte Untersuchung darauf beschränken, die notwendigen Elemente des Erlösungsprozesses herauszuarbeiten. Wie kurz dargestellt, ist die Welt als Vorstellung einerseits – da auch ihre konstitutiven Gesetze nur relative Gültigkeit haben in Bezug auf die Erscheinung selbst und daher nur das Wie, nicht aber das Was dieser Welt erklären können - einem flüchtigen Schein vergleichbar, der damit grundsätzlich die Möglichkeit eines Aufwachens aus diesem „langen Traum (das Leben)“ 16 als sehr plausibel erscheinen läßt. Andererseits bedarf es eines genaueren Hinsehens, um zu erkennen, wo speziell innerhalb der erkenntnistheoretischen Weichenstellungen des ersten Buches der Hebel anzusetzen hat, der dies bewerkstelligen könnte, nämlich notwendigerweise an etwas beständigerem, das einen Halt bieten kann, nichts anderem als dem Subjekt. Schopenhauers in der Nachfolge von Kants transzendentalem Idealismus stehender Welt als Vorstellung liegt wie bereits erwähnt die durchgängige korrelative Einheit und damit wechselseitige Abhängigkeit von Subjekt und Objekt zugrunde. Das Subjekt ist hierbei „dasjenige, was Alles erkennt und von Keinem erkannt wird.“
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Diese Aussage
Schopenhauers erscheint folgerichtig, ist doch alles, was erkannt wird stets Objekt und durch die Formen des Subjekts bedingt. Würde nun die Möglichkeit eines Erkennens des Erkennens zugelassen, geriete man nicht nur in einen infiniten Regreß, denn es müßte ein weiteres Subjekt gesetzt werden, sondern es wäre vor allem zu fragen, wie eine Erkenntnis von etwas möglich sein soll, das Voraussetzung der Formen allen Erkennens ist und daher auch überhaupt nicht innerhalb dieser Formen liegen kann, weshalb ein solches Kunststück nicht zu vollbringen ist. 18 Da also das Subjekt durch keine Form des Satzes vom Grund bestimmt ist, kann es auch keine kausale Verknüpfung zwischen Objekt und Subjekt geben, es ist damit ausgeschlossen, daß die Erkenntnis von Objekten durch diese selbst verursacht ist und die objektive Welt somit ihre eigene Ursache wäre. Das erkennende Subjekt ist deshalb nicht Bestandteil der materiellen Wirklichkeit, sondern Bedingung ihrer Möglichkeit, zudem nichtindividuell, da es nicht in Raum und Zeit liegt, also dem Principium Individuationis als Möglichkeit der Vielheit und damit Individualität. 19 Schopenhauer erklärt das Subjekt daher
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vgl. W I, S.19 W I, S.5 18 vgl. W I, S.6 19 vgl. W I, S. 134 17
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zum Träger der Welt als Vorstellung 20, die aufgehoben wäre, sobald das letzte vorstellende Wesen verschwände. Es ist an dieser Stelle nun wichtig, sich klarzumachen, daß der im ersten Buch geschilderten Welt als Vorstellung im Sinne einzelner Objekte und deren Relationen zueinander als Korrelat niemals ein rein erkennendes Subjekt gegenübersteht, denn dieses wäre, wie Schopenhauer selbst sagt, „geflügelter Engelskopf ohne Leib“ 21, sondern natürlich ein vorstellendes Wesen. Das Subjekt des Erkennens erscheint nun immer dann als ein erkennendes Individuum, wenn es sich mit dem Subjekt des Wollens vereinigt, welches für das erkennende Subjekt Objekt ist und als Erkanntes damit dem Satz vom Grunde unterworfen ist. Dieses Subjekt des Wollens oder Selbst ist nichts anderes als das unmittelbare Objekt und alleiniger Inhalt des in Subjekt (Intellekt) und besagtes Objekt zerfallenden Selbstbewußtseins oder inneren Sinns 22, weshalb Schopenhauer sagen kann, daß „eine wirkliche Identität des Erkennenden mit dem als wollend erkannten, also des Subjekts 23
mit dem Objekte, unmittelbar gegeben ist.“ Bedingung der unmittelbaren Erkenntnis des Subjekts des Wollens allein anhand seiner einzelnen Akte als Erscheinungen in der Zeit ist der Leib 24, da er als Träger des Inhaltsmoments der Vorstellungen (d.h. der Empfindungen) die Motive empfängt und daher von Schopenhauer als Ausgangspunkt aller Erkenntnis des Subjekts auch unmittelbares Objekt genannt wird. Aufgrund der Identität von objektiviertem, d.h. erscheinendem Willensakt des Selbstbewußtseins und der in die Anschauung des Erkenntnisvermögens getretenen Aktion des Leibes ist letzterer zudem nichts anderes als die Objektität (Sichtbarkeit) 25 des Subjekts des Wollens, womit gleichzeitig das Individuum (Ich) als ein erkennendes Subjekt in seiner Beziehung auf den Leib, der nichts anderes als der objektivierte Wille ist, eindeutig charakterisiert ist. Die bisherigen im Schnelldurchlauf auf das wesentlichste beschränkten Erörterungen, die zudem aufgrund der Zwecke dieser Untersuchung bereits Elemente der im folgenden Abschnitt näher zu behandelnden Schopenhauerschen Metaphysik vorweggenommen haben, sind wichtige Voraussetzungen des hier allein interessierenden Erlösungsprozesses, denn erst 20
vgl. WI, S. 5 W I, S. 118 22 Innere Erfahrung ist hierbei definiert als allein in der Form der Zeit gegeben 23 G II, S. 252 24 vgl. W I, S. 123 25 Ist die Objektität Synonym zur Sichtbarkeit des Willens, dies trifft per Analogieschluß Schopenhauers auf die gesamte Natur zu, so sind die verschiedenen Weisen, in denen er Objektität gewinnt seine Objektivationen, also sein grad- oder stufenweise in der Natur aufsteigendes „zur Erscheinung kommen“. Die platonischen Ideen bezeichnet Schopenhauer als unmittelbare bzw. adäquate Objektität des Willens, da sie ausschliesslich der ersten und allgemeinsten Form aller Erscheinung, d.h. Vorstellung, also dem Objektsein für ein Subjekt unterliegen, wobei die Ideen zugleich die Stufenleiter der Objektivation des Willens ausdrücken, denn sie sind die unmittelbare Objektität des Willens auf einer bestimmten Stufe der Objektivation. 21
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durch die Klarstellung, daß im erkennenden Individuum das Subjekt des Erkennens mit dem Subjekt des Wollens identisch ist, wird der Satz möglich, dessen Erklärung nach den Worten Schopenhauers der Zweck des gesamten Hauptwerkes ist und der die Bedingung der Möglichkeit der Erlösung ist: Die Welt ist die Selbsterkenntnis des Willens. 26 An dieser Stelle des Erklärungsprozesses kann freilich nur davon geredet werden, daß die Welt dependenter Objekte die Selbsterkenntnis des Willens ist, und zwar in dem Sinne, daß sich der Wille über das Medium des individuellen Intellekts in jenen als seinen Objektivationen selber Vorstellung wird. Darüber hinaus sind mit den bisherigen Ausführungen die Grundlagen für eine Erklärung des Vorgangs der Loslösung des Erkennens vom Wollen als zentraler Bedingung der Möglichkeit einer Erlösung gelegt worden, denn nur auf dem Wege des reinen Erkennens ohne störende Beimischung des Wollens kann die im ersten Buch geschilderte Erkenntnis nichtiger einzelner Objekte allein anhand ihrer durch Raum, Zeit und Kausalität ermöglichten Relationen untereinander und in letzter Konsequenz immer in Bezug auf den eigenen Leib als objektivierten Willen überwunden werden. 3. Die Welt als Wille erste Betrachtung
Der Übergang Schopenhauers von der Welt als Vorstellung zur Welt als Wille, seinem ontologischen Realismus, beruht auf der Konklusion, daß das Erscheinende als identischer Kern aller Erscheinungen dem Individuum, insofern es ebenfalls dessen Erscheinung ist, nicht ganz fremd sein kann und letztlich das Wesen auch von diesem sein muß. Zu diesem Erscheinenden muß somit ein gewisser Weg von Innen her offen sein als einziger Möglichkeit, es zumindest näher zu benennen, obwohl es als deren Voraussetzung frei ist von allen Formen der Erkenntnis und somit von Kant als Ding an sich bewußt nicht näher spezifiziert wurde. Da andererseits ausnahmslos jede Erscheinung in der Natur das Ding an sich in den Formen der Erkenntnis ist, muß Schopenhauers Weg als durchaus folgerichtig gelten, in der Nachfolge von Kant auf der Suche nach einer Charakterisierung des Dings an sich den im vsrcen Abschnitt bereits erwähnten Gang über das Selbstbewußtsein 27 des Individuums zu wählen. Da er darin als dessen alleinigen und unmittelbar gegebenen Inhalt den Willen vorfindet, kann 26
Dieser Satz ist letztlich mit besagter Identität des Erkennenden und dem als wollend Erkannten gleichzusetzen,
die Schopenhauer den Weltknoten oder das Wunder kat) Êxocð®n nennt, also das Wunder überhaupt. Es meint nichts anderes als das Leib-Seele-Problem, wobei das Ich diese Identität pro tempore gewährleistet. 27 Mit Selbstbewußtsein bezeichnet Schopenhauer das Bewußtsein des eigenen Selbst als dessen unmittelbares, weil nur in der Form der Zeit gegebenes Objekt im Unterschied zum Erkenntnisvermögen als dem Bewußtsein anderer Dinge im Sinne von Objekten, die der Verstand anschaulich geformt hat, indem er von der Wirkung der Leibes- bzw. Sinnesempfindung als empirisch gegebener inhaltlicher Seite der Vorstellung (den Sinnesdaten) formal anhand des Satzes vom Grunde auf deren Ursache übergegangen ist, diese Sinnesdaten also durch die intellektuellen, d.h. nicht empirischen Erkenntnisbedingungen in Form gegossen hat.
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er diesen als das Ding an sich deuten, als den metaphysischen Kern bzw. das intelligible Substrat, d.h. als das Erscheinende in allen Erscheinungen. Damit hat Schopenhauer die Möglichkeit des unmittelbaren Selbsterkenntnis des Willens im Individuum als dessen Kern benannt, ohne damit freilich den Begriff des Dinges an sich zu erschöpfen, denn dieses bezeichnet wie gesagt das von allen Formen der Erkenntnis unabhängige, weshalb zum wirklichen Ding an sich nur eine nicht objekthafte Erkenntnis vordringen kann. Es leuchtet ein, daß dies eine schlechthin unlösbare Aufgabe ist, denn der Begriff des Objekts umfaßt ja als allgemeinste Form der Vorstellung auch die hier vorliegende und lediglich der Zeit unterworfene anschauungslose Erkenntnis. Wenn Schopenhauer den Willen dennoch als das Ding an sich bezeichnet, dann kann er dies unter Vorbehalten deshalb tun, weil dessen Erkenntnis eben die von allen Formen unabhängigste und damit unmittelbarste ist, die überhaupt möglich ist, denn der Wille erschließt sich in der Introspektion als das einzige Objekt des Selbstbewußtseins und liegt zudem nur innerhalb der Form der Zeit vor, innerhalb derer er sich vollzieht, ist also unmittelbar gegeben, denn er liegt nicht innerhalb des Raumes und der Kausalität. 28 Das Selbstbewußtsein ist damit für Schopenhauer der gesuchte gemeinschaftliche Grenzpunkt zwischen Immanentem und Transzendentem, "wo das Ding an sich am unmittelbarsten in die Erscheinung tritt, und in größter Nähe vom erkennenden Subjekt beleuchtet wird; daher der also intim erkannte Vorgang der Ausleger jedes anderen zu werden einzig und allein geeignet ist.“ 29 Schopenhauer stellt damit nun im Hinblick auf die Erlösungslehre klar: Das Ding an sich ist nicht einfach mit dem Willen gleichzusetzen, denn dieser Wille ist Ding an sich nur in Bezug auf die Erscheinung, er ist das Erscheinende der Erscheinung und damit Kern jedes Wesens. Der Wille als Ding an sich ist also nur zu finden in den Dingen dieser Welt, er ist eben nicht das Absolutum oder die Substantia im Sinne etwa des Gottes der monotheistischen Religionen mit Sitz in Wolkenkuckucksheim. Es gilt stets die wechselseitige Relativität von Wille als Ding an sich und Erscheinung. Was das Ding an sich außerhalb jener Relation ist, kann schlechthin nicht ergründet werden. 30 Damit ist die Erkenntnis des Dinges an sich und seine Benennung im Sinne von Wille eine von einem Objekt geborgte und als solche keine völlig adäquate und erschöpfende, denn „auch in der innern Erkenntniß findet noch ein Unterschied statt zwischen dem Seyn an sich ihres Objekts und der Wahrnehmung desselben im erkennenden Subjekt.“ 31 Wie sich im weiteren Verlauf der Untersuchung zeigen wird, 28
vgl. W II, S. 150 W II, S. 221 30 vgl. W II, S. 566 31 W II, S. 220 29
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werden diese Aussagen eine wichtige Bedingung der Möglichkeit der Selbstverneinung 32 des Willens als Freiheitsakt des als Wille nur inadäquat erkennbaren Dinges an sich sein, denn würde sich dessen Sein im Wollen erschöpfen, wäre die gesamte Schopenhauersche Soteriologie nicht möglich. Als weitere Vorbedingung der Erlösung, die im 2. Buch geschildert wird, ist die grundsätzliche Verschiedenheit des Intellekts und des Willens kurz anzusprechen. Der Wille, das Ding an sich, ist als etwas von allen Formen der Erkenntnis völlig unabhängiges notwendigerweise vollkommen blind, denn Erkenntnis jenseits von Vorstellung ist nicht denkbar. Wenn Schopenhauer den Willen näher beschreibt, dann immer als etwas wesentlich einfaches, so etwa als Materie - die ja wie seit Einstein bekannt der Energie äquivalent ist ohne Form. 33 Dadurch wird auch verständlich, daß der Wille in der Natur stets erscheint als rastloses Drängen und ungestümes Treiben. Folgerichtig beruht der erkennende Teil des Bewußtseins einzig und allein auf dem Intellekt, wobei als zentrale hier relevante Aussage der Unterscheidung festgehalten werden kann, daß der Wille, der als unmittelbares Objekt des Selbstbewußtseins den begehrenden Teil ausmacht, an sich erkenntnislos, der ihm zugesellte anschauende Verstand aber willenlos ist 34, weshalb dieser sich wie zu zeigen sein wird unter bestimmten Bedingungen zur genialen Intuition erheben kann. Dies ist dann der Fall, wenn er aufhört ein schlichtes Medium der Motive des Willens und damit dessen Diener zu sein, was nur möglich ist, wenn er sein nach außen gerichtetes Bewußtsein anderer Dinge über das Einzelobjekt hinaus erhebt. In diesem Sinne – wie noch näher erläutert werden wird - kann die im 2. Buch ausgeführte völlige Verschiedenheit von Wille und Intellekt 35 als Bedingung der Möglichkeit zur Erlösung gelten, da sich nur über sie das erkennende vom begehrenden Bewußtsein ganz ablösen kann. Schließlich liefert Schopenhauer mit der nun feststehenden Willensmetaphysik eine einzigartige Erklärung der Leidensexistenz alles Lebens und damit die Begründung für seine Lehre von der Verneinung des Willens. Die wesentliche Ursache allen Leidens ist nämlich nichts anderes als die Selbstentzweiung des Willens, sofern er sich innerhalb des Principium Individuationis als Form seiner Objektivation und Bedingung der Vielheit von Gleichartigem in unzähligen Erscheinungen Objektität verschafft. Er unterwirft damit seine Objektivationen einer alles beherrschenden Bedürftigkeit, einem Leben voller Sorgen und deshalb notwendiger gewaltiger egoistischer Mühe zu deren flüchtiger Behebung mit dem alleinigen 32
vgl. W I, S. 339 sowie W I S. 464 vgl. W II, S. 350 34 vgl. W II, S. 233 35 vgl. hierzu im Detail insbesondere W II Kapitel 19 33
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Zweck der temporären Erhaltung dieses dem Tod geweihten Daseins. Das Ergebnis eines solchen Treibens der Welt ist in den Worten Schopenhauers „flüchtiger, durch Mangel bedingter Genuß, vieles und langes Leiden, beständiger Kampf, bellum omnium, Jedes ein Jäger und Jedes gejagt, Gedränge, Mangel, Noth und Angst, Geschrei und Geheul [...] und das geht so fort, in secula seculorum, oder bis ein Mal wieder die Rinde des Planeten bricht.“ 36 Dieses alles gipfelt im Menschen in einer dem Tier nicht möglichen Lieblosigkeit und Ungerechtigkeit bis hin zu Bosheit und Grausamkeit, in Kriegen und Folter als Höhepunkten unsinnigen Wahns und Schmerzes. Vor diesem Hintergrund nun wird die Rede von der Welt als Selbsterkenntnis des Willens im Sinne der umfassenden Bedingung der Möglichkeit zur Erlösung verständlich, denn durch die so dastehende Welt der Vorstellung erhält der Wille die Erkenntnis seines Wollens, dessen was er will, nämlich das Leben und schließlich der Konsequenzen von diesem allem, nämlich der bestenfalls so zu nennenden „Spottexistenz“ 37 seiner Erscheinungen. Hieraus allein ist es dann erklärlich, daß sich der Wille kraft seiner als Ding an sich nun feststehenden Freiheit und Allmächtigkeit eventuell selbst verneint, denn allein beim höchsten Licht des Intellekts „sieht der Wille, daß er auf einem Irrwege sich befindet, an einem Abgrunde steht, und er wendet sich, er kehrt um...“ 38 Wie der hierfür erforderliche Erkenntnisvorgang genau aussieht, wird nun untersucht werden. 4. Die Welt als Vorstellung zweite Betrachtung
Nachdem nun anhand der bisherigen Überlegungen die relevanten Grundpfeiler der Welt als Wille und Vorstellung, wie sie sich zusammenfassend im Titel des Hauptwerks ausdrücken, beschrieben sind, geht es im dritten Buch, der Ästhetik, um eine weitere für die Erlösung überaus bedeutsame Voraussetzung, nämlich das Verlassen des im ersten Buch geschilderten Erkennens nur des „Wie“ der Welt, um dem Willen durch die Aufdeckung des ungetrübten „Was“ ein klarer Spiegel seiner selbst sein zu können. Dies geschieht durch eine Veränderung der Erkenntnis, als deren Ergebnis auf der Objektseite anstatt einzelner Gegenstände die dahinterliegenden Ideen erscheinen und als deren Korrelat an die Stelle des individuellen nun das reine Subjekt der Erkenntnis tritt. Die Bedingungen, damit dies geschehen kann, liegen nach den Worten Schopenhauers im Subjekt wie im Objekt 39, treten jene Bedingungen durch die entsprechenden Umstände ein, geschieht der Übergang in diese neue Form der Erkenntnis 36
W II, S. 405 W II, S. 408 38 Gespr, S. 93 39 vgl. Vorl III, S. 54 37
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plötzlich 40 , womit ausgedrückt ist, daß dieses Ereignis gerade nicht durch Willkür zu erzwingen ist, sondern der Intellekt, durch innere Stimmung und äußeren Anlaß begünstigt sich vom Dienst des Willens befreit und „auf eine kurze Weile, ganz allein, aus freien Stücken thätig ist.“ 41 Nun soll analog der Vorgehensweise der ersten Betrachtung der Welt als Vorstellung die Objekt- und Subjektseite genauer untersucht werden, nun aber nicht mehr um eventuelle Unterschiede, sondern um die Gemeinsamkeiten herauszustellen. Zu diesem Zweck werden die bisherigen Ergebnisse als nützliche Erläuterungen herangezogen werden können. Auf der Objektseite geschieht wie bereits kurz skizziert eine Transformation des einzelnen Dinges zur platonischen Idee seiner Gattung. Der Gegenstand legt hierbei alle durch die Relationszusammenhänge in Raum, Zeit und Kausalität bedingten zufälligen Ausprägungen seiner Formen und Eigenschaften ab und erhebt sich dadurch zu seiner beharrenden und unwandelbaren Gestalt, die das durch alle Relationen hindurch sich zeigende rein Objektive seiner Erscheinung ausmacht, nämlich ausschließlich wie sie „aus sich selbst sich ausspricht, wodurch [sie] eben [ihre] sämmtlichen Relationen bestimmt, welche allein bis dahin erkannt wurden. Die Idee ist der Wurzelpunkt aller dieser Relationen und dadurch [...] die adäquate Objektität des Willens auf dieser Stufe seiner Erscheinung.“ 42 Mit dieser Definition der Idee dürfte auch einleuchtend sein, welche Bedingungen im Objekt Schopenhauer meint, die erfüllt sein müssen, damit die Durchdringung der Relationen erleichtert und der wesentliche Charakter des Objekts im Sinne der Idee offenbar wird. Die Gegenstände dürfen nämlich keine Relation zum Willen des Beobachters haben, d.h. sie müssen in Bezug auf sein Wohl und Wehe ohne Bedeutung sein, nur so ist es dann zu erklären, das etwa ein schönes Naturerlebnis 43, aber auch eine fremde Stadt die zum ersten Mal besucht wird durch die Anteilslosigkeit des betrachteten Objekts am Wunsch oder der Abneigung des Individuums eine solche Veränderung im Subjekt hin zu einer Erfahrung der Klarsicht verbunden mit einem Gefühl der Freiheit hervorrufen kann. Gleiches gilt für das Kunstwerk, das geradezu das ideale Mittel zur Erleichterung der Erkenntnis der Ideen ist, denn dieses hat nicht nur keine Beziehung zu dem Willen des Beobachters - wie gesagt stets in dem Sinn, daß es für sein Wohl und Wehe belanglos ist - sondern das in ihm ausgedrückte
vgl. WI, S. 231 W II, S. 433 42 W II, S. 414 f 43 Als paradigmatisch kann hier sicherlich die „Schneekoppe“ Besteigung des jungen Schopenhauer von 1804 gelten, zu der es im Reisetagebuch (RT S. 196) heißt: „Welche unzählige Menge von Städten u. Dörfern, von niedrigen Bergen, von Landseen u. glänzenden Flüssen [...] Alle kleinen Gegenstände verschwinden, nur das große behält seine Gestalt bey [...] Die Welt, so von oben zu überschauen, ist ein so eigenthümlicher Anblick, dass ich dencke, daß es für den der von Sorgen gedrückt ist, etwas sehr tröstliches haben muß.“ 40 41
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wenn es sich um ein echtes Kunstwerk handelt ist bereits der überzeitliche Hauptwesenszug der dargestellten Erscheinung, da der Künstler selbst sein Werk nach Schopenhauers ästhetischer Theorie aufgrund genialer Ideenschau geschaffen hat, weshalb solche Werke auch zu Recht als zeitlos bezeichnet werden. Eine künstlerische Darstellung des Menschen etwa drückt unter den genannten Voraussetzungen im Einzelnen der geschilderten Begebenheit das unabhängig von den Gestaltungen des Satzes vom Grund (Principium Individuationis und Kausalität) bestehende und folglich beharrende Allgemeine der Gattung aus, nämlich die verschiedenen Seiten der Idee des Menschen als vollkommenste Objektität des Willens zum Leben, zum Beispiel „Eigennutz, Haß, Liebe, Furcht, Kühnheit, Leichtsinn, Stumpfheit, Schlauheit, Witz und Genie u.s.w., welche alle, zu tausendfältigen Gestalten (Individuen) zusammenlaufend und gerinnend, fortwährend die große und die kleine Weltgeschichte aufführen.“ 44 Wichtig zum Verständnis der Idee ist auch, daß diese wie am Beispiel ersichtlich als Resultat der Summe aller Relationen 45 keinesfalls per se den Willen als Ding an sich offenbart, sondern nur den völlig objektiven Charakter ihrer einzelnen Erscheinungen darstellt, wodurch ihr so verstanden im Kontrast zu den Objekten des ersten Buches ein absolutes anstatt nur relatives Dasein zukommt. Dennoch bleibt natürlich der Wille ihr alleiniger Inhalt, da er sich auch hier – nun sogar unmittelbar bzw. adäquat ausdrückt und als solcher dadurch verstanden wird, daß er entsprechend den Ausführungen des zweiten Buchs andersweitig, nämlich auf subjektivem Weg, bekannt geworden ist. Der Unterschied zwischen Idee und Einzelerscheinung bei gleichem Kern wird um so klarer, wenn noch einmal explizit betont wird, daß jene nur der ersten und allgemeinsten Form aller Erscheinung bzw. Vorstellung, dem Objektsein für ein Subjekt unterliegt 46, weshalb sie an sich ist und damit in Platons Sinne ontwV on (wahrhaft seiend), während diese immer und in jedem Betracht als Relation selbst nur ein relatives Dasein hat und sich damit letzten Endes in der Zeit stets als bestandslos und nichtig erweist. 47 Die Veränderung auf der Subjektseite nun ist derjenigen des Objekts ganz analog, auch hier geschieht ein Austritt aus den Formen des Satzes vom Grund, wobei das erkennende Subjekt in der intuitiven Ideenschau über deren gesamte Dauer hinweg dadurch gekennzeichnet ist, daß es aufhört, ein Individuum zu sein 48 , weshalb es nun von Schopenhauer als „reines, willenloses, schmerzloses, zeitloses Subjekt der Erkenntniß.“ 49 44
W I, S. 215 vgl. W II, S. 414 46 vgl. W I, S. 206 47 vgl. W I, S. 209 48 vgl. Vorl III, S. 54 49 W I, S. 210 45
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bezeichnet wird. Bevor nun aber diese Art der Kontemplation näher betrachtet wird, sollen zunächst die Bedingungen im Subjekt eingehender erläutert werden, die deren Zustandekommen ermöglichen. Dazu ist sowohl der Hinweis von großer Relevanz, daß die platonische Idee „durch den Verein von Phantasie und Vernunft möglich wird“ 50 als auch der nicht zu übersehende Verweis Schopenhauers auf die Besonnenheit, die das Hauptmerkmal des Genies ausmacht. Besonnenheit ist das Vermögen eines mit ungewöhnlich hoher Intelligenz ausgestatteten Intellekts, über den normalen Dienst als Werkzeug des Willens hinaus tätig werden zu können. Hierzu gehört in einem geringeren Ausmaß, dem des sogenannten Talents, bereits die Auffassung von Relationen der Objekte zueinander, ohne deren expliziten Bezug zum individuellen Willen zu berücksichtigen, wie dies in größerer Art und Weise in der Wissenschaft geschieht und die gewissermassen eine Vorform des bereits beschriebenen rein objektiven genial-künstlerischen Erkennens darstellt, in der der Wurzelpunkt aller Relationen ungetrübt ins Visier genommen wird und das die Domäne des Genies darstellt. Die Basis der Besonnenheit ist die Vernunft, das wird vor allem dann klar, wenn Schopenhauer jene dem Tier ausdrücklich abspricht. 51 Es kann daher gesagt werden, daß die Vernunft, zur Besonnenheit gesteigert, eine objektive innere Stimmung gewährleistet, die den Rahmen zur Entfaltung genialer Leistungen dadurch bildet, daß sie das temporäre Übergewicht des Intellekts über den Willen und somit die Befreiung aus dessen Diensthaftigkeit ermöglicht, wodurch es gelingen kann, die Welt in aller Deutlichkeit aufzufassen und das Ganze des Lebens zu übersehen, mit einem Wort also zur Besinnung darüber zu kommen. 52 In direkter Beziehung zu dem bisher geschilderten steht schließlich das Vermögen der Phantasie, also die Fähigkeit des vernunftbegabten Intellekts, sich Objekte unabhängig von der sinnlichen Anschauung des Augenblicks vorzustellen, ihre zufälligen von den wesentlichen Eigenschaften zu trennen sowie „alle bedeutungsvollen Bilder des Lebens zu vervollständigen, zu ordnen, auszumalen, festzuhalten und beliebig zu wiederholen, je nachdem es die Zwecke einer tief eindringenden Erkenntniß [...] erfordern“ 53, wodurch die Intensität der intuitiven Intelligenz ungemein erhöht wird. 54 Der Verein von Phantasie und Vernunft, den Schopenhauer meint, kann nun auf dieser Basis am deutlichsten benannt werden in der Erkenntnis der Idee dadurch, daß die Phantasie, wenn sie die von ihr konstruierten, nur teilweise in direkter Anschauung gewonnenen Lebensbilder an sich vorüberziehen läßt, den Willen dadurch adäquat erkennt, daß sie nicht „sieht, was die Natur 50
W I, S. 48 vgl. W II, S. 436 52 vgl. W I, S.478 53 W II, S. 431 54 vgl. W II, S. 499 51
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wirklich gebildet hat, sondern was sie zu bilden sich bemühte“ 55 und die Vernunft ganz analog dem das Siegel ihrer Allgemeinheit aufgedrückt hat, indem sie ausspricht: „´So sind sie alle´, d.h. das worin dieser Repräsentant seinem Begriff nicht adäquat ist, ist nicht wesentlich.“ 56 In diesem Sinn bezeichnet Schopenhauer die Ideen in der Sprache der Scholastiker als universalia ante rem, die Begriffe als universalia post rem, verweist also konsequent auf deren wichtige formale Beziehung bei gleichzeitiger Betonung der völligen inhaltlich-stofflichen Heterogenität von Anschauung und Abstraktion, zumal jene bei der Ideenerkenntnis nicht dem Satz vom Grund unterliegt, dem diese bei ihrer Kategorisierung immer unterworfen ist. Sind die genannten Bedingungen im Subjekt gegeben, dann geschieht eine Veränderung im Bewußtsein dergestalt, daß das Selbstbewußtsein und mit ihm der Leib bzw. die Person vollkommen vergessen werden, also die Individualität gekennzeichnet durch Erkenntnis nach dem Satz vom Grund vermittelt durch den Leib aufgehoben ist. Das erkennende Subjekt löst also seine im Individuum bestehende Identität mit dem Subjekt des Wollens völlig auf und zurück bleibt im Bewußtsein als dessen alleiniger Inhalt die alles subjektiven entledigte rein objektive Anschauung der Idee, die allein über dieses Medium in die Welt als Vorstellung eintritt, weshalb sich der Anschauende nun in seiner Rolle des rein erkennenden Subjekts als Träger allen objektiven Daseins der Welt als Vorstellung voll bewußt wird, jenseits dessen nur noch blinder Wille existiert. 57 Da alles Leiden aus dem Selbst hervorgeht, ist solange der geschilderte Zustand als buchstäblicher Akt der Selbstverleugnung anhält auch alle Möglichkeit des Leidens beseitigt. Der Erkennende wird ganz „das ewige Weltauge, welches, wenn auch mit sehr verschiedenen Graden der Klarheit, aus allen lebenden Wesen sieht, unberührt vom Entstehen und Vergehen derselben, und so, als identisch mit sich, als stets Eines und das Selbe, der Träger der Welt der beharrenden Ideen, d.i. der adäquaten Objektität des Willens, ist; [...] [Jeder ist] als solches [...] alle Dinge, sofern er sie anschaut, und in ihm ist ihr Daseyn ohne Last und Beschwerde. Es ist nämlich sein Daseyn, sofern es in seiner Vorstellung existiert: aber da ist es ohne Wille. Sofern es hingegen Wille ist, ist es nicht in ihm. Wohl ist Jedem in dem Zustande, wo er alle Dinge ist, wehe da, wo er ausschließlich Eines ist.“ 58 Mit diesen eindringlichen Worten Schopenhauers wird klar, warum die Idee so wichtig für seine Erlösungslehre ist, denn in ihr ist die Erkenntnis vom Willen völlig abgetrennt, da Subjekt und aller Relation entledigtes Objekt in 55
W I, S. 220 HN I, S. 130f, Nr. 226 57 vgl. W II, S. 213 58 W II, S. 422 f. 56
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ihr vereint sind, sich also in völligem Gleichgewicht halten und der Wille daher die Erkenntnis nicht mehr in seinen Dienst nehmen kann. Aber zugleich ist der Wille der alleinige Inhalt der Idee, ja die Idee ist wie Schopenhauer sagt „selbst das ganze Ding an sich, nur unter der Form der Vorstellung.“ 59 Hier liegt nun also der Schlüssel zur Erklärung des einen Gedankens, der Welt als die Selbsterkenntnis des Willens. Anhand der Idee insbesondere des Menschen als seiner vollkommensten Objektivation wird die Welt als Vorstellung dem Willen ein klarer Spiegel seiner selbst, er erkennt sich nun in ihr und durch sie, der er ja selbst die Idee ist, als qualitativ Ganzer und legt damit seine Blindheit ab. Diese Erkenntnis des reinen „Was“, also des Wesens der Welt, das wie am Ende der Betrachtung des zweiten Buches bereits geschildert die Tragikomödie des Lebens aufführt in der Form nicht zuletzt der im Laufe der Beschreibung des dritten Buches ebenfalls schon vorgestellten Idee des Menschen, kann nun zum einen als Quietiv des Willens wirken, aber schließlich vor allem so auf ihn als Ding an sich zurückwirken - wenn der Wille die Erkenntnis auf sich selbst bezieht - dass er sich frei verneint. Dies meint Schopenhauer auch, wenn er sagt: „Weil nun, wie wir gesehen haben, jene Selbstaufhebung des Willens von der Erkenntniß ausgeht, alle Erkenntniß und Einsicht aber als solche von der Willkür unabhängig ist; so ist auch jene Verneinung des Wollens, jener Eintritt in die Freiheit, nicht durch Vorsatz zu erzwingen, sondern geht aus dem innersten Verhältniß des Erkennens zum Wollen im Menschen hervor, kommt daher plötzlich und wie von Außen angeflogen.“ 60 Wie dieser Prozeß mit Hilfe der hierfür relevanten und nun deutlich vor Augen liegenden Bausteine der schopenhauerschen Philosophie exakt und konsistent beschrieben werden kann, wird der Gegenstand des letzen Abschnitts dieser Untersuchung sein. 5. Die Welt als Wille zweite Betrachtung
Das vierte Buch, die Ethik, bildet den Höhepunkt der Philosophie Schopenhauers, denn hier wird die Schilderung des Weges vollendet, der von der Unfreiheit des Subjekts des Wollens zur Freiheit des Subjekts des Erkennens führt und nichts anderes ist als der Übergang vom Reich der Natur (also der Notwendigkeit) zum Reich der Gnade (also der Freiheit). Um diesen Prozeß möglichst exakt beschreiben zu können, ist es erforderlich, sich die Aspekte der Notwendigkeit und der Freiheit noch einmal zu vergegenwärtigen. Wie bereits ausgeführt, besteht im Individuum eine Identität des Subjekts des Erkennens mit dem Subjekt des Wollens. Die Akte des letzteren als Erscheinungen in der Zeit 59 60
W I, S. 206 W I, S. 478
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bilden in ihrer Summe über die gesamte Lebensdauer hinweg den empirischen Charakter des Individuums, der die zeitliche Entfaltung des eine metaphysische Einheit bildenden blinden und unvernünftigen intelligiblen Charakters als Ding an sich ist, wobei dieser um die Sache greifbar zu machen als außerzeitlicher Willensakt gedacht werden kann.
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Aus dem
metaphysischen Ursprung des Charakters folgt, daß er als außerhalb der Zeit liegend unveränderlich ist und folglich innerhalb des Satzes vom Grund auch keine Willensfreiheit bestehen kann, denn das Individuum kann nicht wollen was es will, sondern muß als Erscheinung seines feststehenden intelligiblen Charakters 62 „in gleicher Lage stets auf gleiche Weise handeln.“ 63 Da der Wille darüber hinaus wie gesagt blind ist, geschieht dies alles unter dem beständigen Fehlen irgendeines letzten Zwecks, denn sein Charakter ist unablässiges Streben, das sich im Individuum als Mangel bzw. Schmerz ausdrückt und dessen Befriedigung das Leiden nur auf kurze Zeit abhalten kann, um wenig später in den nächsten Wunsch als Index von erneuter Unzufriedenheit mit dem erreichten Zustand überzugehen. In diesem unablässigen Streben des Willens sieht Schopenhauer auch die Bedingung des Satzes vom Grund und damit aller Notwendigkeit, weshalb er klarstellt, daß „endloser Raum und endlose Zeit die allgemeinsten und wesentlichsten Formen seiner gesammten Erscheinung seyn mußten, als welche sein ganzes Wesen auszudrücken da ist.“ [aus Raum und Zeit ergibt sich Notwendigkeit - die empirische Welt als Ausdruck des unbändigen Strebens ist das Charakteristikum des Willens] 64 Die Erkenntnis nun, solange sie lediglich dem Willen im Sinne des intelligiblen Charakters dient, von Schopenhauer mit natürlicher Erkenntnis 65 bezeichnet, unterliegt konsequenterweise Zeit und Raum oder dem Schleier der Maja, einem anderen Ausdruck für das Principium Individuationis als Form der Objektivation des Willens. 66 Das Individuum ist hierbei „sich selber als der ganze Wille und das ganze Vorstellende unmittelbar gegeben [...], die übrigen [...] nur als seine Vorstellungen; daher geht ihm sein eigenes Wesen und dessen Erhaltung allen anderen zusammen vor.“ 67 Die so bezeichnete allerorten anzutreffende egoistische Gesinnung als Form des Willens zum Leben, die oftmals bis zur Verneinung des Willens in anderen Individuen geht, wird schließlich entsprechend der Stärke der Willensbejahung, vereint mit dem Grad der Befangenheit der Erkenntnis im Schleier der Maja nur noch übertroffen von Bosheit und Grausamkeit als völlig 61
vgl. W I, S. 436 Schopenhauer sieht den Charakter des Menschen, aus dem die Motive seine Handlungen mit Notwendigkeit hervorrufen völlig analog zu den Kräften und Qualitäten aller übrigen Dinge in der Natur, die jeweils auf bestimmte Einwirkungen charakteristisch reagieren. 63 W I, S. 344 64 W I, S. 177 65 vgl. W I, S. 391 66 vgl. W I, S. 438 67 W I, S. 392 62
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sinnloser Freude am Schmerz von Anderen, womit wie bereits am Ende der Betrachtung des zweiten Buches geschildert das Leiden im Menschen als der höchsten Stufe der Objektivation des Willens seinen Höhepunkt erreicht. Aber genau dieser Höhepunkt ist es auch, der zugleich den Umkehrpunkt markieren kann, nämlich dann, wenn dieses Leiden aus intuitiver Erkenntnis heraus als dem Leben wesentlich erkannt wird und dadurch das Tor zur Freiheit sich öffnet, ein Vorgang der in der Verneinung des Willens gipfeln kann und dem nun die Aufmerksamkeit gewidmet werden soll. Der Schlüssel zur Freiheit liegt in nichts anderem als der Schau der platonischen Idee insbesondere des Menschen, die wie bereits geschildert letztlich dadurch ermöglicht wird, das der Erkennende über mehr Intelligenz (Erkenntniskraft) verfügt als er zum Dienst des Willens benötigt, wodurch die so bezeichnete Besonnenheit eine rein objektive Stimmung gewährleisten kann. Hierdurch allein wird - solange der besagte Zustand in einer Stunde der Weihe für den Intellekt 68 anhält - der Schleier der Maja durchbrochen und dadurch die Freiheit als Unabhängigkeit von aller Kausalität erreicht, denn mit dem Verschwinden des Willens durch das komplette Vergessen des Selbstbewußtseins hat der Satz vom Grund seine fundamentale Bedingung eingebüßt und dadurch seine Gültigkeit verloren. Der Erkennende erblickt nun in den verschiedenen Seiten der Idee des Menschen deren Identität mit den Gestalten von Leiden und Schmerz - zum Beispiel in der Form von Haß 69 - und ihm geht auf, daß alles Leiden dem Leben wesentlich und nicht nur per accidens vorhanden ist [die platonische Idee Hass ist ewig]. In diesem Akt wahrer Klarsicht als höchster Form der Erkenntnis fällt es dem Betreffenden wie Schuppen von den Augen, daß wesentlich kein Unterschied besteht zwischen ihm und allen anderen lebenden Wesen, er über den Willen als Ding an sich mit ihnen ohne Ausnahme identisch ist und die Not sie alle durch das Leben treibt als dessen essentieller Bestandteil. Für Schopenhauer liegt allein in einer solchen intuitiven Durchschauung des Principium Individuationis der Weg zur freiwilligen Gerechtigkeit als erstem Schritt in Richtung echten Mitleids (reiner, uneigennütziger Liebe) und damit wahrer Tugend oder Güte der Gesinnung, freiwillig deswegen da sie durch kein den Willen anregendes Motiv im Sinne einer dem Satz vom Grund unterworfenen Erscheinung oder abstrakten Dogmen begründet werden kann sondern allein der Wesenserkenntnis der Welt zu verdanken ist, weshalb eben „keine äußere Macht diesen Willen ändern oder aufheben kann [noch] von den Quaalen befreien, die aus dem Leben hervorgehen, welches die Erscheinung jenes Willens ist.“ 70 Nun ist zwar infolge der Lehre 68
vgl. W II, S. 433 vgl. W I, S. 371 70 W I, S. 384 69
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vom angeborenen intelligiblen Charakter die Anlage zur Tugend bereits von Geburt an vorhanden oder eben auch nicht, weshalb Schopenhauer auch deutlich macht, daß dieser allein statt hohler Phrasen über Heil und Verdammnis entscheidet und die Güte der Gesinnung ebenso wie der Genius niemals gelehrt wird [Schopenhauer war kein Humanist]71, da aber die intuitive Erkenntnis „den Menschen für die Motive des Mitleids empfänglich macht, nach Maaßgabe seines Charakters“ 72, geht die bewußte Tugend allein aus ihr hervor durch vollendete Selbsterkenntnis des eigenen Wesens, von Schopenhauer dann als erworbener Charakter bezeichnet. 73 Ein Mensch mit geringer Anlage zur Tugend kann zwar immer noch ein Heiliger werden, wie weiter unten erklärt wird, aber niemals ein Gerechter und Guter, andererseits kann bei entsprechender grundsätzlicher Anlage selbst bei starkem und energischem Willen die Erkenntnis ihm das Gleichgewicht halten, also den blinden Willensdrang bemeistern, dadurch ihn „der Versuchung zum Unrecht widerstehen lehren und selbst jeden Grad von Güte, ja von Resignation hervorbringen.“74 Diese Resignation bzw. freiwillige Entsagung als Zielpunkt von Schopenhauers Philosophie basiert auf dem höchsten Grad der Durchschauung des Principium Individuationis, einer völligen Klarheit der Erkenntnis, deren Eintritt zwar unter bestimmten Bedingungen wie im dritten Buch erläutert oder auch durch übermäßiges Leiden gefördert werden kann, die aber durch keine Willensanstrengung zu erzeugen ist, weshalb diese Form der Erkenntnis von der Theologie auch als Gnade [transzendent] bezeichnet wurde. Da der Schleier der Maja völlig wegfällt, wenn diese Freiheit erreicht wird, ist mit einem Mal (d.h. intuitiv) sein Gewebe als flüchtige Illusion der Trennung von Gleichartigem durchschaut, die allein ermöglicht wird durch Zeit und Raum als Formen der natürlichen Erkenntnis. Der rein Erkennende kann nun keinen Unterschied mehr sehen zwischen sich und allen anderen lebenden Wesen, vielmehr erkennt er sein eigenes Wesen stets aufs neue, vervielfältigt zwar durch Zeit und Raum, an sich aber eines und dasselbe, von Schopenhauer daher in der alten indische Formel „Tat twam asi !“ („Dieses bist Du !“) zusammenfaßt. 75 Er muß deren Leiden nun konsequenterweise als seine eigenen ansehen, da er von sich zwar noch insofern weiß als er vom Objekt weiß, sein eigenes Selbst [besser: Ich] aber vergessen und stattdessen auf alle Wesen ausdehnt hat. In dieser höchsten Selbsterkenntnis des Willens anhand seines klaren
71
vgl. W I, S. 320 GBr, S. 214 73 vgl. W I, S. 357 ff. zur genaueren Erläuterung der Unterscheidung des intelligiblen, empirischen und erworbenen Charakters 74 W I, S. 439 75 vgl. W I, S. 442 72
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[reinen] Spiegels 76, hat alle Leibgebundenheit ihre Bedeutung verloren[wie bei Simone Weil]. Somit ist auch dasjenige, was den Erkennenden von den Leiden aller anderen getrennt hat aufgehoben und ihm liegt „alles gleich nahe. Er erkennt das Ganze, faßt das Wesen desselben auf, und findet es in einem steten Vergehen, nichtigem Streben, innerm Widerstreit und beständigem Leiden begriffen, sieht, wohin er auch blickt, die leidende Menschheit und die leidende Thierheit, und eine hinschwindende Welt.“ 77 Es leuchtet ein, daß diese Erkenntnis des Ganzen - die ihm so nahe geht - nun Abscheu vor seinem eigenen Selbst [Ich] sowie vor der Welt und ihren Genüssen hervorruft und letztlich zum Quietiv seines Wollens wird, Schopenhauers philosophischem Ausdruck für den theologischen Begriff Gnadenwirkung. [ein Heiliger lebt nicht mehr in dieser Welt] 78 Damit ist ein Zustand gemeint, in dem die Erkenntnis des Ganzen des Lebens die Wirkung der Erkenntnis der einzelnen Objekte aufhebt, da diese sonst Motive wären. Der Wille, der nun mitsamt seinem Leidenscharakter als das sich in der Welt überall Ausdrückende erkannt ist, steht schließlich dank der so erreichten Selbsterkenntnis vor dem Abschluß der einzigen Begebenheit an sich, nämlich einer allgemeinen Willensäußerung 79 als Freiheitsakt des Dings an sich, die in der Lage ist den gesamten intelligiblen Charakter des Betroffenen aufzuheben. Diese betrifft dessen gesamten Wandel und führt zu seiner Wiedergeburt im theologischen Sinn, von Schopenhauer Verneinung des Willens genannt. Sie besteht wie gesagt in der kompletten Aufhebung des intelligiblen Charakters und damit der gänzlichen Selbstüberwindung als Charakteristikum jedes Heiligen. 80 Diese Wiedergeburt durch Gnadenwirkung, philosophisch gesprochen also der Freiheitsakt der Selbstverneinung des Willens als Ding an sich, der sich ausgehend von einer vorbereitenden intuitiven Erkenntnis (Gnade) entwickeln kann, die zu einem Quietiv (Gnadenwirkung) wird und schließlich die besagte freiwillige Entsagung (Wiedergeburt) ermöglicht, aber nicht zwingend herbeizuführen in der Lage ist, vergleicht Schopenhauer dem Wunder zu Kana [Wasser in Wein verwandelt als erstes Zeichen von Jesus]: „Könnte z. B. die chemische Qualität eines gegebenen Körpers, von innen aus, sich gänzlich ändern, also etwan Blei sich in Gold verwandeln; so würden, von dem Augenblick an, die Wirkungen desselben ganz andere seyn, ohne daß hiebei das Gesetz der Kausalität eine Ausnahme erlitten hätte: 76
Als ein Beispiel nennt Schopenhauer die Idee des Menschen, die in der christlichen Glaubenslehre durch Adam und dessen Erbsünde dargestellt ist, dieser also nichts anderes als die Bejahung des Willens zum Leben symbolisiert. Die Gnadenwirkung, jede Wirkung Gottes in dem Menschen, welche zur Wiederherstellung der rechtmäßigen Beschaffenheit desselben gehöret, eine jede Veränderung, welche durch geoffenbarte Wahrheiten in dem Gemüthe vorgehet. 77 W I, S. 447 f. 78 vgl. W I, S. 477 79 vgl. W I, S. 216 80 vgl. W I, S. 478
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sondern das Wirkende, die Grundlage aller Wirkungen, hätte sich geändert [...] Eine solche innere Umwandlung ist bei keinem Wesen, als nur beim Menschen, möglich; weil in ihm allein der Wille zum vollen Selbstbewußtseyn gelangt und hierauf wieder kraft seiner ursprünglichen Freiheit sich entscheidet [...].“ 81 Ist nun dieser Zustand eingetreten, d.h. der intelligible Charakter aufgehoben, ist aus dem bisherigen Velle ein metaphysisches Nolle geworden.82 Damit ist der Kausalität entgültig ihre Bedingung entzogen, weshalb die Motive nicht mehr wirken können, wiederum „ganz Dem analog, daß, auf einer niedrigen Stufe, ein Körper seine chemischen Eigenschaften plötzlich verloren hätte, daher die Reagenzien jetzt ohne Wirkung blieben; dieser Verlust jedoch nicht Folge äußerer Einwirkung wäre, sondern sich von innen aus, von der geheimen Quelle der Qualitäten aus, eingestellt hätte.“ 83 Diese Aufhebung des Charakters, wodurch der Betroffene als Heiliger völlige Freiheit erreicht, denn „nur die Erkenntniß ist geblieben, der Wille ist verschwunden“ 84, ist schließlich auf zweierlei Wegen möglich und kann daher jeden betreffen, also auch ein ehemals mehr oder weniger tugendloser Mensch kann durch intensives Leiden geläutert werden. Sie kann nämlich eintreten, wenn „der Mensch, mit einem Male, das Leiden der ganzen Welt als sein eigenes oder aber, beim deuteroV plouV [d. h. zweiter Weg], sein eigenes als das der ganzen Welt, auffaßt.“85 Das [diktatorische] Reich der Natur [deshalb Mathematik als deren Grammatik], die zu Beginn dieser Untersuchung geschilderte Welt der Objekte, wird dem Heiligen zu Nichts, denn er hat den Willen hinter sich gelassen und damit alles andere, worin dieser Wille sich ausdrückt - Raum, Zeit und Kausalität - also mit einem Wort die Welt wie sie als Wille und Vorstellung allein erkannt werden kann. Über dessen weiteres Sein muss daher geschwiegen werden. 6. Die Konsistenz des Systems
Zusammenfassend kann als Ergebnis dieser Untersuchung gesagt werden, daß das System Schopenhauers durchaus in sich konsistent ist, denn wer Schopenhauer konsequent anhand des Leitgedankens gründlich studiert, wird feststellen, wie sich die Teile in der Tat zu einem organischen Ganzen fügen. Selbstverständlich können bestimmte empirische Phänomene wie 81
GBr, S. 215 Diese Möglichkeit ergab sich schon aufgrund der Ergebnisse des zweiten Buches. Schopenhauer schreibt dazu in GBr, S. 293: “[Das] Velle stellt sich dar in dieser anschaulichen Welt, die eben deshalb die Erscheinung ihres Dinges an sich ist. – Vom Nolle hingegen erkennen wir bloß die Erscheinung seines Eintritts [...] Von diesem selbst aber können wir nichts weiter sagen, als daß seine Erscheinung nicht die des Velle seyn kann (die Welt ist aufgehoben) [...]“ 83 GBr S. 217 84 W I S. 486 85 GBr S. 214 82
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die Heiligkeit auch anders gedeutet werden als Schopenhauer dies getan hat, also die Frage gestellt werden ob es überhaupt eine Charakteraufhebung und damit ein Nolle gibt, eine kühne Interpretation, zumal die Abgrenzung von eingetretener Erkenntnis und Nolle relativ schwierig ist. Dies war allerdings hier nicht das Thema, denn es ging wie gesagt um die Stimmigkeit des Systems, welche nachzuzeichnen geleistet wurde. Hinzuweisen bleibt noch auf einige Fragen, die aufgrund ihres transzendenten Charakters von Schopenhauer selbst nicht befriedigend beantwortet werden können. Er weiß zum einen grundsätzlich nicht, wie tief die Wurzeln der Individualität reichen, d.h. wie die Individualität, die dem intelligiblen Charakter als Ding an sich anhaftet genau erklärt werden kann, denn er spricht zwar wie beschrieben vom intelligiblen Charakter als einem außerzeitlichen Willensakt, betont aber zugleich, daß diese Aussage keine objektive Wahrheit ist, sondern nur dazu dient, sich die Sache faßlich zu machen. 86 Ein hiermit zusammenhängendes Problem ist seine wiederholte Aussage, dass der Wille ganz und ungeteilt in jedem Wesen sei 87 , andererseits aber der intelligible Charakter doch individuell ist, weshalb Schopenhauer in seinem letzten Brief von 1860 wegen einer entsprechenden Frage antwortet: „nimmermehr kann der ganze und untheilbare Wille ganz in jedem von zahllosen Individuen seyn“ 88, sonst müsste der Schluß erlaubt sein, daß mit der Aufhebung des Willens (intelligibler Charakters) in einem Individuum die ganze Welt aufgehoben ist. Da letzteres offenbar nicht der Fall ist, sondern das Nolle ganz unabhängig vom Velle aller übrigen Individuen existiert, behilft sich Schopenhauer mit dem Hinweis, daß der Begriff der Einheit - da metaphysisch - nicht so verstanden werden darf als ob es mehrere Teile gibt, die eine Einheit bilden, denn wer von Teilen spricht denkt in den Kategorien des Principium Individuationis, denen der Wille nicht unterworfen ist. Wenn Schopenhauer also sagt, der Wille ist ganz und ungeteilt in jedem Wesen, dann meint er damit stets eine metaphysisch gedachte Einheit, weshalb er auch klarstellt: „Die Individualität inhärirt zwar zunächst dem Intellekt, der, die Erscheinung abspiegelnd, der Erscheinung angehört, welche das principium individuationis zur Form hat. Aber sie inhärirt auch dem Willen, sofern der Charakter individuell ist: dieser selbst jedoch wird in der Verneinung des Willens aufgehoben. Die Individualität inhärirt also dem Willen nur in seiner Bejahung, nicht aber in seiner Verneinung. Schon die Heiligkeit, welche jeder rein moralischen Handlung anhängt, beruht darauf, daß eine solche, im letzten Grunde, aus der unmittelbaren Erkenntniß der numerischen Identität des innern Wesens alles Lebenden entspringt. Diese Identität ist aber eigentlich nur im Zustande der Verneinung des Willens 86
vgl. GBr, S. 217 vgl. z.B. W I, S. 153 88 Gbr, S. 483 87
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(Nirwana) vorhanden, da seine Bejahung (Sansara) die Erscheinung desselben in der Vielheit zur Form hat.“ 89 Schließlich soll noch kurz auf den nicht ganz eindeutigen Status des Subjekts in Schopenhauers System hingewiesen werden. Dies wird deutlich, wenn Schopenhauer von dessen Herkunft einmal bemerkt, daß es „in gewissem Betracht [der Wille] selbst oder seine Aeußerung ist.“ 90 Nun kennt zwar das transzendente Ding an sich weder Subjekt noch Objekt, weshalb ja auch der Wille ursprünglich zwar frei aber auch blind ist. Dennoch gehört das Subjekt wie in der Betrachtung des dritten Buches beschrieben dann zum ganzen Ding an sich91, wenn sich der Wille als qualitativ Ganzer in der Idee objektiviert. Dass der Wille wenn es um die Spezies oder Gattung als empirische Korrelate der Idee geht konsequenterweise auch alles andere als blind ist sondern ein srcinäres Interesse an deren Fortbestand hat, betont Schopenhauer immer wieder.92 Es würde nun aber den Rahmen dieser Untersuchung sprengen, hier weiter nachzuhaken, weshalb es bei dieser kurzen Andeutung von einigen Fragen bleiben sollte, deren weitere Erforschung gewiß eine interessante Herausforderung darstellt.
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W II, S. 698 W I, S. 330 91 vgl. Fußnote 59 92 vgl. z.B. W I, S. 325 90
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